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*

XXXII.

Die Baronin hatte ihre kleine Schar nicht so schnell nach Vevey zurückführen können, als es ihr Wunsch war. Es stellte sich in Clarens heraus, daß den übermüdeten Pferden eine Stunde Ruhe gegönnt werden mußte. Aus der einen Stunde waren anderthalb geworden, und als man gegen fünf Uhr wieder aufbrach, überraschte sie zwischen Les Cretes und Burier der Regensturm mit solcher Gewalt, daß der Kutscher Schritt vor Schritt fahren mußte, bis man in den engen Gassen von Tour de Peilz den hochnötigen Schutz fand. So war der Abend völlig hereingesunken, als man endlich vor dem Hotel hielt.

Herr Delajoux, der selbst an den Wagenschlag kam und mit dem Portier und dem Oberkellner den Damen und den Kindern heraushalf, floß in seinem gebrochenen Deutsch über von Bedauern, daß es die Herrschaften so gar schlimm mit dem Wetter getroffen. Das gutmütige Gesicht des Mannes hatte dabei eine verlegene Miene, und dieselbe Miene, nur noch ein gut Teil ernster, sorgenvoller, zeigte das runzlige Gesicht des Herrn Banse, welcher aus den Zimmern Señor Lermas den Angekommenen auf dem Flur entgegentrat.

Es steht da schlecht? sagte die Baronin.

Sehr, erwiderte Herr Banse; wir müssen das Schlimmste fürchten. Er ist entsetzlich ruhelos bei aller Schwäche und verlangt fortwährend nach Ihnen. Wenn die gnädige Frau hernach –

Gleich, sagte die Baronin; ich muß erst für die Kinder sorgen.

Das kann ich ja, sagte Frau Banse.

Ach was! rief die Baronin; Sie haben sich in dem engen Loche von Wagen das schönste Kopfweh geholt; ich seh's Ihnen an; ich hätte beinahe auch welches. Geben Sie Ihrer lieben Frau eine Tasse starken Kaffee oder Thee, und wenn sie sich wieder rausrappeln sollte, mag sie nach oben kommen. Nimm den Kleinen, Gusting! Er fällt vor Müdigkeit über seine eigenen Beinings; so, Anning, Riching, kommt! Wo ist denn das Fräulein? Nicht, daß ich große Sehnsucht nach ihr hätte; aber es schickte sich doch wohl, daß sie hier wäre.

Herr Banse warf hinter der Baronin breitem Rücken Herrn Delajoux einen Blick zu. Herr Delajoux sagte:

Wenn Madame meinen Arm nehmen will?

Danke, erwiderte die Baronin; ich stütze mich ein bißchen sehr fest, da ist das Geländer gerade gut.

Sie fing an, die Treppe hinauf zu steigen; Herr Delajoux blieb an ihrer Seite und sagte, wie zur Entschuldigung:

Ich wollte mir nur erlauben, Madame mitzuteilen, daß ich für die Kinder ein Zimmer neben Monsieur und Madame habe arrangieren können; die Sachen sind auch bereits heruntergebracht.

Das ist schön, erwiderte die Baronin; da brauche ich nicht die drei Treppen zu steigen; aber wie hat sich denn das mit einem Mal machen lassen?

Herr Delajoux zuckte die Achseln.

In einem Hotel, Madame – man kommt, man geht – überdies, da Mademoiselle abgereist ist –

Die Baronin blieb stehen:

Wer? Fräulein Pilz abgereist?

Justement, Madame. Ich habe mich auch gewundert – wir alle – in Abwesenheit von Monsieur et Madame – indessen – was sollte ich thun, Madame?

Sie haben ganz recht gethan, daß Sie sie laufen ließen, sagte die Baronin, weiter schreitend; wollte Gott, sie hätte ihre lange Nase –

Sie brach kurz ab und keuchte die Treppe vollends hinauf.

Das für die Kinder bestimmte, neben dem Schlafgemache ihrer Eltern gelegene Zimmer war schicklich eingerichtet; die Baronin lobte Herrn Delajoux, der sie selbst hineingeführt. Herr Delajoux verbeugte sich:

Mille merci, Madame! Man thut, was man kann. Ich bin glücklich, die Zufriedenheit von Madame erlangt zu haben.

Der höfliche Mann hatte sich hinaus verbeugt.

Damit wird er sich auch wohl begnügen müssen, murmelte die Baronin mit einem Blick auf die offene Thür nach dem Nebenzimmer; – na, sie müssen das auch lernen – zu dem Vielen, das sie noch zu lernen haben.

Sie hatte sich zu den Kindern gewendet, die in ihrer Freude über die Zimmerveränderung bereits Müdigkeit und Hunger vergessen hatten und, als ihnen gar Gusting zugetuschelt, daß »Fräulein über alle Berge sei und nicht wiederkäme«, ganz ausgelassen wurden. Aber Großtante verstand heute ein- für allemal keinen Spaß. Lolo empfand das zuerst in einem regelrechten Fußtritte, der ihrem Kläffen ein plötzliches Ende machte und sie unter einem Bette Zuflucht suchen ließ, in welchem wenige Minuten später Karlchen lag, »ohne zu mucksen«. Dann kamen Richardchen und Annchen an die Reihe, die, während sie von Gusting ausgekleidet wurden und zwischendurch ihr Glas Milch tranken, sich mit bedeutungsvollen Blicken zu fragen schienen, ob sie nicht am Ende gar bei Großtantens Regime aus dem Regen unter die Traufe gekommen seien.

Die kleinen verstörten Geister hatten für heute nicht mehr lange Zeit, über ihr Schicksal nachzudenken; schon nach wenigen Minuten war die unterbrochene Müdigkeit in ihre guten Rechte getreten. Auf den drei holden Gesichtchen lag friedlich der süße Kinderschlaf, während Gusting aufräumte und der gnädigen Frau, die nachdenklich dasaß, im heimischen Platt flüsternd von dem berichtete, was für sie das große Ereignis des Tages war. Fräulein Pilz sei mit dem Zwei-Uhr-Zuge abgereist; der Hausknecht, der sie auf die Bahn gebracht, habe gesagt: nach Genf, und sie wolle da auf eine neue Stelle warten. Alle Welt im Hotel sei froh, daß sie weg sei; der Jean habe gemeint, er habe schon viel schlechte Personen kennen gelernt, aber die sei schlechter als schlecht; Frau Moor könne von Glück sagen, daß sie ihre Koffer schon vorausgeschickt, sonst wäre ja wohl die Hälfte ihrer Sachen mit der Person gewandert.

Gusting war noch im besten Erzählen, als Frau Banse kam, ihren Posten bei den Kindern, welchen sie den Tag über so treu verwaltet, für den Abend wieder anzutreten. Ihr Strickzeug hatte sie mitgebracht; sie sei völlig hergestellt, werde auch gelegentlich in dem großen Lehnstuhle ein wenig nicken, aber die Frau Baronin möchte ihrem Manne den Gefallen thun und sofort hinabkommen; er erwarte sie bereits in ihrem Zimmer; Gusting solle sie nur getrost mitnehmen; die könne sich vielleicht unten nützlicher machen, wo es ja wohl mit dem guten Herrn Lerma zu Ende gehe.

Na, sagte die Frau Baronin, denn man zu! Das ist heute eine böse Fuhre; wir alten Gäule müssen verdammt schwer im Geschirre liegen, und Vorspann ist nicht.

Frau Banse lächelte, obgleich sie das Bild nicht recht verstand. Die Baronin stampfte, sich diesmal auf Gustings Arm lehnend, davon. Von dem langen Sitzen im Wagen heute waren ihr die Füße arg geschwollen, und sie hatte große Schmerzen. Sie sagte es nicht; Gusting wußte es doch.

Herr Banse war nicht in ihrem Zimmer, aber er kam nach wenigen Minuten mit ernstem, bekümmerten Gesichte.

Wir haben ein paar Augenblicke, sagte er; sie haben ihm eben wieder eine Morphium-Einspritzung gemacht gegen die Höllenschmerzen; das hält dann immer so ein Viertelstündchen vor. Ich habe gesagt, daß sie uns rufen sollen.

Herr Banse hatte sich zu der Baronin auf das Sofa gesetzt.

Ich muß die Zeit benützen, fuhr er fort, Sie von verschiedenem in Kenntnis zu setzen, wodurch Ihnen das Verständnis der Mitteilungen, die er Ihnen machen will, erleichtert werden wird. Zuerst ein sehr wichtiges: Herr Lerma hat sein ganzes, von ihm auf eine Million Dollars geschätztes Vermögen in barem Gelde und allerlei Liegenschaften in Brasilien Fräulein von Seeburg vermacht.

Gott soll mich bewahren! rief die Baronin erschrocken.

Es kann einem Schlimmeres passieren, sagte Herr Banse mit einem schwachen Schimmer seines gewöhnlichen sarkastischen Lächelns; circa sechs Millionen Francs – da kann eine arme Frau lange spinnen. Auf die Sache selbst dürfen Sie sich verlassen; das Testament ist heute Nachmittag in aller Form Rechtens abgefaßt, von mir als einem der zwei Zeugen unterschrieben, und befindet sich bereits in Deposition bei dem hiesigen zuständigen Gerichte.

Und haben Sie eine Erklärung? fragte die Baronin, die sich noch immer von ihrem Erstaunen nicht erholen konnte.

Für mich bedarf es eigentlich keiner, erwiderte Herr Banse; Sie wissen, was meine Alte und ich anfänglich mit Fräulein Angela vorhatten, wenn wir auch nicht über Millionen verfügen können. Und daß unser armer kranker Freund von dem Moment, als er sie gesehen, nur eigentlich von ihrem Anblick gelebt hat, weiß ich von ihm selbst. Indessen, Sie haben recht, außerordentlich ist und bleibt die Sache trotzdem, und so gehe ich wohl nicht fehl, wenn ich sie mit etwas anderem in Zusammenhang bringe, worüber ich allerdings nur Vermutungen habe. Auf folgendes aber möchte ich schwören: es ist da zwischen Lady Ballycastle und Herrn Lerma ein alter böser Handel, der, weil sich Zeit und Raum dazwischen gelegt, lange Jahre geruht hat, um jetzt, da sie sich wiedergesehen, aufs neue zu entbrennen. Der Kranke hat mir nichts davon gesagt, und sein Pedro, der wohl mehr davon weiß, ist stumm wie das Grab. Aber Lady Ballycastle hat die Verschwiegenheit nicht erfunden und gegen verschiedene Personen Andeutungen gemacht – die ich zum Teil wieder erfahren habe – von dem Haß, mit dem sie Herrn Lerma beehrt. Und da spielt nun wieder, ich weiß nicht wie, die beabsichtigte Verbindung zwischen Fräulein Angela und dem Herrn Kapitän hinein, von welcher die Lady behauptet, daß ihr die Einwilligung zu derselben nur abgezwungen sei, während Herr Lerma sich für diese Verbindung aufs höchste interessiert und sie um jeden Preis gesichert sehen will. Nun aber – was ich Ihnen da mitteile, gnädige Frau, sind alles Fakta, deren Begründung Sie mir für jetzt erlassen wollen – nun plant die Lady eine Enterbung ihres Sohnes, und die Sache wäre sogar schon perfekt, wenn sie gefügigere Werkzeuge gefunden hätte. Herr Lerma muß fürchten, daß sie über kurz oder lang dergleichen doch findet, und will den Schlag nach Kräften parieren, indem er dem lieben Mädchen sein Vermögen vermacht. Wenn Herr Lerma sterben sollte – und die Aerzte sagen, daß es sich nur noch um Stunden, höchstens Tage handelt – so wird die Lady die Maske vollends abwerfen. Von Maske kann allerdings kaum noch die Rede sein. Denken Sie doch nur, daß sie im Laufe des Nachmittags schon an die zwanzigmal zu Delajoux geschickt hat, ob der Herr auf Nummer sieben noch immer nicht tot sei! Delajoux hat natürlich jedesmal geantwortet: Eine schöne Empfehlung an Mylady und der Herr lebe noch; worüber sie zuletzt in eine gräßliche Wut geraten ist und durch den Kurier, von dem ich es weiß, Herrn Delajoux hat sagen lassen, wenn er fortfahre, so unartig gegen sie zu sein, werde sie ihn ebenfalls aus dem Leben wegdenken, wie den Herrn auf Nummer sieben.

Sie ist verrückt! sagte die Baronin mit Entschiedenheit.

Herr Banse nickte.

Ich meine, richtig verrückt – reif fürs Irrenhaus, sagte die Baronin.

Ich bin durchaus der Ansicht, sagte Herr Banse; ich glaube, wir erleben hier noch schlimme Dinge. Mir thut nur das liebe Kind leid. So eine Schwiegermutter – das ist kein Spaß.

Die Baronin seufzte schwer; Herr Banse nahm eine Prise, wollte in seiner Zerstreutheit auch der Baronin eine anbieten, besann sich aber und fingerte nachdenklich auf dem geschlossenen Deckel.

Ich weiß nicht, sagte er, das dauert so lange; möchten wir vielleicht einmal hinübergehen?

Die Baronin griff nach ihrem wollenen Umschlagetuch auf der Sofalehne; die beiden alten Leute verließen den Salon. Die Thür zu dem Zimmer des Sterbenden war die dritte auf demselben Korridor; Herr Banse, der den Drücker bereits in der Hand hatte, zögerte.

Er sieht sehr übel aus, flüsterte er bedeutungsvoll.

Ich habe in Granskewitz zweiundfünfzig Menschen an der Cholera sterben sehen, sagte die Baronin in demselben leisen Tone; die waren auch nicht schön.

Freilich, sagte Herr Banse; ich will vorangehen.

Sie traten ein. Vor ihnen stand Pedro, den das leise Geräusch an der Thür von dem Bette seines Herrn am andern Ende des großen Gemaches herbeigezogen. Seine finstere Miene erhellte sich, als er die beiden erkannte. Der Arzt, ein noch junger Mann, welcher an dem Tische in der Mitte ein Medikament zurecht machte, schaute mit durchdringenden schwarzen Augen verwundert auf und kam dann leisen, raschen Schrittes heran, die ihm bereits bekannte Dame mit einer schweigenden Verbeugung begrüßend und Herrn Banse in eine Fensternische ziehend, während die Baronin mit Pedro weiter zum Bette schritt.

Ich wollte Sie eben rufen lassen, flüsterte der Arzt; er ist erwacht, bei voller Besinnung, ohne alle Schmerzen; das heißt, es geht zu Ende. Eine Stunde, vielleicht noch zwei. Er weiß es; er beschwor mich, es ihm zu sagen. Ich glaubte eine Ausnahme von der Regel machen zu müssen – ein Mann von seltener Charakterstärke –

Die Baronin war mit Pedro an das Bett getreten, über dessen rotseidene Decke der Leidende die alabasterweißen durchsichtigen Hände gestreckt hatte. Unter der Bettdecke schien ein Kinderleib zu liegen, nicht größer als die holden Glieder, welche die Baronin vorhin oben in süßer Müdigkeit sich hatte dehnen sehen, und zu welchem der mächtige Kopf mit der weißen Löwenmähne und dem wallenden weißen Barte einen sonderbaren, gespenstischen Kontrast bildete. Aber die Baronin überkam den flüchtigen Eindruck bei dem ersten Blicke in das wachsbleiche Gesicht, über dessen immer feine Züge der nahende schmerzlose Tod eine zarte Schönheit gehaucht hatte, die nichts Irdisches mehr zu haben schien, ebenso wie das reine Licht in den geisterhaft großen blauen Augen.

Wie danke ich Ihnen, sagte er mit einer sehr leisen, aber völlig vernehmlichen Stimme, deren silberner, schwingender Ton die Baronin an das Schwirren der Cikaden in einem Aehrenfelde mahnte; ich konnte nicht sterben, ohne von Ihnen Abschied genommen und Sie zur Erbin eines traurigen Geheimnisses gemacht zu haben, das ich gerne mit ins Grab nähme, müßte es nicht um dererwillen, die wir beide wie eine Tochter lieben, auf Erden bleiben. Bitte, setzen Sie sich – Pedro!

Pedro mußte schon instruiert sein. Er brachte ein kleines, reich mit Silber eingelegtes Ebenholzkästchen herbei, in welchem ein goldenes Schlüsselchen bereits steckte, und stellte es auf den Tisch neben dem Bette zwischen seinem Herrn und der Baronin. Dann ging er zu Herrn Banse und dem Doktor, denen er ein paar Worte leise sagte, worauf alle drei das Gemach verließen.

Señor Lerma und die Baronin waren allein.


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