Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Zweiter Band
Oswald Spengler

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Eine entscheidende Wendung vollzieht sich mit dem Beginn der Spätzeit, dort wo Stadt und Land sich im Gleichgewicht befinden und die eigentlichen Mächte der Stadt, Geld und Geist, so stark geworden sind, daß sie sich als Nichtstand den Urständen gewachsen fühlen. Es ist der Augenblick, wo der Staatsgedanke sich endgültig über die Stände erhebt, um sie durch den Begriff der Nation zu ersetzen.

Der Staat hatte sein Recht erkämpft auf dem Wege vom Lehnsverband zum Ständestaat. In diesem sind die Stände nur noch vermöge des Staates vorhanden, nicht umgekehrt. Aber es lag doch so, daß die Regierung der regierten Nation nur derart gegenübertrat, als und soweit diese ständisch gegliedert war. Der Nation zugehörig waren alle, den Ständen aber eine Auswahl, und nur diese kam politisch in Betracht.

Je mehr sich aber der Staat seiner reinen Form nähert, je absoluter er wird, abgelöst nämlich von jedem andern Formideal, desto mehr gewinnt der Begriff der Nation dem des Standes gegenüber an Gewicht, und es kommt der Augenblick, wo die Nation als solche regiert wird und die Stände nur noch gesellschaftliche Unterschiede bezeichnen. Gegen diese Entwicklung, die zu den Notwendigkeiten der Kultur gehört und unvermeidlich und unwiderruflich ist, erheben sich noch einmal die frühen Mächte, Adel und Priestertum. Für sie steht alles auf dem Spiel, das Heldenhafte und Heilige, das alte Recht, der Rang, das Blut, und von ihnen aus betrachtet – gegen was?

Dieser Kampf der Urstände gegen die Staatsgewalt besitzt im Abendlande die Gestalt der Fronde; in der Antike, wo keine Dynastie die Zukunft vertritt und der Adel politisch allein da ist, bildet sich etwas Dynastisches, das den Staatsgedanken verkörpert und, gestützt auf den nichtständischen Teil der Nation, diesen selbst erst zu einer Macht erhebt. Das ist die Mission der Tyrannis.

In dieser Wendung vom Ständestaat zum absoluten Staat, der alles nur in bezug auf sich gelten läßt, haben die Dynastien des Abendlandes und ebenso diejenigen Ägyptens und Chinas den Nichtstand, das »Volk«, zu Hilfe gerufen und damit als politische Größe anerkannt. Darin liegt die Bedeutung des Kampfes gegen die Fronde, und die Mächte der großen Stadt konnten für sich zunächst nur einen Vorteil darin erblicken. Der Herrscher steht hier im Namen des Staates, der Sorge für alle, und er bekämpft den Adel, weil dieser den Stand als politische Größe aufrecht erhalten will.

In der Polis aber, wo der Staat ausschließlich in der Form lag und in keinem Oberhaupt erblich verkörpert war, erhob sich aus dem Bedürfnis, den Nichtstand für den Staatsgedanken einzusetzen, die Tyrannis, in welcher eine Familie oder Faktion des Adels selbst die dynastische Rolle übernahm, ohne welche eine Aktion des dritten Standes unmöglich gewesen wäre. Spätantike Historiker haben den Sinn dieses Vorgangs nicht mehr erkannt und sich an Äußerlichkeiten des Privatlebens gehalten. In Wahrheit ist die Tyrannis der Staat, und sie wird von der Oligarchie im Namen des Standes bekämpft. Deshalb stützt sie sich auf Bauern und Bürger; in Athen waren das um 580 die Parteien der Diakrier und Paralier. Deshalb hat sie die dionysischen und orphischen Kulte zum Nachteil der apollinischen unterstützt; in Attika förderte Peisistratos den Dionysoskult unter den Bauern,Gercke-Norden, Einl. i. d. Alt.-Wiss. II, S. 202. in Sikyon verbot um dieselbe Zeit Kleisthenes den Vortrag der homerischen Gesänge;Busolt, Griech. Geschichte II, S. 346 ff. in Rom wurde sicherlich noch unter den Tarquiniern die Götterdreiheit Demeter (Ceres), Dionysos und KoreVgl. Bd. II, S. 906. Die Fronde und Tyrannis ist mit dem Puritanismus ebenso tief verwandt – dieselbe Epoche, in der politischen statt der religiösen Welt erscheinend – wie die Reformation mit dem Ständestaat, der Rationalismus mit der bürgerlichen Revolution und die »zweite Religiosität« mit dem Cäsarismus. eingeführt. Ihr Tempel wurde 483 durch Sp. Cassius geweiht, der gleich danach bei einem Versuch, die Tyrannis wieder aufzurichten, umkam. Dieser Cerestempel war das Heiligtum der Plebs und seine Vorsteher, die Ädilen, deren Vertrauensmänner, bevor es Tribunen gab.G. Wissowa, Religion d. Römer, S. 297 ff. Die Tyrannen waren wie die Fürsten des abendländischen Barock in einem großen Sinne liberal, wie es unter der späteren Herrschaft des dritten Standes gar nicht mehr möglich ist. Aber damals kam auch in der Antike das Wort in Umlauf, daß das Geld den Mann macht, χρήματ' άνήρ.Beloch, Griech. Geschichte I, 1, S. 354. Die Tyrannis des sechsten Jahrhunderts hat den Polisgedanken zu Ende geführt und den staatsrechtlichen Begriff des Bürgers, des Politen, des Civis geschaffen, deren Summe ohne Rücksicht auf den Stand das soma des Stadtstaates bildet. Als die Oligarchie dann doch wieder siegte, und zwar infolge des antiken Hanges zur Gegenwart, der in der Tyrannis die Neigung zur Dauer fürchtete und haßte, war der Begriff des Bürgers fest vorhanden, und der Nichtpatrizier hatte gelernt, sich dem Rest gegenüber als Stand zu fühlen. Er war eine politische Partei geworden – das Wort Demokratie im spezifisch antiken Sinne bekommt jetzt einen bedeutungsschweren Inhalt – und er geht daran, nicht mehr dem Staat zu Hilfe zu kommen, sondern wie vorher der Adel der Staat zu sein. Er beginnt zu zählen – das Geld wie die Köpfe, denn sowohl der Geldzensus wie das allgemeine Wahlrecht sind bürgerliche Waffen; der Adel zählt nicht, sondern wertet; er stimmt nach Ständen. Wie der absolute Staat aus der Fronde und ersten Tyrannis hervorgegangen war, so geht er mit der Französischen Revolution und der zweiten Tyrannis zu Ende. In diesem zweiten Kampfe, der schon Verteidigung ist, tritt die Dynastie auf die Seite der Urstände zurück, um den Staatsgedanken gegen eine neue Standesherrschaft, die bürgerliche, zu schützen.

Zwischen Fronde und Revolution liegt auch die Geschichte des Mittleren Reiches in Ägypten. Hier hat die 12. Dynastie (1990 bis 1790), voran Amenemhet I. und Sesostris I., in schweren Kämpfen gegen die Barone den absoluten Staat begründet. Der erste Herrscher ist, wie ein berühmtes Gedicht dieser Zeit meldet, nur mit Mühe einer Verschwörung am Hofe entgangen. Daß nach seinem zunächst geheimgehaltenen Tode ein Aufruhr drohte, verrät die Lebensbeschreibung des Sinuhet;Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. I, § 281. der dritte wurde von Palastbeamten ermordet. Aus den Inschriften im Familiengrabe der Grafen Chnemhotep erfahren wir,Ebenda, § 280 ff. daß die Städte reich und fast unabhängig geworden waren und Kriege untereinander führten. Sicherlich sind sie damals nicht kleiner gewesen als die antiken Städte zur Zeit der Perserkriege. Auf sie und auf eine Anzahl treugebliebener Großer hat die Dynastie sich gestützt.Über die Sicherung der Thronfolge vgl. Bd. II, S. 1030. Sesostris III. (1876–1842) konnte den Feudaladel endlich ganz aufheben. Es gab von da an nur noch einen Hofadel und einen einheitlichen, mustergültig geordneten Beamtenstaat,Ed. Meyer, § 286. aber schon jetzt erheben sich Klagen im Tone des Herzogs von Saint Simon, daß die Vornehmen ins Elend geraten und die »Söhne Niemands« zu Rang und Ansehen kommen.Ebenda, § 283. A. Erman, Die Mahnworte eines ägyptischen Propheten, Sitz. Preuß. Ak. (1919), S. 804 ff. Die Demokratie beginnt und die große soziale Revolution der Hyksoszeit bereitet sich vor.

Dem entspricht in China die Zeit der Ming-dschu (oder Pa, 685 bis 591). Es sind Protektoren fürstlicher Herkunft, die eine rechtlich nicht begründete, aber tatsächliche Macht über diese ganze, in wüste Anarchie versunkene Staatenwelt ausüben, Fürstenkongresse berufen, um die Ordnung herzustellen und gewisse politische Grundsätze zur Anerkennung zu bringen, sogar den gänzlich bedeutungslosen »Herrscher der Mitte« aus dem Hause Dschou vorladen. Der erste war Hoang von Tsi († 645), der den Fürstentag von 659 berief und von dem Konfuzius schrieb, daß er China vor dem Rückfall in die Barbarei gerettet habe. Die Bezeichnung Ming-dschu ist später wie der Tyrannenname ein Schimpfwort geworden, weil man in ihrer Erscheinung nur noch die Macht ohne Recht bemerken wollte, aber diese großen Diplomaten sind ganz ohne Zweifel ein Element, das sich voller Sorge um den Staat und die geschichtliche Zukunft gegen die alten Stände richtet und dabei auf die jungen stützt, auf Geist und Geld. Eine hohe Kultur spricht aus dem Wenigen, was bis jetzt aus chinesischen Quellen über sie bekannt geworden ist. Einige waren Schriftsteller, andere haben Philosophen zu Ministern berufen. Es ist gleichgültig, ob man an Richelieu oder Wallenstein oder Periander denkt – jedenfalls tritt mit ihnen zuerst »das Volk« als politische Größe auf.S. Plath, Verfassung und Verwaltung Chinas, Abh. Münch. Ak. (1864), S.97. O. Franke, Stud. z. Gesch. d. Konf. Dogmas, S. 255 ff. Das ist echte Barockgesinnung und Diplomatie von hohem Rang. Der absolute Staat hat sich der Idee nach dem Ständestaat gegenüber durchgesetzt.

Eben darin liegt die enge Verwandtschaft mit der abendländischen Zeit der Fronde. Hier hat die Krone in Frankreich seit 1614 keine Generalstände mehr berufen, nachdem diese sich den vereinigten Gewalten von Staat und Bürgertum überlegen gezeigt hatten. In England versuchte Karl I. seit 1628 ebenfalls ohne Parlament zu regieren. In Deutschland kommt der Dreißigjährige Krieg, der doch auch, ganz abgesehen von seiner religiösen Bedeutung, die Entscheidung zwischen Kaisergewalt und der großen kurfürstlichen Fronde einerseits und zwischen den Einzelfürsten und der kleinen Fronde ihrer Landstände andrerseits herbeiführen sollte, dadurch zum Ausbruch, daß 1618 die böhmischen Stände das Haus Habsburg absetzten und ihre Macht daraufhin 1620 durch ein furchtbares Strafgericht vernichtet wurde. Aber der Mittelpunkt der Weltpolitik lag damals in Spanien, wo mit der gesellschaftlichen Kultur überhaupt auch der diplomatische Stil des Barock entstanden ist, nämlich im Kabinett Philipps II., und wo das dynastische Prinzip, in dem sich der absolute Staat den Cortes gegenüber verkörperte, seine gewaltigste Ausbildung erfahren hat, und zwar im Kampfe gegen das Haus Bourbon. Der Versuch, auch England genealogisch dem spanischen System einzugliedern, war unter Philipp II. gescheitert, weil der schon angekündigte Erbe aus seiner Ehe mit Maria von England ausblieb. Jetzt, unter Philipp IV., taucht noch einmal der Gedanke einer alle Ozeane beherrschenden Universalmonarchie auf, nicht mehr jenes mystische Kaisertum der frühen Gotik, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, sondern das greifbare Ideal der Weltherrschaft des Hauses Habsburg, die sich von Madrid aus auf den realen Besitz von Indien und Amerika und auf die schon fühlbar hervortretende Macht des Geldes stützen sollte. Damals haben es die Stuarts versucht, ihre gefährdete Stellung durch die Ehe des Thronfolgers mit einer spanischen Infantin zu verstärken, aber man zog in Madrid zuletzt die Verbindung mit der eigenen Seitenlinie in Wien vor, und so wandte sich Jakob I. – ebenfalls vergeblich – an die Gegenpartei der Bourbonen mit dem Vorschlag eines Ehebündnisses. Der Mißerfolg dieser Familienpolitik hat mehr als alles andre dazu beigetragen, die puritanische Bewegung mit der englischen Fronde zu einer großen Revolution zu verbinden.

In diesen großen Entscheidungen treten wie im »gleichzeitigen« China die Inhaber der Throne selbst ganz in den Hintergrund vor einzelnen Staatsmännern, in deren Hand Jahrzehnte hindurch das Schicksal der abendländischen Welt liegt. Graf Olivarez in Madrid und der spanische Gesandte in Wien Oñate waren damals die mächtigsten Persönlichkeiten in Europa; ihnen standen als Verteidiger des Reichsgedankens Wallenstein und des absoluten Staatsgedankens in Frankreich Richelieu gegenüber, und später sind in Frankreich Mazarin, in England Cromwell, in Holland Oldenbarneveldt, in Schweden Oxenstierna gefolgt. Erst mit dem Großen Kurfürsten erscheint wieder ein Monarch von staatsmännischer Bedeutung.

Wallenstein knüpft unbewußt dort an, wo die Hohenstaufen aufgehört hatten. Nach dem Tode Friedrichs II. (1250) war die Gewalt der Reichsstände eine unbedingte geworden und gegen diese, für einen absoluten Kaiserstaat, trat er während seines ersten Kommandos ein. Wäre er ein größerer Diplomat, klarer, vor allem entschlossener gewesen – er fürchtete sich vor Entscheidungen –, hätte er wie Richelieu die Notwendigkeit erkannt, vor allem die Person des Monarchen unter seinen Einfluß zu bringen, so wäre mit dem Reichsfürstentum vielleicht aufgeräumt worden. Er sah in diesen Fürsten Rebellen, die abgesetzt und deren Land konfisziert werden müßte, und auf dem Gipfel seiner Macht, Ende 1629, als er Deutschland militärisch fest in der Hand hatte, ließ er im Gespräch verlauten, der Kaiser müsse Herr im Reiche sein wie die Könige von Frankreich und Spanien. Sein Heer, das »sich selbst ernährte« und auch durch seine Stärke von den Ständen unabhängig blieb, war zum ersten Male in Deutschland eine Kaiserarmee von europäischer Bedeutung; neben ihm kam das von Tilly geführte Heer der Fronde, denn das war die Liga, nicht in Betracht. Als Wallenstein 1628 vor Stralsund lag, um den Gedanken einer habsburgischen Seemacht in der Ostsee zu verwirklichen, von wo aus das bourbonische System im Rücken gefaßt werden konnte – während gleichzeitig Richelieu mit besserem Erfolg La Rochelle belagerte –, waren Feindseligkeiten zwischen der Liga und ihm kaum noch zu vermeiden. Auf dem Reichstag zu Regensburg 1630 war er abwesend, weil, wie er sagte, sein Quartier demnächst in Paris sein werde. Es war der schwerste politische Fehler seines Lebens, denn hier siegte die Fronde der Kurfürsten über den Kaiser durch die Drohung, Ludwig XIII. an seine Stelle zu setzen, und erzwang die Abdankung des Generals. Damit hatte die Zentralgewalt in Deutschland, ohne die Tragweite des Schrittes zu erkennen, ihr Heer aus der Hand gegeben. Von nun an unterstützte Richelieu die große Fronde in Deutschland, um hier die spanische Stellung zu erschüttern, während auf deren Seite Olivarez und der wieder zum Kommando gelangte Wallenstein sich mit der Ständepartei in Frankreich verbündeten, die daraufhin unter der Königin-Mutter und Gaston von Orléans zum Angriff überging. Aber die kaiserliche Gewalt hatte den großen Augenblick versäumt. In beiden Fällen behielt der Kardinal die Oberhand. Er ließ 1632 den letzten Montmorency hinrichten und brachte die katholischen Kurfürsten Deutschlands in ein offenes Bündnis mit Frankreich. Von da an trat Wallenstein, der in seinen Endzielen unsicher wurde, mehr und mehr dem spanischen Gedanken entgegen, den er von dem Reichsgedanken trennen zu können glaubte, und näherte sich (wie in Frankreich der Marschall Turenne) damit von selbst den Ständen. Es ist die entscheidende Wendung in der späteren deutschen Geschichte. Erst mit diesem Abfall ist der absolute Kaiserstaat unmöglich geworden. Wallensteins Ermordung 1634 änderte daran nichts mehr, denn man fand für ihn keinen Ersatz.

Und eben jetzt wären die Umstände noch einmal günstig gewesen, denn 1640 brach in Spanien, Frankreich und England der Entscheidungskampf zwischen Staatsgewalt und Ständen aus. Gegen Olivarez erhoben sich die Cortes in fast allen Provinzen. Portugal und damit Indien und Afrika gingen für immer verloren; Neapel und Katalonien konnten erst nach Jahren wieder unterworfen werden. In England muß – ganz wie im Dreißigjährigen Kriege – der Verfassungskampf zwischen dem Königtum und der im Unterhaus herrschenden Gentry von der religiösen Seite der Revolution sorgfältig getrennt werden, so tief die beiden Tendenzen sich auch durchdringen. Aber der wachsende Widerstand, den Cromwell gerade in der Unterklasse gefunden hat und der ihn ganz gegen seinen Willen in eine Militärdiktatur hineintrieb, und dann die Volkstümlichkeit des zurückkehrenden Königtums beweisen, in welchem Grade der Sturz der Dynastie über alle Zwistigkeiten in religiösen Dingen hinaus durch ständische Interessen bewirkt war.

Als Karl I. hingerichtet wurde, kam es auch in Paris zum Aufstand, der die königliche Familie zur Flucht zwang. Man baute Barrikaden und rief die Republik aus (1649). Wäre der Kardinal von Retz Cromwell ähnlicher gewesen, so war ein Sieg der Ständepartei über Mazarin wohl möglich. Aber der Ausgang dieser großen abendländischen Krise ist durchaus vom Gewicht und Schicksal weniger Persönlichkeiten bestimmt und gestaltete sich deshalb so, daß in England allein die im Parlament vertretene Fronde den Staat und das Königtum ihrer Führung unterwarf und diesen Zustand in der »glorreichen Revolution« von 1688 dauernd begründet hat, so daß heute noch wesentliche Teile des alten Normannenstaates zu Recht bestehen. In Frankreich und Spanien siegte das Königtum unbedingt. In Deutschland wurde im Westfälischen Frieden für die große Fronde der Reichsfürsten gegen den Kaiser das englische, für die kleine Fronde den Landesfürsten gegenüber das französische Verhältnis durchgesetzt. Im Reich regieren die Stände, in deren Gebieten aber die Dynastie. Von da an war das Kaisertum wie das englische Königtum ein Name, umgeben mit Resten des spanischen Prunks aus dem frühen Barock; die Einzelfürsten und ebenso die führenden Familien der englischen Aristokratie erlagen dem Vorbild von Paris, und ihr Absolutismus kleinen Formats ist der Träger des Stils von Versailles geworden, politisch wie sozial. Damit war zugleich der Sieg des Hauses Bourbon über das Haus Habsburg entschieden, was schon im Pyrenäenfrieden von 1659 vor aller Welt zum Ausdruck kam.

Mit dieser Epoche war der im Dasein jeder Kultur als Möglichkeit angelegte Staat verwirklicht und eine Höhe des politischen Geformtseins erreicht, die nicht mehr überboten, aber auch nicht lange aufrecht erhalten werden konnte. Ein leiser herbstlicher Zug geht schon durch die Zeit, als Friedrich der Große in Sanssouci Tafel hielt. Es sind die Jahre, in welchen auch die großen Sonderkünste ihre letzte, zarteste, geistigste Reife erlangen, neben den Rednern der athenischen Agora Zeuxis und Praxiteles, neben dem Filigran der Kabinettsdiplomatie die Musik von Bach und Mozart.

Diese Kabinettspolitik ist selbst eine hohe Kunst geworden, ein artistischer Genuß für den, der seine Finger darin hatte, wundervoll in ihrer Feinheit und Eleganz, höflich, raffiniert, unheimlich in die Ferne wirkend, wo jetzt schon Rußland, die nordamerikanischen Kolonien, selbst die indischen Staaten angesetzt werden, um an ganz anderen Punkten der Erde durch das bloße Gewicht einer überraschenden Kombination Entscheidungen herbeizuführen. Es ist ein Spiel in strengen Regeln mit eröffneten Briefen und geheimen Vertrauten, mit Allianzen und Kongressen innerhalb eines Systems von Regierungen, das damals schon mit tiefbedeutendem Ausdruck das Konzert der Mächte genannt worden ist, voller noblesse und esprit, um die Worte der Zeit zu gebrauchen, eine Art, die Geschichte in Form zu halten, wie sie nie und nirgends sonst auch nur denkbar ist.

In der abendländischen Welt, deren Einflußgebiet jetzt schon mit der Erdoberfläche beinahe gleichbedeutend war, umfaßt die Zeit des absoluten Staates kaum eineinhalb Jahrhunderte, von 1660, wo im Pyrenäenfrieden das Haus Bourbon über Habsburg triumphiert und die Stuarts nach England zurückkehren, bis zu den Koalitionskriegen gegen die französische Revolution, in denen London über Paris siegt, oder dem Wiener Kongreß, auf welchem die alte Diplomatie des Blutes, nicht des Geldes, der Welt zum letzten Male ein großes Schauspiel gab. Das entspricht dem Zeitalter des Perikles in der Mitte zwischen erster und zweiter Tyrannis, und dem tschun-tsiu, »Frühling und Herbst«, wie die Chinesen die Zeit zwischen den Protektoren und den »Kämpfenden Staaten« nennen.

In dieser letzten Zeit vornehmer Politik in den Formen eines Herkommens, das Abstand besitzt, werden die Höhepunkte dadurch bezeichnet, daß die beiden habsburgischen Linien rasch nacheinander aussterben, und die diplomatischen wie die kriegerischen Ereignisse sich 1710 um die spanische, 1760 um die österreichische Erbfolge drängen.Der fünfzigjährige Abstand dieser kritischen Punkte, der sich in dem klaren geschichtlichen Aufbau des Barock besonders deutlich abhebt und auch in der Folge der drei Punischen Kriege erkennbar wird, deutet wieder darauf hin, daß die kosmischen Flutungen in Gestalt des menschlichen Lebens an der Oberfläche eines kleinen Gestirns nichts irgendwie für sich Bestehendes sind, sondern mit dem unendlichen Bewegtsein des Alls in tiefem Einklang stehen. In einem kleinen merkwürdigen Buch: R. Mewes, Die Kriegs- und Geistesperioden im Völkerleben und Verkündigung des nächsten Weltkrieges (1896) ist die Verwandtschaft dieser Kriegsperioden mit Perioden der Witterung, der Sonnenflecken und gewisser Planetenkonstellationen festgestellt und daraufhin ein großer Krieg für 1910–1920 angesetzt worden. Aber diese und zahllose ähnliche Zusammenhänge, die in den Bereich unsrer Sinne treten (vgl. Bd. II, S. 559f.), bergen ein Geheimnis, das wir zu ehren haben und nicht durch kausale Erklärungen oder mystische Gedankengespinste antasten sollten. Es ist der Höhepunkt auch des genealogischen Prinzips. Bella gerant alii, tu felix Austria nube – das war in der Tat eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Das Wort ist einst mit Beziehung auf Maximilian I. geprägt worden, aber das Prinzip erlangt erst jetzt seine höchste Wirkung. Die Kriege der Fronde gehen in Erbfolgekriege über, die im Kabinett beschlossen und mit kleinen Heeren kavaliermäßig und nach strengen Regeln ausgefochten werden. Es handelt sich um die Erbschaft der halben Welt, welche durch die habsburgische Heiratspolitik des frühen Barock zusammengekommen war. Der Staat ist noch immer fest in Form; der Adel ist loyal, Dienst- und Hofadel geworden; er führt die Kriege der Krone und organisiert die Verwaltung. Neben dem Frankreich Ludwigs XIV. entsteht in Preußen ein Meisterstück staatlicher Organisation. Der Weg vom Kampfe des Großen Kurfürsten mit seinen Ständen (1660) bis zum Tode Friedrichs des Großen, der Mirabeau 1786, drei Jahre vor dem Bastillesturm noch empfangen hat, ist genau derselbe und hat zur Schöpfung eines Staates geführt, der wie der französische in jedem Punkt das Gegenteil der englischen Gestaltung der Dinge ist.

Denn es steht anders im Reich und in England, wo die Fronde siegreich war und die Nation nicht absolut, sondern ständisch regiert wurde. Aber es besteht der gewaltige Unterschied, daß hier das Inseldasein den größten Teil der staatlichen Vorsorge ersetzte und der herrschende erste Stand, die Peers im Oberhaus wie die Gentry, die Größe Englands als selbstverständliches Ziel ihren Handlungen zugrunde legten, während im Reich die Oberschicht der Landesfürsten – mit dem Reichstag in Regensburg als Oberhaus bestrebt war, die von ihnen beherrschten zufälligen Fragmente der Nation zu »Völkern« zu erziehen und deren zerstreute »Vaterländer« so schroff als möglich gegeneinander abzugrenzen. An Stelle des Welthorizonts, der zur Zeit der Gotik vorhanden war, wurde hier ein Provinzhorizont in Tun und Denken gezüchtet. Die Idee der Nation selbst verfiel dem Reich der Träume, jener andern Welt nicht der Rasse, sondern der Sprache, nicht des Schicksals, sondern der Kausalität. Es entstand die Vorstellung und endlich die Tatsache des Volkes der Dichter und Denker, das sich eine Republik im Wolkenreiche der Verse und Begriffe gründete und zuletzt zu dem Glauben kam, daß Politik in idealem Schreiben, Lesen und Reden und nicht in Tat und Entschluß bestehe, so daß man sie noch heute mit dem Ausdruck von Gefühlen und Gesinnungen verwechselt.

In England war in der Tat mit dem Sieg der Gentry und der Declaration of rights von 1689 der Staat abgeschafft. Das Parlament hat damals Wilhelm von Oranien als König eingesetzt und später Georg I. und Georg II. an der Abdankung verhindert, und zwar im Standesinteresse. Das noch unter den Tudors ganz geläufige Wort state kommt außer Gebrauch, so daß man Ludwigs XIV.: » L'état c´est moi« und Friedrichs des Großen: »Ich bin der erste Diener meines Staates« heute nicht mehr ins Englische übersetzen kann. Dagegen bürgert sich society ein als Ausdruck dafür, daß die Nation ständisch, nicht staatlich in Form ist, ein Wort, das mit bezeichnendem Mißverständnis von Rousseau und überhaupt von den Rationalisten des Festlandes übernommen wird, um dem Haß des dritten Standes gegen die Autorität zu dienen.Hierzu und zum Folgenden »Preußentum und Sozialismus«, S. 31 ff. Aber die Autorität ist in England als government sehr nachdrücklich ausgeprägt und sie wird verstanden. Ihr Mittelpunkt liegt seit Georg I. in dem verfassungsmäßig gar nicht vorhandenen Kabinett als dem regierenden Ausschuß der gerade herrschenden Adelsfaktion. Der Absolutismus ist vorhanden, aber er ist der einer Standesvertretung. Der Begriff der Majestätsbeleidigung wird auf das Parlament übertragen, wie die Unverletzlichkeit der römischen Könige auf die Tribunen. Auch das genealogische Prinzip ist da, aber es kommt in den Familienbeziehungen innerhalb des hohen Adels zum Ausdruck, welche auf die parlamentarische Lage einwirken. Im Familieninteresse der Cecils hat 1902 Salisbury seinen Neffen Balfour an Stelle Chamberlains als Nachfolger vorgeschlagen. Die Adelsfaktionen der Tories und Whigs sondern sich immer deutlicher, und zwar sehr oft innerhalb derselben Familie, nach dem Überwiegen des Macht- oder des Beutestandpunktes, nach der höheren Wertschätzung von Grundbesitz also und von Geld,Landed und funded interest (J. Hatschek, Engl. Verfassungsgeschichte [1913]. S. 589 ff.). R. Walpole, der Organisator der Whigpartei (seit 1714), pflegte sich und den Staatssekretär Townshend als »die Firma« zu bezeichnen, die mit verschiedenen Inhabern bis 1760 unumschränkt regiert hat. was noch im 18. Jahrhundert innerhalb des höheren Bürgertums die Begriffe respectable und fashionable entstehen läßt, als zwei entgegengesetzte Auffassungen des Gentleman.

Die staatliche Sorge für alle ist unbedingt durch das Standesinteresse ersetzt, für das der einzelne Freiheit in Anspruch nimmt – das ist englische Freiheit –, aber das Inseldasein und der Aufbau der society haben Verhältnisse geschaffen, in welchen zuletzt jeder, der dazu gehört – ein wichtiger Begriff in einer Standesdiktatur –, sein Interesse in dem einer der beiden Adelsparteien vertreten findet.

Diese aus dem historischen Gefühl des abendländischen Menschen entspringende Beständigkeit der letzten, tiefsten und reifsten Form ist der Antike versagt. Die Tyrannis verschwindet. Die strenge Oligarchie verschwindet. Der Demos, den die Politik des 6. Jahrhunderts als Summe aller einer Polis zugehörigen Menschen geschaffen hatte, bricht in Adel und Nichtadel in ungeregelten Stößen hervor und beginnt einen Kampf, in den Staaten und zwischen den Staaten, in dem beide Parteien den Gegner auszurotten suchen, um nicht ausgerottet zu werden. Als Sybaris noch im Zeitalter der Tyrannis 511 von den Pythagoräern vernichtet wurde, wirkte das erste Ereignis dieser Art erschütternd auf die ganze antike Welt. Selbst im fernen Milet legte man Trauer an. Jetzt wird die Vertilgung einer Polis oder Partei so gewöhnlich, daß sich feste Sitten und Methoden ausbilden, entsprechend dem Schema der abendländischen Friedensschlüsse des späten Barock: ob man die Bewohner tötet oder als Sklaven verkauft, ob man die Häuser dem Erdboden gleichmacht oder als Beute austeilt. Der Wille zum Absolutismus ist da, und zwar seit den Perserkriegen überall, in Rom und Sparta so gut wie in Athen, aber die gewollte Enge der Polis, des politischen Punktes, und die gewollte Kurzfristigkeit ihrer Ämter und Ziele machen eine geordnete Entscheidung darüber unmöglich, wer »der Staat sein soll«.R. v. Pöhlmann, Griech. Geschichte (1914), S. 223–245. Jener Meisterschaft der mit Tradition gesättigten abendländischen Kabinettsdiplomatie tritt hier ein Dilettantismus entgegen, der nicht im zufälligen Mangel an Persönlichkeiten begründet ist – die waren vorhanden –, sondern allein in der politischen Form. Der Weg dieser Form von der ersten zur zweiten Tyrannis ist unverkennbar und entspricht ganz der Entwicklung in allen Spätzeiten, aber der spezifisch antike Stil ist die Unordnung, der Zufall, wie es in diesem am Augenblick haftenden Leben nicht anders sein kann.

Das wichtigste Beispiel dafür ist die Entwicklung Roms während des 5. Jahrhunderts, die bis jetzt auch deshalb so umstritten geblieben ist, weil man in ihr eine Beständigkeit suchte, die hier wie in allen antiken Staaten gar nicht vorhanden sein kann. Es kommt dazu, daß man diese Entwicklung wie etwas ganz Primitives behandelt, während in Wirklichkeit die Stadt der Tarquinier schon sehr fortgeschrittene Zustände besessen haben muß und das primitive Rom viel weiter zurückliegt. Die Verhältnisse des 5. Jahrhunderts sind klein gegenüber der Zeit Cäsars, aber nicht altertümlich. Allein da die schriftliche Überlieferung mangelhaft war – wie überall außer in Athen –, so hat der literarische Geschmack seit den Punischen Kriegen die Lücken mit Dichtung ausgefüllt, und zwar, wie das in der Zeit des Hellenismus nicht anders zu erwarten ist, mit idyllischer Altertümelei; man denke an Cincinnatus. Die moderne Forschung glaubt nichts mehr von diesen Geschichten, aber sie steht unter dem Eindruck des Geschmacks, in dem sie erfunden sind, und verwechselt ihn mit den Zeitumständen, um so mehr, als griechische und römische Geschichte wie zwei getrennte Welten behandelt werden und man nach schlechter Gewohnheit den Anfang der Geschichte mit dem Anfang der gesicherten Kunde von ihr gleichsetzt. Aber die Zustände von 500 v. Chr. sind nichts weniger als homerisch. Rom war unter den Tarquiniern, wie der Umfang der Mauern beweist, neben Capua die größte Stadt Italiens und größer als das themistokleische Athen.Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. V, § 809. Wenn das Latein erst ganz spät, nach Alexander dem Großen, Literatursprache wird, so folgt daraus nur, daß unter den Tarquiniern der Gebrauch des Griechischen und Etruskischen allgemein üblich war, was sich für eine Stadt von dieser Größe und Lage, die mit Karthago in Beziehungen steht, mit Kyme gemeinsam Krieg führt und das Schatzhaus von Massalia in Delphi benützt, deren Maß- und Gewichtsordnung dorisch, deren Kriegswesen sizilisch ist, und in der es eine große Fremdenkolonie gab, von selbst versteht. Livius (IX, 36) bemerkt nach alten Angaben, daß gegen 300 noch die römischen Knaben ebenso in etruskischer Bildung erzogen wurden, wie später in griechischer. Die uralte Form Ulixes für Odysseus beweist, daß die homerische Heldensage hier nicht nur bekannt, sondern volkstümlich war (vgl. Bd. II, S. 909). Die Sätze des Zwölftafelrechts (um 450) stimmen mit den etwa gleichaltrigen des Rechts von Gortyn auf Kreta nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch so genau überein, daß den römischen Patriziern, welche sich damit befaßten, das Juristengriechisch ganz geläufig gewesen sein muß. Eine Stadt, mit der Karthago Handelsverträge schließt, ist keine Bauerngemeinde. Aber daraus folgt, daß die Bevölkerung der vier städtischen Tribus von 471 sehr stark und vielleicht größer gewesen ist als die der sechzehn räumlich unbedeutenden Landtribus zusammen.

Der große Erfolg des Grundadels, der im Sturz der sicherlich sehr volkstümlichen Tyrannis und in der Aufrichtung einer unumschränkten Senatsherrschaft lag, ist durch eine Gruppe gewaltsamer Ereignisse um 471 wieder vernichtet worden: den Ersatz der Geschlechtertribus durch die vier großen Stadtbezirke, deren Vertretung durch Tribunen, die sakrosankt sind, also ein Königsrecht besitzen, das keinem einzigen der adligen Verwaltungsämter zukommt, endlich die Befreiung der kleinen Bauernschaft aus der Klientel des Adels.

Das Tribunat ist die glücklichste Schöpfung dieser Zeit und damit der antiken Polis überhaupt. Es ist die Tyrannis zum integrierenden Bestandteil der Verfassung erhoben und zwar neben den oligarchischen Ämtern, die sämtlich fortbestehen. Aber damit ist auch die soziale Revolution in gesetzmäßige Formen geleitet, und während sie sich überall sonst in wilden Stößen entlud, ist sie hier zu einem Kampf auf dem Forum geworden, der sich im allgemeinen in den Grenzen von Redestreit und Abstimmung hielt. Man brauchte keinen Tyrannen auszurufen, denn er war da. Der Tribun besitzt Hoheitsrechte, kein Amtsrecht, und er konnte vermöge seiner Unverletzlichkeit revolutionäre Akte vollziehen, die in jeder andern Polis ohne Straßenkämpfe nicht denkbar waren. Diese Schöpfung ist ein Zufall, aber kein anderer hat den Aufstieg Roms in gleichem Grade unterstützt. Hier allein hat sich der Übergang von der ersten zur zweiten Tyrannis und die fernere Entwicklung noch über Zama hinaus ohne Katastrophen vollzogen, wenn auch nicht ohne Erschütterung. Der Tribun leitet von den Tarquiniern zu den Cäsaren hinüber. Mit der lex Hortensia von 287 wird er allmächtig: Es ist die zweite Tyrannis in verfassungsmäßiger Form. Im 2. Jahrhundert haben die Tribunen Konsuln und Censoren verhaften lassen. Die Gracchen waren Tribunen, Cäsar übernahm das beständige Tribunat, und im Prinzipat des Augustus ist diese Würde der wesentliche Bestandteil, der einzige, der ihm Hoheitsrechte verleiht.

Die Krise von 471 war allgemein antik und richtete sich gegen die Oligarchie, die auch jetzt noch innerhalb des von der Tyrannis geschaffenen Demos, der Gesamtheit aller Zugehörigen, den Ausschlag geben wollte. Es ist nicht mehr die Oligarchie als Stand gegenüber dem Nichtstand wie zur Zeit Hesiods, sondern als Partei gegenüber einer zweiten und zwar innerhalb des absoluten Staates, der schlechthin gegeben war. In Athen erfolgte 487 der Sturz der Archonten und die Übertragung ihrer Rechte an das Strategenkollegium.Diese Maßregel – eine Usurpation der Verwaltung durch das Volksheer entspricht der Einsetzung von Konsulartribunen in Rom durch die Militärunruhen von 438. 461 wurde der dem Senat entsprechende Areopag gestürzt. Auf Sizilien, das mit Rom in engem Verkehr stand, siegte die Demokratie 471 in Akragas, 465 in Syrakus, 461 in Rhegion und Messana. In Sparta haben die Könige Kleomenes (488) und Pausanias (470) vergeblich versucht, die Heloten, römisch gesprochen die Klientel, zu befreien und damit dem Königtum selbst den oligarchischen Ephoren gegenüber die Bedeutung des römischen Tribunats zu geben. Hier fehlt wirklich, was die Forschung in Rom nur übersieht, die Bevölkerung einer Verkehrsstadt, die solchen Bewegungen die Führung und die Wucht gibt, und daran ist endlich auch der große Helotenaufstand von 464 gescheitert, nach welchem vielleicht die römische Legende von einer Auswanderung der Plebs auf den heiligen Berg erfunden worden ist.

In einer Polis fallen Landadel und städtisches Patriziat zusammen – das ist, wir wir sahen, der Zweck des Synoikismos –, Bürger und Bauern aber nicht. Diese sind im Kampf gegen die Oligarchie eine einzige Partei, die demokratische nämlich, abgesehen davon aber sind es zwei. Das kommt in der nächsten Krise zum Ausdruck, in welcher das römische Patriziat um 450 seine Macht als Partei wieder herzustellen versucht. Denn so hat man die Einsetzung von Dezemvirn zu verstehen, mit welcher das Tribunat fortfiel; das Zwölftafelrecht, in welchem der eben erst zum politischen Dasein gelangten Plebs conubium und commercium versagt wurden, und vor allem die Schaffung der kleinen Landtribus, in denen der Einfluß der alten Geschlechter nicht rechtlich, aber tatsächlich vorherrschte, und die in den Tributkomitien, die jetzt neben die früheren Zenturiatkomitien traten, die unbedingte Stimmenmehrheit besaßen: 16 gegen 4. Damit war die Bürgerschaft durch das Bauerntum entrechtet, und das war sicherlich ein Schachzug der patrizischen Partei, welche die von ihr geteilte Abneigung des Landes gegen die Geldwirtschaft der Stadt in einem gemeinsamen Schlage wirksam machte.

Die Gegenwirkung erfolgte rasch und ist in der Zehnzahl von Tribunen erkennbar, welche nach dem Rücktritt der Dezemvirn erscheinen,Nach B. Niese. Daß das Dezemvirat zunächst als vorübergehendes Amt gedacht war, darin hat die moderne Forschung wohl recht; es fragt sich aber, welche Absichten die hinter ihm stehende Partei mit der Neuordnung der Ämter verband, und darüber muß es zu einer Krise gekommen sein. aber von diesem Ereignis sind der Tyrannisversuch des Sp. Maelius (439), die Einsetzung von Konsulartribunen durch das Heer an Stelle der Zivilbeamten (438) und die lex Canuleja (445), welche das Verbot des Conubiums zwischen Patriziern und Plebejern wieder aufhob, nicht zu trennen.

Daß es damals in Rom Faktionen unter Patriziern wie Plebejern gegeben hat, welche den Grundzug der römischen Polis, das Gegenüber von Senat und Tribunat antasten und je nachdem eine der beiden Größen beseitigen wollten, kann gar nicht zweifelhaft sein, aber diese Form war so glücklich geraten, daß sie nie ernsthaft in Frage gestellt worden ist. Mit der vom Heere durchgesetzten Zulassung der Plebs zum höchsten Staatsamt (399) nahm der Kampf eine ganz andere Richtung. Man kann das 5. Jahrhundert innerpolitisch als das des Ringens um die gesetzmäßige Tyrannis bezeichnen; von da an ist die polare Ordnung anerkannt und die Parteien kämpfen nicht mehr um die Aufhebung, sondern um die Eroberung der großen Ämter. Das ist der Inhalt der Revolution zur Zeit der Samnitenkriege. Mit dem Jahre 287 hat die Plebs den Zutritt zu allen Ämtern erlangt, und die von ihr genehmigten Anträge der Tribunen erhalten ohne weiteres Gesetzeskraft; andrerseits ist es von da an dem Senat praktisch immer möglich, wenigstens einen der Tribunen, etwa durch Bestechung, zur Interzession zu veranlassen und damit die Macht der Institution aufzuheben. In dem Ringen zweier Kompetenzen hat sich das juristische Feingefühl der Römer entwickelt. Während anderswo die Entscheidungen mit Fäusten und Knütteln üblich wurden – der technische Ausdruck dafür ist Cheirokratie –, gewöhnte man sich in der klassischen Zeit des römischen Staatsrechts, dem 4. Jahrhundert, an den Wettstreit der Begriffe und Interpretationen, in welchem die leiseste Unterscheidung im gesetzlichen Wortlaut den Ausschlag geben konnte.

Aber mit diesem Gleichgewicht von Senat und Tribunat stand Rom in der Antike ganz allein. Überall sonst gab es nicht ein Mehr oder Weniger, sondern ein Entweder-Oder, nämlich zwischen Oligarchie und Ochlokratie. Die absolute Polis und die mit ihr identische Nation waren gegeben, aber von inneren Formen stand nichts fest. Der Sieg einer Partei führte zur Beseitigung auch aller Institutionen der andern, und man gewöhnte sich daran, nichts für so ehrwürdig oder zweckmäßig zu halten, daß es über dem Kampf des Tages stünde. Sparta war, wenn man so sagen darf, in senatorischer, Athen in tribunizischer Form, und die Alternative war zu Beginn des Peloponnesischen Krieges (431) derart zur festen Meinung geworden, daß es andre als radikale Lösungen nicht mehr gab.

Damit war die Zukunft Roms gesichert. Es war der einzige Staat, in dem die politische Leidenschaft sich gegen Personen, nicht mehr gegen Institutionen richtete, der einzige, welcher fest in Form war– senatus populusque Romanus, das heißt Senat und Tribunat, ist die eherne Form, die keine Partei mehr angreift – während alle andern durch die Grenzen ihrer Machtentfaltung innerhalb der antiken Staatenwelt aufs neue beweisen, daß Innenpolitik lediglich da ist, um Außenpolitik möglich zu machen.


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