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*

XXXI.

Unterdessen war Angela, immer der Fahrstraße folgend, in die schmale Waldstrecke gelangt, welche sich dicht hinter dem Dorfe Glion von dem Gebirge thalwärts schiebt. Die Fahrstraße leitete, sanft steigend, links weiter in den Wald; nach rechts zweigte sich ein steilerer, reinlich gehaltener Promenadenweg ab. Es war zweifellos der, welchen sie einschlagen mußte, um in kurzem die als Rendezvous bezeichnete Villa zu erreichen.

Sie ging eine Strecke auf demselben fort, bis durch die selteneren Bäume helleres Licht schimmerte, und kehrte wieder um. Sie wußte aus der Schilderung des Herrn Duillier und hatte selbst von unten bemerkt, daß der Pfad, sobald er aus dem Walde war, an freien Wiesenhängen entlang bis zur Villa lief. Trat sie jetzt allein heraus, so mußte das Zurückbleiben der beiden anderen bemerkt werden. Es war ihr grausam peinlich, in die Angelegenheit Nannis und Benvenutos verwickelt zu sein; aber sie war nun doch einmal, wie sehr auch gegen ihren Willen, engagiert, und es deuchte ihr ungroßmütig, gerade Nanni einen erbetenen Dienst nicht voll zu leisten, der doch auch wieder Arnold zu gute kam. Verabschiedete Nanni, wie es ihre ehrliche Absicht schien, ein für allemal ihren thörichten Liebhaber, so war wenigstens dieser Stein des Anstoßes aus dem Wege geräumt und damit Arnold ein Vorwand geraubt, den Bruch mit Nanni, zu welchem ihm jetzt die Entdeckung ihrer Intrigue eine gewisse Berechtigung gab, ins Werk zu setzen. Das Zureden der Baronin, welche offenbar für ihre Nichte Partei nahm, würde schon das übrige thun; und wozu endlich dieser Bruch? Nanni war ein verzogenes, launisches, übermütiges Kind, wie er es in mehr als einer Beziehung ebenfalls geblieben war, trotz seiner dreißig Jahre; und sie paßten besser zu einander, als sie selber wußten, und bewiesen es thatsächlich dadurch, daß sie sich, bei allen ihren Anklagen hinüber und herüber, immer wieder zusammenfanden. Wie innig – es hätte der indezenten Vertraulichkeiten der Ausgelassenen nicht bedurft – sie hatte dadurch nichts erfahren, als was ihr bereits in den ersten Tagen die hämische Klatschsucht der Pilz zugetragen, bevor es ihr gelang, die aufdringliche Person zum Schweigen zu bringen; und was ihr auch ohne jene die eigene Beobachtung und das eigene, vor zorniger Scham erglühende Herz gesagt. Sie mochten es verantworten, wenn ihr jetzt das schnelle Verständnis für Dinge aufgegangen war, die früher nicht für sie existiert hatten; ihr jetzt Gedanken und Vorstellungen geläufig geworden waren, die zuvor ihre Seele nie getrübt und befleckt, und ihr Blut bei den Umarmungen einer Halbberauschten in eine Aufregung geriet, die noch jetzt häßlich in ihr nachzitterte.

Sie war bereits wieder bis zu der Fahrstraße gelangt, die sie eine ganze Strecke, fast bis zum Dorfe hinab, übersehen konnte. Sie mußten von dieser Seite kommen; aber außer einem Bauernwägelchen, das, von zwei Stieren gezogen, sich langsam heraufbewegte, war die Straße leer. Sie fragte den rüstigen Burschen, der die Tiere lenkte, ob er einem Herrn und einer Dame begegnet sei? Der Bursche hatte niemanden gesehen.

Sie stand und wartete. Das Gefährt war im Walde verschwunden; es mochte, seitdem sie das Hotel verlassen, eine halbe Stunde vergangen sein; vergewissern konnte sie sich darüber nicht: sie hatte bei dem Umkleiden ihre Uhr abgelegt und wieder anzustecken vergessen. Sollte sie ihnen entgegengehen? Aber sie mußten hier vorbei; sie wollte noch ein paar Minuten zugeben.

Sie ging zur Abwechselung nach der anderen Seite auf dem Fahrwege, dem Wagen nach, dessen Knarren, wenn auch schon aus weiter Ferne, sie noch immer hörte. Nach einiger Zeit bemerkte sie, daß sie weiter gegangen, als sie ursprünglich gewollt, und der Weg eine Biegung gemacht hatte, durch welche ihr der Punkt, wo sich der Promenadenweg von der Straße abzweigte, aus den Augen gerückt war. Ueberdies hatte sie sich nicht umgeblickt; es war nicht unmöglich, daß die beiden inzwischen die Stelle passiert hatten und nun vor ihr und dann wohl bereits auf dem Wiesenpfade jenseits des Waldes waren. Rechts leitete ein Fußpfad in den Wald, in der Richtung nach dem Waldrande, und der möglicherweise direkt zur Villa führte. Sie schlug denselben nun ebenso eilig ein, wie sie vorhin langsam gegangen war. Die Veränderung des Tempo mußte sie über die Raumverhältnisse getäuscht haben. Ihr fiel das ein, als sie bereits eine so große Strecke zurückgelegt, daß, wäre die Richtung zugetroffen, sie längst aus dem Walde hätte heraus sein müssen. Dazu war die Steigung, welche anfangs unbedeutend gewesen, immer beträchtlicher geworden; sie meinte, sie könne nicht mehr weit unter der Höhe der Villa sein. Indessen lichtete sich der Wald zusehends nach rechts; sie mußte bald zur Lisiere gelangen und würde ja dann sehen, wie weit sie gekommen, und wo sie sich befand. Aber die Lisiere war nicht so nahe; da, wo sie dieselbe vermutet, hob sich der Pfad von neuem und steiler als zuvor: das wiederholte sich ein paarmal; endlich trat sie doch ins Freie.

Aber nicht auf den Rand der breiten sanften Wiesenhänge, sondern auf die schmale Platte eines steilen Felsens, der die Wiesenhänge kirchturmhoch überragte und mit einem eisernen Geländer am Rande und einer Bank in der Mitte versehen war. Ein Aussichtspunkt also, und der wohl nur dem Monsieur Duillier zu hoch erschienen sein mochte, um ihn der Gesellschaft als Ziel ihrer Wanderung zu bezeichnen. Denn schöner und großartiger konnte der Blick von keinem andern sein. So wenig ihr verstörtes Gemüt jetzt für landschaftliche Reize empfänglich war, mußte sie es bemerken, weil sie nun, an das Geländer gelehnt, das ungeheure Panorama überschaute: unmittelbar zu ihren Füßen, aber auch schon tief unter ihr, das mächtige Vorgebirge von Glion mit dem Dorfe rechts und dem Hotel am äußersten Rande; wieder tief unter diesem der See in seiner ganzen Ausdehnung, vom Fuße der Alpenriesen im Osten bis zu den sanften Geländen im fernsten Westen; drüben die blauschwarze Wand der Savoyer Alpen, dräuender, finsterer als je, mit dem Wolkenungeheuer, das sich, ein Gebirge über dem Gebirge, von dem Kopfe der Dent d'Oche nach rechts und links über die Nachbargipfel gewälzt hatte und seine von der Glut der sinkenden Sonne wie in Blut getauchten grauen Arme über den Himmel daherstreckte zum Kampfe der Entscheidung, ob fürder das Licht herrschen solle oder die Finsternis.

Die Finsternis! murmelte Angela, während ihre Blicke an den ungeheuren Dunstmassen hingen, die mit jedem Momente zu wachsen und näher zu rücken schienen, und deren breiter bleierner Schatten jetzt den zarten Silberschein auslöschte, in welchem noch eben der See geleuchtet, und jetzt das tiefe Karmin und das sanfte Rosa rings an den Bergen und Geländen. Nun kam's auf den Rand des Vorgebirges von Glion und huschte die Wiesenhänge herauf in sonderbarer, unheimlicher Eile; und kletterte jetzt an der Felsenmauer herauf und war nun bei ihr, über ihr, über dem Walde schon, der, eben noch wie in loderndem Feuer aufflammend, plötzlich in schwärzlichem Grün dastand und dann in finsterem Grau, schweigend, lauschend auf den dumpfen Donner, der von drüben heranrollte. Nur zu! rief Angela, ich halt's mit dir; was gehen uns die Pygmäen an!

Sie hatte jetzt, wo sie sich, um die Stelle zu verlassen, wendete und nun auch nach rechts einen Blick warf, die Villa erblickt, eingebettet in eine Wiesenbucht, die tief in die Felsen schnitt, und die sie selbst auf ihrem Wege durch den Wald umwandert. Es war kein einzelnes Haus – ein Komplex von Gebäuden mit flachen Dächern, über denen sie so hoch stand, daß sie dieselben von den umgebenden Gartenanlagen nur an der eintönig grauen Schieferfarbe unterscheiden konnte. Und hatte nun auch auf dem ebenfalls flachen Dache des Turmes, welcher das Hauptgebäude flankierte, drei Gestalten entdeckt, in denen ihr scharfes Auge trotz der großen Entfernung und des fahlen Lichtes an der Haltung die beiden Engländer und Arnold erkannte. Sie standen alle drei an dem äußersten Rande des Daches, ihr den Rücken wendend, ausschauend nach denen, welche den Promenadeweg heraufkommen sollten, welchen sie von ihrer Höhe als dünnen, hellen Faden durch die dunklen Matten nach der Villa zu sich schlängeln sah.

Ihr wartet vergeblich! rief sie, sich weit über das Geländer biegend, als könnte sie's denen da unten zurufen.

Sie hatte es begriffen – blitzschnell, wie das elektrische Licht an den Wolkenmassen droben hinzitterte, die unheimlichen Schlünde und Tiefen in denselben für Momente grausig erhellend. Ein so plumpes Spiel, und sie hatte es nicht durchschaut! hatte es nicht gehört, das Lachen, das die beiden hinter ihr aufschlugen, als sie die ehrliche Närrin glücklich aus dem Wege und den Weg frei hatten zu der schlau geplanten Flucht, die ihnen die Närrin sicherte, während sie im Walde wartete und wartete und sich außer Atem lief, sorgend nach ihnen ausschauend, wie die da unten auf dem Dache –

Und das sollte nicht zum Lachen sein!

Sie lachte laut und winkte in toller Lust mit dem Tuche hinab – demselben, mit dem der gute Bob sie gewarnt, daß sie es nicht machen solle, wie die beiden Durchgänger.

Hatten die unten sie hier oben bemerkt und das Winken gesehen? Möglich! die drei Gestalten bewegten sich lebhaft nach der ihr zugewendeten Seite des Daches.

Kommt herauf! wer mich einholt, soll mich haben!

Sie hatte es hinabgeschrien und sich in den Wald geworfen, den steilen Pfad – einen andern, als auf welchem sie gekommen – hinauflaufend, wie ein Mensch, der um Tod und Leben vor seinen Verfolgern rennt. Fort aus dem Leben in den Tod! In den ehrlichen Tod, wo man die anderen nicht mehr lügen und trügen sieht und selbst nicht mehr zu lügen und zu trügen braucht, und all den Jammer los ist und ledig der Qual, die nur den frechen Selbstling verschont, um das Herz dessen zu zerfleischen, der es heilig ernst nahm mit des Lebens nichtswürdigem Puppenspiel. Fort! Fort!

Endlich verließ sie doch die Kraft. Langsamer stieg sie – immer bergan, mit hämmerndem Herzen, keuchender Brust; die Stirn, von der die Büsche längst den Hut gerissen, tropfend von kaltem Schweiße. Oder war es der eisige Regen, der durch die dunklen, halbkahlen Bäume herabrieselte und den steinigen Pfad unter ihr schlüpfrig machte? Das that so wohl, das Rieseln und das Rinnen! Und nun waren's nicht mehr unsichtbare Tropfen, sondern große weiße Flocken; und was noch eben Lachen gewesen, wurde dünnes Eis, das knisterte so schön, wenn der eilende Fuß es zertrat; und auf den braunen Aesten, auf den breiten schwarzgrünen Fächern der Tannen lag es wie blaues Glas, und in dem Wind, der oben durch die Wipfel brauste, raschelte es herab und zerklatschte auf dem Boden. Nun kamen die Flocken dichter und dichter, und stäubten und wirbelten über die hohe Halde, an deren Fuß sie stand, so dicht, daß sie den Wald am oberen Ende derselben nur noch als einförmig ragende Mauer sah. Um den Fuß der Halde zog sich der Fahrweg, auf den sie plötzlich, aus dem Walde heraus, geraten war. Was sollte ihr der Weg, den Menschen gingen? der wieder zu Menschen führte! Die pfadlose Halde hinauf! hinauf, wo's keine Menschen mehr gab! Höher! höher! Excelsior!

Das Gedicht Longfellows kam ihr in den Sinn. Es hatte vor Jahren, als sie es zuerst gelesen, einen tiefen Eindruck auf sie gemacht, sie hatte es auch zu übersetzen versucht. Und während sie sich jetzt die Halde, nun schon über gleichmäßig liegenden Schnee durch immer wilderes Flockengestöber, hinaufarbeitete, fielen ihr die einzelnen Phasen der mystischen Geschichte wieder ein: wie ein schöner, düster blickender Jüngling, der in seiner Hand ein Banner mit der seltsamen Devise: Excelsior! trägt, als die Schatten der Nacht schon herabsinken, in Schnee und Eis durch ein Alpendorf eilt, aus dessen Hüttenfenstern ihm das warme Licht des Herdes entgegenschimmert, während von oben her die Gletscher gespenstisch herniederschauen. Ein alter Mann warnt ihn, sich nicht auf den Paß zu wagen, den die Stürme umbrausen und die Wildwasser durchrauschen. Er hat, weiterstürmend, nur eine Antwort: Excelsior! Ein junges Mädchen bietet ihm Hand und Herz, wenn er bleiben wolle. Er antwortet, aufwärts eilend: Excelsior! Und als bei Tagesanbruch nach der Sturmesnacht die Mönche von St. Bernhard ihrem frommen Berufe nachgehen, finden sie halb im Schnee begraben den schönen Jüngling, dessen erkaltete Hand noch das Banner umkrampft:

Und eine Stimm' vom Himmelszelt
Kam hochher, wie ein Stern, der fällt:

                 Excelsior!

Die letzten Worte waren die einzigen, die sie wieder fand; sie erinnerte sich, wie sie sich abgemüht, das englische: like a falling star herauszubringen, und es schließlich doch bei dem Satze »der fällt« bewenden lassen mußte, obgleich sie fühlte, daß sie dem Bilde einen ungebührlichen Platz einräumte. Aber sie hatte so deutlich an dem grauen Morgenhimmel den bildlichen Stern fallen sehen, und die Stimme hatte sie nicht gehört.

Sonderbar, daß ihr das alles bis in die kleinsten Einzelheiten zurückkam! Und die nächtliche Stunde ihrer Schülerarbeit und das kleine Stübchen mit dem kleinen wackeligen Tischchen aus ungestrichenem Tannenholz, das so ehrliche Tintenflecke hatte, auf die sie ordentlich stolz war, weil sie dem alten Möbel, welches ursprünglich ein Küchentisch gewesen, einen gelehrten Anstrich gaben. Worauf war sie nicht stolz damals? Auf ihren Fleiß und ihr Wissen und die Schnelligkeit, mit der sie alles begriff, und ihre Kunst und Kenntnisse, die ihr die große weite Welt erschließen sollten von ihrem engen Stübchen aus! Und Excelsior! war ihr Wahlspruch gewesen, und ihr Ideal der Jüngling, der höher will, immer höher, und alles zurückläßt, zuletzt den Erdenleib und nur noch eine himmlische Stimme ist.

Sie blieb stehen; das Schneegestöber war so dicht geworden – sie konnte die Halde nach keiner Seite mehr absehen; selbst der dunkle Wald oben war verschwunden; sie wußte nur aus der Steigung des Terrains, was oben und was unten war.

Würde man sie bei Tagesanbruch finden, wenn sie die zerschlagenen Glieder hier niederstreckte und sich langsam einhüllen ließ in ihr weißes Leichentuch? Aber das Banner würde fehlen in der erkalteten Hand; und ach, auf ihrer bleichen Stirne, die so schlimme Gedanken hegte, würde es nicht geschrieben stehen, das erhabene Wort, das aus dem Himmel herabschallt! Man würde nur sagen: Das ist die Närrin, die gestern weglief, weil sie sich wieder einmal in das Leben nicht schicken wollte oder konnte, wie sie es nie gekonnt oder gewollt, und am Ende noch gar von uns vernünftigen Leuten verlangte, daß wir darin etwas Besonderes, Rühmliches sehen, etwas, das sie voraushatte vor uns anderen, die wir das Leben nehmen, wie es ist, und dabei vortrefflich fahren.

Nein, nein! schrie sie in die Oede hinein, ich verlange es nicht! Ich weiß, daß ich das Banner verloren und nun selbst verloren und verworfen bin! Ihr sollt euch über mich nicht ärgern! Nicht einmal die Mühe will ich euch machen, mich hier zu finden und wegtragen zu müssen!

Sie strebte wieder aufwärts, dem Walde entgegen, der sie in feinem Dunkel, in tiefster abgelegenster Schlucht bergen sollte vor aller Augen. Die Angst hatte ihr auf einmal die verlorene Kraft zurückgegeben; ja, ihr war, als würde sie auf Flügeln emporgetragen – auf Flügeln des Schneesturmes, der durch die Wildnis rauschte und donnerte und in langen sagenden Tönen heulte; und die Donnerstimme sei ihre Stimme und die Klagetöne erschallten aus ihrer Brust; und sie sei eins mit den Elementen, den uranfänglichen, die nach ewigen Gesetzen webten und wirkten und töteten und vernichteten, ohne Sünde, ohne Schuld, ohne Reue, der unglückseligen Menschen trostlosem Erbteil.

Und dann war es nicht mehr des Sturmes Heulen, sondern Nannis Lachen, und es waren nicht mehr wehende Schneesäulen, sondern die weißen Glieder Nannis, die nackt durch das Gestöber tanzte, eine rasende Mänade mit weithin flatterndem Haar, und nun zwischen den dunklen Stämmen verschwand, die plötzlich aus dem Gestöber herauswuchsen mit knarrenden Aesten und ächzenden Wipfeln, von denen der Schnee auf sie herabfiel, während sie sich weiter aufwärts arbeitete.

Mühselig jetzt auf dem schlüpfrigen Waldboden, der die Kraft einzusaugen schien, mit welcher sie vorhin der Sturm die Steinhalde emporgetragen. Und so war's, als hätte die wilde Jagd der Gedanken, die eben noch ihr Hirn durchbraust, das Denken selbst mit fortgerissen. Sie konnte auch nichts mehr empfinden; das körperliche Gefühl selbst schien sie verlassen zu haben; sie stieß mit der unbeschützten Stirn gegen einen Ast, der sich über sie streckte, und empfand keinen Schmerz, wie in einem Traume, – den sie schon einmal geträumt: eine schaurige Wildnis, in der es nicht Tag und nicht Nacht war, erfüllt mit grauen Schatten, die alles sein konnten oder waren: Bäume, Felsen, Höhlen, rauschende Bäche, aus Dunkel in Dunkel stürzend – und sie suchte jemanden, der sich vor ihr versteckte, sich nicht finden lassen wollte – ihn! ihn! – und sie hatte den Traum geträumt in der Nacht, da er den Brief geschrieben, in welcher er ihr seine Verlobung mit Nanni meldete.

Und jetzt sucht sie den Tod, als Sühne, daß sie weder damals noch später ihr Opfer ganz und voll gebracht, und die Liebe zu ihm nicht aus dem Herzen gerissen, und ihn noch immer liebt mit einer wahnsinnigen, sündhaften, verbrecherischen Liebe, die der letzte Funke in der verglimmenden Lebensflamme ist und nur mit dem Leben verlöschen wird.

Ein Stern, der fällt!

Das ist das Ende vom Liede.

Ist's ein Stern oder ein Erdenlicht?

Es ist vor ihr aufgeschimmert und wieder zwischen den Stämmen verschwunden, und schimmert wieder auf, und ist vor ihr – eine Blöße im Walde – auf der Blöße ein Häuschen – aus dem niedrigen Fenster kommt das Licht.

Sie will nicht zu Menschen, will zurück in den Wald; die erstarrten Glieder versagen den Dienst; sie muß sich an den Baumstamm klammern, um nicht umzusinken. Und jetzt Stimmen – zwei Gestalten, die vor dem Häuschen stehen – eine deutet nach dem Wald – auf sie. Hat man sie gesehen? Die eine Gestalt löst sich von der andern und kommt eilends auf sie zu. Will der Traum Wahrheit werden? Ist es Arnold? Dann ist sie verloren. Sie weiß es. Noch einmal versucht sie zu fliehen; nur eben die Hände lösen sich mühsam von dem Baum, die Füße scheinen mit jenem angewurzelt; ein dumpfer Schrei entringt sich der gequälten Brust. Nun ist er bei ihr und jauchzt ihren Namen, reißt sie an seine Brust, umfaßt sie mit starken Armen, hebt sie empor und trägt sie nach der Hütte.

Dann liegt sie auf einem Lager, das ein Sofa scheint, aber auch ein Bett sein kann – sie hat ein Federkissen unter dem Kopf und ein anderes über den Füßen. Ein enges, niedriges Gemach mit dumpfer Luft, in der ihr zu atmen schwer wird. Sie reißt ihr Kleid auf und hat nicht die Kraft, es zu schließen, obgleich sie jetzt merkt, daß sie nicht allein ist. Irgendwo brennt ein Licht; die Schatten von zwei männlichen Gestalten fallen an die Wand und halb über die holzgetäfelte Decke. Man spricht in leisen Tönen – französisch – die eine ist Arnolds tiefe Stimme; die andere hatte sie auch schon gehört – kürzlich – die des jungen Bauers, der das Ochsengespann bergauf lenkte. Er will seine Mutter holen gehen, die mit der Jeanneton im Dorf bei der verheirateten Schwester zum Sonntagsbesuch ist; die Mutter werde Madame besser behandeln, als der beste Arzt in Montreux. Wenn die beiden anderen sich von Monsieur erst so kurz vorher im Walde getrennt, sei es nicht unmöglich, daß sie in das Dorf geraten. Er werde es da bald erfahren; doch möge es leicht mit seiner Rückkehr eine halbe Stunde währen; das Dorf liege ein gut Teil weiter unten. Inzwischen –

Die Stimmen werden leiser; die Schalten verschwinden und kommen wieder und huschen an Wand und Decke umher; die Thür bewegt sich knarrend; ein schneller, leiser Schritt naht sich ihrem Lager. Sie hat die Augen geschlossen und lächelt nur, als sich ein Lippenpaar auf ihre Lippen senkt, leicht wie ein seliger Traum; und lächelt wieder in dem wilden Schauer, der sie durchzuckt, als sie seine Hand auf ihrer Brust fühlt. Sie flüstert:

Bin ich so schön wie sie?

Tausendmal schöner, murmelt er und bedeckt ihren Mund mit wütenden Küssen.

Männerküsse, das ist noch ganz etwas anderes, haucht sie zurück.

Ihre Sinne wirbeln, wollen ihr vergehen. Vor ihren geschlossenen Augen wallen, ziehen blutigrote Schatten wie Morgenwolken an einem schwarzgrauen Himmel. Dann schießt vom schwarzgrauen Himmel hochher durch die Wolken erdenwärts ein goldener Stern.

Sie hat sich losgerissen, ihn von sich gestoßen und steht aufrecht neben dem Lager – vor ihm, der ebenfalls von den Knieen emporgetaumelt ist.

Der Stern! der Stern! schreit sie.

Er starrt sie, ohne zu begreifen, sprachlos mit glühenden Augen an; er breitet die Arme und reißt sie an sich; und wieder stößt sie ihn zurück mit wahnsinniger Kraft.

Schön, sagst du? ich? wenn ich ihr gleiche? ein hungriges Tier! Wenn Sterne fallen, fallen sie nicht in den Sumpf! fort!

Und noch einmal schreit sie: Fort! und weist drohend nach der Thür.

Er stampft wütend mit dem Fuße und knirscht ein wildes Wort durch die zusammengeklemmten weißen Zähne. Sie steht noch immer in derselben Haltung, mit starren, wie verglasten Augen, ein Medusenlächeln um den stolzen, verzerrten Mund; wie Schlangen ringeln die nassen aufgelösten Haarsträhnen an den marmorbleichen Wangen herab.

Er kann den Blick nicht ertragen; sie ist mächtiger als er, wie sie es immer gewesen. Er stürzt aus dem Gemach in die Küche nebenan, wo er sich an dem lodernden Feuer des offenen Herdes auf einen Schemel wirft, in den wirren Locken raufend, als draußen Schritte erschallen und die Stimme des jungen Bauers: Par ici, Messieurs, par ici!

Die kleine Küche ist plötzlich voller Menschen: der junge Bauer, Edward, Bob – eine runzlige Matrone, ein junges dralles Mädchen – Capuchons auf den Köpfen. Die Frauen eilen mit kurzem Gruß durch die Küche nach der Stube und schließen die Thür hinter sich, an der Edward ängstlich lauschend stehen bleibt, während der junge Bauer das Feuer schürt, und Bob in einem halblauten lustigen Tone, der Arnold seltsam drohend klingt, ruft: Also Sie doch der Erste, der Miß Angela gefunden! Haben Sie ein stupendes Glück!


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