Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Zweiter Band
Oswald Spengler

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Zweites Kapitel: Städte und Völker

I. Die Seele der Stadt

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Am Ägäischen Meer liegen um die Mitte des zweiten Jahrtausends v. Chr. zwei Welten sich gegenüber, eine, die in dumpfen Ahnungen, hoffnungsschwer und trunken von Leid und Tat der Zukunft leise heranreift: die mykenische – und eine andere, die sich heiter und gesättigt hinlagert unter den Schätzen einer alten Kultur, fein und leicht, alle großen Probleme weit hinter sich: die minoische auf Kreta.

Wir werden diese Erscheinung, die eben heute in den Mittelpunkt der Forschung rückt, nie wirklich verstehen, wenn wir den Abgrund der Gegensätze nicht ermessen, der zwischen beiden Seelen liegt. Die Menschen von damals müssen ihn tief gefühlt, aber kaum »erkannt« haben. Ich sehe es vor mir: das ehrfürchtige Hinaufschauen der Burgbewohner von Tiryns und Mykene zu der unerreichten Geistigkeit der Lebensgewohnheiten in Knossos; die Verachtung, mit welcher dessen gepflegte Bevölkerung auf jene Häuptlinge und ihr Gefolge herabblickte; und doch wieder ein heimliches Gefühl von Überlegenheit bei diesen gesunden Barbaren, wie es jeder germanische Soldat den greisenhaften Würdenträgern Roms gegenüber hatte.

Woher wir das wissen dürfen? – Es gab mehr solcher Augenblicke, wo die Menschen zweier Kulturen sich ins Auge sahen. Wir kennen mehr als ein »zwischen den Kulturen«. Es kommen da Stimmungen zum Vorschein, welche zu den aufschlußreichsten der Menschenseele gehören. Wie ohne Zweifel zwischen Knossos und Mykene, so war auch das Verhältnis zwischen dem byzantinischen Hofe und den deutschen Großen, die wie Otto II. dorthin heirateten, das helle Verwundern der Ritter und Grafen, und als Antwort darauf das verächtliche Erstaunen einer feinen, etwas welken und müden Zivilisation über die bärenmäßige Morgenfrühe und Frische der deutschen Lande, wie es Scheffels Ekkehard beschreibt.

In Karl dem Großen tritt jene Mischung urmenschlichen Seelentums kurz vor dem Erwachen und einer späten darüber gelagerten Geistigkeit hell zutage. Wir können ihn nach gewissen Zügen seiner Herrschaft als den Kalifen von Frankistan bezeichnen; andererseits ist er noch der Häuptling eines germanischen Stammes; in der Mischung von beiden liegt das Symbolische der Erscheinung, wie in den Formen der Aachener Palastkapelle, die nicht mehr Moschee und noch nicht Dom ist. Die germanisch-abendländische Vorkultur schreitet unterdessen langsam und unterirdisch vor, aber jenes plötzliche Aufleuchten, das wir ungeschickt genug als karolingische Renaissance bezeichnen, kam durch einen Strahl von Bagdad her. Man übersehe nicht, daß die Zeit Karls des Großen eine Episode der Oberfläche ist. Mit ihm ist etwas gleich wieder zu Ende, etwas Zufälliges und Folgenloses. Nach 900, nach einer tiefen Senkung, beginnt etwas Neues, das mit der Wucht eines Schicksals und mit einer Tiefe, die Dauer verheißt, zur Wirkung gelangt. Aber um 800 ging die arabische Zivilisation von den Weltstädten des Orients wie eine Sonne über den Ländern auf, ganz wie einst die hellenistische, die ohne Alexander und sogar vor ihm ihren Glanz bis zum Indus warf. Alexander hat sie weder aufgeweckt noch ausgebreitet; er zog auf ihrer Bahn nach dem Osten und nicht an ihrer Spitze.

Was auf den Hügeln von Tiryns und Mykene steht, sind Pfalzen und Burgen nach urwüchsiger germanischer Art. Die kretischen Paläste – nicht Königsschlösser, sondern gewaltige Kultanlagen für eine zahlreiche Gemeinschaft von Priestern und Priesterinnen – sind mit einem weltstädtischen, wahrhaft spätrömischen Luxus ausgestattet. An den Fuß jener Burghügel drängen sich die Hütten der Ackerbürger und Hörigen; auf Kreta werden – wie in Gurnia und Hagia Triada – Städte und Villen ausgegraben, welche hochzivilisierte Bedürfnisse und eine Bautechnik mit langen Erfahrungen erkennen lassen, die mit den verwöhntesten Ansprüchen an Möbelform und Wanddekoration, mit Lichtschächten, Kanalisationsanlagen, Treppenhäusern und ähnlichen Aufgaben durchaus vertraut ist. Wir haben den Grundriß des Hauses dort als strenges Lebenssymbol, hier als Ausdruck einer raffinierten »Zweckmäßigkeit«. Man vergleiche diese kretischen Kamaresvasen und Fresken auf geglättetem Stuck mit allem echt Mykenischen. Das ist durch und durch Kunstgewerbe, fein und leer, und nicht etwa eine große und tiefe Kunst, von schwerer, unbeholfener Symbolik, wie sie dort dem geometrischen Stil entgegenreift. Es ist überhaupt kein Stil, sondern ein Geschmack.Das erkennt jetzt auch die Kunstforschung: A. v. Salis, Die Kunst der Griechen (1919), S. 3 ff. H.Th.Bossert, Alt-Kreta (1921), Einltg. In Mykene haust eine ursprüngliche Rasse, die ihre Sitze nach dem Bodenertrag und der Sicherheit vor Feinden wählt; die minoische Bevölkerung siedelt nach geschäftlichen Gesichtspunkten, wie es ganz deutlich die Stadt Philakopi auf Melos zeigt, die des Obsidianexports wegen angelegt wurde. Ein mykenischer Palast ist ein Versprechen, ein minoischer ist etwas Letztes. Aber ganz ebenso lagen um 800 die fränkischen und westgotischen Gehöfte und Edelsitze von der Loire bis zum Ebro, und südlich davon die maurischen Schlösser, Villen und Moscheen von Kordova und Granada.

Es ist gewiß kein Zufall, daß die Blüte des minoischen Luxus genau in die Zeit der großen ägyptischen Revolution, vor allem die HyksoszeitSiehe Tabelle I nach S. 70. fällt (1800–1550).D. Fimmen, Die kretisch-mykenische Kultur (1921), S. 210. Damals mögen die ägyptischen Kunsthandwerker auf die friedlichen Inseln und bis zu den Burgen des Festlandes geflüchtet sein, wie in einem späteren Falle die byzantinischen Gelehrten nach Italien. Denn das gehört zur Voraussetzung jedes Verständnisses: die minoische Kultur ist ein Bestandteil der ägyptischen. Wir würden das besser wissen, wenn nicht der entscheidende Teil der ägyptischen Kunstschöpfungen, alles was im westlichen Delta entstanden ist, der Feuchtigkeit des Bodens zum Opfer gefallen wäre. Wir kennen nur die ägyptische Kultur, soweit sie auf dem trockenen Boden des Südens blühte, aber es besteht längst kein Zweifel mehr, daß hier nicht der Schwerpunkt der Entwicklung gelegen hat.

Eine scharfe Grenze zwischen der alten minoischen und der jungen mykenischen Kunst läßt sich nicht ziehen. In der ganzen ägyptisch-kretischen Welt ist eine höchst moderne Liebhaberei für diese fremdartigen und primitiven Dinge zu bemerken, und umgekehrt haben die Heerkönige auf den Burgen des Festlandes die kretischen Kunstsachen, wo sie nur konnten, geraubt, gekauft und jedenfalls bewundert und nachgeahmt, wie ja auch der früher als urgermanisch gepriesene Völkerwanderungsstil seiner gesamten Formensprache nach orientalischer Herkunft ist.Dehio, Gesch. d. deutsch. Kunst (1919), S. 16 ff. Sie ließen ihre Pfalzen und Grabmäler von gefangenen oder herbeigerufenen Künstlern des Südens bauen und verzieren. Das »Atreusgrab« in Mykene stellt sich damit völlig neben das Grab Theoderichs in Ravenna.

Ein Wunder dieser Art ist Byzanz. Man muß hier sorgfältig Schicht um Schicht abheben, zuerst damals, als Konstantin 326 die von Septimius Severus zerstörte Großstadt als spätantike Weltstadt ersten Ranges wieder aufbaute und nun von Westen her apollinisches Greisentum, von Osten magische Jugend hereinströmte; und dann noch einmal, als 1096 vor den Mauern der jetzt spätarabischen Weltstadt die Kreuzfahrer unter Gottfried von Bouillon erschienen – von denen die geistreiche Anna Komnena in ihrem Geschichtswerk ein schonungslos verächtliches Bild entwirftDieterich, Byz. Charakterköpfe, S. 136 f. –, wo in die letzten Herbsttage dieser Zivilisation etwas Frühlingshaftes hereinbricht. Diese Stadt hat als die östlichste der antiken Zivilisation die Goten, und ein Jahrtausend später als die nördlichste der arabischen die Russen bezaubert: da steht die gewaltige Basiliuskathedrale in Moskau von 1554, die russische Vorkultur einleitend, »zwischen den Stilen«, wie über einen Raum von zwei Jahrtausenden hinweg der salomonische Tempel zwischen der Weltstadt Babylon und dem frühen Christentum.


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