Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Zweiter Band
Oswald Spengler

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Diese Erschütterung bedeutet den Sieg des Staates über den Stand. Dem Lehnswesen lag das Gefühl zugrunde, daß Alle um eines »Lebens« willen da seien, das mit Bedeutung geführt wurde. Die Geschichte erschöpfte sich in den Schicksalen adligen Blutes. Jetzt bricht ein Gefühl hervor, daß es noch etwas gibt, dem auch der Adel untersteht und zwar in Gemeinschaft mit allem andren, sei es Stand oder Beruf, etwas Ungreifbares, eine Idee. Die unbeschränkte privatrechtliche Auffassung der Ereignisse geht in eine staatsrechtliche über. Mag dieser Staat noch so sehr Adelsstaat sein, und das ist er fast ohne Ausnahme, mag sich äußerlich im Übergang vom Lehnsverband zum Ständestaat noch so wenig ändern, mag der Gedanke, daß es außerhalb der Urstände nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte gibt, noch so unbekannt sein – das Gefühl ist doch anders geworden, und das Bewußtsein, daß das Leben auf den Höhen der Geschichte da sei, um gelebt zu werden, ist dem andern gewichen, daß es eine Aufgabe enthält. Der Abstand wird sehr deutlich, wenn man die Politik Rainalds von Dassel († 1167), eines der größten deutschen Staatsmänner aller Zeiten, mit der Kaiser Karls IV. († 1378) vergleicht, und damit den entsprechenden Übergang von der antiken themis der Ritterzeit zur dike der werdenden Polis.V. Ehrenberg, Die Rechtsidee im früheren Griechentum (1921), S. 65 ff. Themis enthält nur einen Rechts anspruch, dike auch eine Aufgabe.

Der urwüchsige Staatsgedanke ist immer, mit einer bis tief in die Tierwelt hineinragenden Selbstverständlichkeit, mit dem Begriff des Einzelherrschers verbunden. Das ist ein Zustand, der sich für jede beseelte Menge in allen entscheidenden Lagen ganz von selbst einstellt, wie es jede öffentliche Zusammenrottung und jeder Augenblick einer plötzlichen Gefahr aufs neue beweisen.Vgl. Bd. II, S. 577. Solche Mengen sind gefühlte Einheiten, aber blind. »In Form« sind sie für die andrängenden Ereignisse nur in der Hand eines Führers, der plötzlich aus ihrer Mitte entsteht und eben aus der Einheit des Fühlens mit einem Schlage ihr Kopf wird und unbedingten Gehorsam findet. Das wiederholt sich in der Bildung der großen Lebenseinheiten, die wir Völker und Staaten nennen, nur langsamer und bedeutsamer, und es wird in den hohen Kulturen nur um eines großen Symbols willen und künstlich zuweilen durch andere Arten, in Form zu sein, ersetzt, aber so, daß unter der Maske dieser Formen doch tatsächlich so gut wie immer eine Einzelherrschaft besteht, und sei es die eines königlichen Ratgebers oder Parteiführers, und daß in jeder revolutionären Erschütterung der Urzustand wieder zurückkehrt. Mit dieser kosmischen Tatsache ist einer der innerlichsten Züge alles gerichteten Lebens verbunden, der Erbwille, der sich in jeder starken Rasse mit Naturgewalt meldet und selbst den Führer des Augenblicks oft ganz unbewußt zwingt, seinen Rang für die Dauer seines persönlichen Daseins oder darüber hinaus für das in seinen Kindern und Enkeln fortströmende Blut zu behaupten. Der gleiche, tiefe, durch und durch pflanzenhafte Zug beseelt jede wahre Gefolgschaft, die in der Dauer des führenden Blutes auch die eigne verbürgt und sinnbildlich vertreten sieht. Gerade in Revolutionen tritt dieses Urgefühl voll und stark und im Widerspruch mit allen Grundsätzen hervor; deshalb sah das Frankreich von 1800 in Napoleon und der Erblichkeit seiner Stellung die eigentliche Vollendung der Revolution. Theoretiker, die wie Rousseau und Marx von begrifflichen Idealen statt von den Tatsachen des Blutes ausgehen, haben diese ungeheure Macht innerhalb der geschichtlichen Welt nicht bemerkt und ihre Wirkungen deshalb als verwerflich und reaktionär bezeichnet; aber sie sind da und zwar mit einer so nachdrücklichen Gewalt, daß auch die Symbolik der hohen Kulturen sie nur künstlich und vorübergehend überwinden kann, wie es der Übergang antiker Wahlämter in den Besitz einzelner Familien und der Nepotismus der Barockpäpste beweisen. Hinter der Tatsache, daß die Führung sehr oft frei vergeben wird, und hinter dem Spruch, daß dem Tüchtigsten der erste Platz gehöre, verbirgt sich so gut wie immer die Rivalität der Mächtigen, die eine Erbfolge nicht grundsätzlich, aber tatsächlich verhindern, weil jeder sie insgeheim für sein Geschlecht in Anspruch nimmt. Auf diesem Zustand schöpferisch gewordener Eifersucht beruhen die Regierungsformen der antiken Oligarchie.

Beides zusammen ergibt den Begriff der Dynastie. Er ist so tief im Kosmischen begründet und so eng mit allen Tatsachen des geschichtlichen Lebens verflochten, daß die Staatsgedanken aller einzelnen Kulturen Abwandlungen dieses einen Prinzips sind, von dem leidenschaftlichen Ja der faustischen bis zum entschiedenen Nein der antiken Seele. Das Reifen der Staatsidee einer Kultur aber heftet sich schon an die heranwachsende Stadt. Nationen, historische Völker sind städtebauende Völker.Vgl. Bd. II, S. 762 f. Die Residenz wird statt der Burg und Pfalz der Mittelpunkt großer Geschichte, und in ihr geht das Gefühl des Ausübens von Macht – der themis – in das des Regierens – der dike – über. Hier wird der Lehnsverband innerlich durch die Nation überwunden, gerade auch im Bewußtsein des ersten Standes selbst, und hier erhebt sich die bloße Tatsache des Herrschertums zum Symbol der Souveränität.

Und so wird mit dem Sinken des Lehnswesens die faustische Geschichte dynastische Geschichte. Von kleinen Mittelpunkten, wo Fürstengeschlechter sitzen – »angestammt« sind, wie der erdhafte, an Pflanze und Eigentum gemahnende Ausdruck lautet –, geht die Bildung von Nationen aus, die streng ständisch gegliedert sind, aber so, daß der Staat das Dasein des Standes bedingt. Das schon im Lehnsadel und in den Bauerngeschlechtern waltende genealogische Prinzip, der Ausdruck des Weitengefühls und des Willens zur Geschichte, ist so stark geworden, daß die Entstehung von Nationen über die mächtigen Bindungen von Sprache und Landschaft hinaus vom Schicksal regierender Häuser abhängig wird; Erbfolgeordnungen wie das salische Gesetz, Urkundenbücher, in denen man die Geschichte des Blutes nachlas, Heiraten und Todesfälle trennen oder verschmelzen das Blut ganzer Bevölkerungen.Vgl. Bd. II, S. 774 ff. Weil es nicht zur Bildung einer lothringischen und burgundischen Dynastie kam, sind auch die beiden im Keim schon angelegten Nationen nicht zur Entwicklung gekommen. Das Verhängnis über dem Hohenstaufengeschlecht hat in Deutschland und Italien die Kaiserkrone und mit ihr die einheitliche deutsche und italienische Nation zu einer tiefen Sehnsucht durch Jahrhunderte hin gemacht, während das Haus Habsburg nicht eine deutsche, sondern eine österreichische Nation hat entstehen lassen.

Ganz anders gestaltet sich das dynastische Prinzip aus dem Höhlengefühl der arabischen Welt. Der antike Prinzeps, der legitime Nachfolger der Tyrannen und Tribunen, ist die Verkörperung des Demos. Wie Janus die Tür, Vesta der Herd, so ist der Cäsar das Volk. Es ist die letzte Schöpfung orphischer Religiosität. Magisch ist demgegenüber der Dominus et Deus, der Schah, der des himmlischen Feuers teilhaftig geworden ist (des hvareno im mazdaistischen Sassanidenreich und danach der Strahlenkrone, der Aureole im heidnischen und christlichen Byzanz), das ihn umstrahlt und ihn pius felix und invictus macht: dies die offiziellen Titel seit Commodus.F. Cumont, Mysterien der Mithra (1910), S. 74 ff. Die Sassanidenregierung, die um 300 vom Lehnswesen zum Ständestaat überging, ist in jeder Beziehung das Vorbild von Byzanz geworden, im Zeremoniell, im ritterlichen Kriegswesen, in der Verwaltung und vor allem im Typus des Herrschers. Vgl. auch A. Christensen, L'empire des Sassanides, le peuple, l'état, la cour (Kopenhagen 1907). Im dritten Jahrhundert hat sich in Byzanz im Typus des Herrschers derselbe Übergang vollzogen wie in der Rückbildung des augustischen Beamtenstaates zum diokletianischen Lehnsstaat. »Die Neuschöpfung, welche Aurelian und Probus begonnen, Diokletian und Konstantin auf den Trümmern ausgeführt haben, steht dem Altertum und dem Prinzipat bereits ungefähr ebenso fern wie das Reich Karls des Großen.«Ed. Meyer, Kl. Schriften, S. 146. Der magische Herrscher regiert den sichtbaren Teil des allgemeinen consensus der Rechtgläubigen, der Kirche, Staat und Nation zugleich ist,Vgl. Bd. II, S. 854f. wie es Augustin in seinem Gottesstaat beschrieben hat; der abendländische Herrscher ist von Gottes Gnaden Monarch innerhalb der geschichtlichen Welt; sein Volk ist ihm Untertan, weil Gott es ihm verliehen hat. In Sachen des Glaubens aber ist er selbst Untertan, nämlich entweder der des irdischen Stellvertreters Gottes oder der seines Gewissens. Das ist die Trennung von Staatsgewalt und Kirchengewalt, der große faustische Konflikt zwischen Zeit und Raum. Als im Jahre 800 der Papst den Kaiser krönte, wählte er sich einen neuen Gebieter, um selbst zu wachsen. Der Kaiser in Byzanz war nach magischem Weltgefühl sein Herr auch im Geistigen; der im Frankenland war in religiösen Dingen sein Diener, in weltlichen – vielleicht – sein Arm. Das Papsttum konnte als Idee nur durch die Trennung vom Kalifat entstehen, denn im Kalifen ist der Papst enthalten.

Die Wahl des magischen Herrschers kann aber eben deshalb nicht durch ein genealogisches Erbfolgegesetz festgelegt sein; sie erfolgt aus dem consensus der herrschenden Blutsgemeinschaft, aus dem der heilige Geist spricht und den Erkorenen bezeichnet. Als Theodosius 450 starb, reichte eine Verwandte, die Nonne Pulcheria, dem greisen Senator Markianos formell die Hand, um durch die Aufnahme dieses Staatsmannes in den Familienverband ihm den Thron und damit der »Dynastie« die Fortdauer zu sichern,Krumbacher, Byz. Literaturgesch., S. 918. und das ist wie zahlreiche verwandte Akte auch im Sassaniden- und Abbassidenhause wie ein höherer Wink betrachtet worden.

In China war der mit dem Lehnswesen fest verbundene Kaisergedanke der frühesten Dschouzeit schnell ein Traum geworden, in dem sich bald und zwar mit steigender Deutlichkeit auch die ganze Vorwelt in Gestalt von drei Dynastien und einer Reihe noch älterer Sagenkaiser spiegelte.Auf die Ausgestaltung dieses Bildes wirft die Tatsache ein helles Licht, daß die Nachkommen der angeblich gestürzten Dynastien Hia und Schang in den Staaten Ki und Sung während der ganzen Dschouzeit herrschten (Schindler, Das Priestertum im alten China I, S. 39). Das beweist erstens, daß das Bild des Kaisertums auf eine frühere und vielleicht sogar gleichzeitige Machtstellung dieser Staaten zurückgespiegelt worden ist, vor allem aber, daß Dynastie auch hier nicht die uns geläufige Größe ist, sondern einen ganz anderen Familienbegriff voraussetzt. Damit vergleichbar ist die Fiktion, daß der deutsche König, der stets auf fränkischem Boden gewählt und in der Grabkapelle Karls des Großen gekrönt wird, als »Franke« gilt, woraus unter andern Umständen sich die Vorstellung einer Frankendynastie von Karl bis Konradin hätte entwickeln können (K. v. Amira, Germ. Recht, bei Herm. Paul, Grundriß III, S. 147 Anm.). Seit der konfuzianischen Aufklärung ist dieses Bild dann zur Grundlage einer Staatstheorie gemacht und noch später von den Cäsaren benützt worden, vgl. Bd. II, S. 946f. Für die Dynastien des nun heranwachsenden Staatensystems aber, in dem der Titel Wang, König, zuletzt ganz allgemein üblich wird, bildeten sich strenge Thronfolgeordnungen heraus, und die der Frühzeit ganz fremde Legitimität wird eine Macht,O. Franke, Stud. z. Gesch. d. Konf. Dogmas, S. 247, 251. die in dem Aussterben einzelner Linien, in Adoptionen und Mißheiraten wie im abendländischen Barock Anlässe zu zahllosen Erbfolgekriegen findet.Ein bezeichnendes Beispiel ist die als gesetzwidrig bestrittene Personalunion der Staaten Ki und Tseng bei Franke, S. 251. Ein Legitimitätsprinzip liegt sicherlich auch der seltsamen Tatsache zugrunde, daß die Herrscher der 12. Dynastie Ägyptens, mit welcher die Spätzeit endet, ihre Söhne schon zu Lebzeiten krönen lassenEd. Meyer, Gesch. d. Alt. I, § 281. ; die innere Verwandtschaft dieser drei dynastischen Ideen ist wieder ein Beweis für die Verwandtschaft des Daseins in diesen Kulturen überhaupt.

Es bedarf eines tiefen Eindringens in die politische Formensprache der frühen Antike, um zu erkennen, daß die Entwicklung der Dinge hier ganz dieselbe ist und nicht nur den Übergang vom Lehnsverband zum Ständestaat, sondern sogar das dynastische Prinzip enthält. Aber das antike Dasein hat zu allem, was es zeitlich und räumlich in die Ferne zog, Nein gesagt und auch in der Tatsachenwelt der Geschichte sich rings mit Schöpfungen umstellt, denen etwas Defensives anhaftet. Indessen setzt doch all diese Enge und Kürze das voraus, wogegen sie aufrecht erhalten werden soll. Die dionysische Vergeudung und die orphische Verneinung des antiken Leibes enthält gerade in der Form dieses Protestes das apollinische Ideal des vollkommenen leiblichen Seins.

Die Einzelherrschaft und der Erbwille waren im frühesten Königtum unzweideutig gegeben,G. Busolt, Griechische Staatskunde (1920), S. 319ff. Wenn U. v. Wilamowitz (Staat und Gesellschaft der Griechen, 1910, S. 53) das patriarchalische Königtum bestreitet, so verkennt er den gewaltigen Abstand des in der Odyssee angedeuteten Zustandes des achten Jahrhunderts von dem des zehnten. aber schon um 800 fragwürdig geworden, wie die Rolle des Telemach in den älteren Teilen der Odyssee zeigt. Der Königstitel wird oft auch von großen Vasallen und den Angesehensten des Adels geführt. In Sparta und Lykien sind es zwei, in der Phäakenstadt des Epos und in manchen wirklichen Städten noch mehr. Dann kommt die Abspaltung der Ämter und Würden. Endlich wird das Königtum selbst ein Amt, das der Adel vergibt, erst vielleicht innerhalb der alten Königsfamilie wie in Sparta, wo die Ephoren als Vertreter des ersten Standes an keine Wahlordnung gebunden sind, und in Korinth, wo das Königsgeschlecht der Bakchiaden um 750 die Erblichkeit aufhebt und aus seiner Mitte jedesmal einen Prytanen mit Königsrang bestellt. Die großen Ämter, die zunächst ebenfalls erblich waren, werden lebenslänglich, dann auf Frist, endlich auf ein Jahr beschränkt und zwar so, daß bei einer Mehrzahl von Inhabern auch noch ein regelmäßiger Wechsel der Führung eintritt, was bekanntlich den Verlust der Schlacht von Cannä veranlaßt hat. Diese Jahresämter, von der etruskischen JahresdiktaturA. Rosenberg, Der Staat der alten Italiker (1913), S. 75 f. bis zum dorischen Ephorat, das auch in Herakleia und Messene vorkommt, sind mit dem Wesen der Polis fest verbunden und erreichen ihre volle Ausbildung um 650 gerade dann, als im abendländischen Ständestaat gegen Ende des 15. Jahrhunderts die dynastische Erbgewalt durch Kaiser Maximilian I. und seine Heiratspolitik – den Wahlansprüchen der Kurfürsten gegenüber –, durch Ferdinand von Aragonien, Heinrich VII. Tudor und Ludwig XI. von Frankreich gesichert war.Ständische Parteien waren auch die beiden großen Genossenschaften in Byzanz, die ganz falsch als »Zirkusparteien« bezeichnet werden. Diese in Syrien entstandenen Blauen und Grünen nannten sich Demoi und hatten ihre Vorstände. Der Zirkus war wie 1789 das Palais Royal nur der Ort der öffentlichen Kundgebungen, und hinter diesen stand die Ständeversammlung des Senats. Als Anastasius I. 520 die monophysitische Richtung zur Geltung brachte, sangen die Grünen dort tagelang orthodoxe Hymnen und zwangen den Kaiser zur öffentlichen Abbitte. Das abendländische Seitenstück dazu bilden die Pariser Parteien unter den »drei Heinrichen« (1580), die Guelfen und Ghibellinen in dem Florenz Savonarolas und vor allem die aufständischen Faktionen in Rom unter Papst Eugen IV. Die Niederschlagung des Nikaaufstandes 532 durch Justinian endet dann auch mit der Begründung des staatlichen Absolutismus gegenüber den Ständen.

Aber durch die zunehmende Beschränkung auf das Jetzt und Hier war gleichzeitig das Priestertum aus den Ansätzen zu einem Stande eine bloße Summe staatlicher Ämter geworden; die Residenz des homerischen Königtums, statt den Mittelpunkt eines nach allen Seiten ins Weite strebenden Staatswesens zu bilden, zieht ihren Bannkreis zusammen, bis Staat und Stadt identisch sind. Aber damit fallen auch Adel und Patriziat zusammen, und da die Vertretung der frühen Städte auch in gotischer Zeit, im englischen Unterhaus wie in den französischen Generalständen ausschließlich eine solche der Patrizier ist, so stellt sich der mächtige antike Ständestaat nicht der Idee, aber den Tatsachen nach als reiner, königloser Adelsstaat dar. Diese streng apollinische Form der werdenden Polis heißt Oligarchie.

Und so stehen am Ausgang beider Frühzeiten das faustisch-genealogische und das apollinisch-oligarchische Prinzip nebeneinander, zwei Arten von staatlichem Recht, von dike, die eine von unermeßlichem Weitengefühl getragen, mit einer urkundlichen Tradition tief in die Vergangenheit zurückreichend und mit dem gleichen Willen zur Dauer auf die entlegenste Zukunft bedacht, in der Gegenwart aber auf die politische Wirkung im weiten Räume, durch planvolle dynastische Heiraten und durch jene echt faustische, dynamische, kontrapunktische Politik der Ferne, die wir Diplomatie nennen; die andre ganz körperhaft und statuenhaft und sich durch die Politik der Autarkeia auf die strengste Nähe und Gegenwart beschränkend, überall da schroff ablehnend, wo das abendländische Dasein bejaht.

Der dynastische wie der Stadtstaat setzen die Stadt selbst voraus, aber während die westeuropäischen Regierungssitze oft bei weitem nicht die größten Orte des Landes sind, sondern Mittelpunkte eines Kraftfeldes politischer Spannungen, in dem jedes Ereignis an noch so entfernter Stelle mit einem fühlbaren Zittern das Ganze durchläuft, drängt sich in der Antike das Leben immer enger zusammen und gelangt so zu der grotesken Erscheinung des Synoikismos. Es ist der Gipfel des euklidischen Formwollens innerhalb der politischen Welt. Man kann sich den Staat nicht denken, solange nicht die Nation auf einem Haufen, als ein Leib ganz körperlich zusammensitzt; man will ihn sehen, sogar übersehen, und während die faustische Tendenz dahin geht, die Zahl der dynastischen Mittelpunkte immer mehr zu verringern, und schon Maximilian I. eine genealogisch gesicherte Universalmonarchie seines Hauses in der Ferne auftauchen sah, zerfällt die antike Welt in zahllose solcher winzigen Punkte, die, sobald sie vorhanden sind, in das für antike Menschen beinahe denknotwendige Verhältnis der wechselseitigen Vernichtung als des reinsten Ausdrucks der Autarkeia eintreten.Daraus ergibt sich ein doppelter Siedlungsbegriff. Während z. B. die preußischen Könige Ansiedler in ihr Land riefen wie die Salzburger Protestanten und die französischen Refugiés, hat Gelon von Syrakus um 480 die Bevölkerung ganzer Städte zwangsweise nach Syrakus geführt, das damit plötzlich die erste Großstadt der Antike wurde.

Der Synoikismos und damit die Begründung der eigentlichen Polis ist ausschließlich ein Werk des Adels, der für sich allein den antiken Ständestaat darstellte und diesen also durch Zusammenziehung von Landadel und Patriziat in Form brachte, wobei die Berufsklassen ohnehin am Orte waren und der Bauer im Ständesinne nicht mitzählte. Durch die Sammlung der adligen Macht an einem Punkte ist das Königtum der Lehnszeit gebrochen worden.

Auf Grund dieser Einblicke darf der Versuch gewagt werden, die Urgeschichte Roms unter allem Vorbehalt zu zeichnen. Der römische Synoikismos, eine örtliche Zusammenfassung verbreiteter adliger Geschlechter, ist identisch mit der »Gründung« Roms, einem etruskischen Unternehmen wahrscheinlich am Anfang des 7. Jahrhunderts,Aus dieser Zeit stammen die in Gräbern am Esquilin gefundenen griechischen Lekythen. während schon lange vorher zwei Ansiedlungen auf dem Palatin und Quirinal gegenüber der Königsburg des Capitols bestanden hatten. Zur ersten gehört die uralte Göttin Diva RuminaWissowa, Religion der Römer, S. 242. und das etruskische Geschlecht der Ruma,W. Schulze, Zur Geschichte lateinischer Eigennamen, S. 379 ff., 580 f. zur zweiten der Gott Quirinus pater. Von daher stammen der Doppelname Römer und Quiriten und die doppelten Priestertümer der Salier und Luperci, die an den beiden Hügeln haften. Da die drei Geschlechtertribus der Ramnes, Tities und Luceres sich sicherlich durch alle etruskischen Orte zogen,Vgl. Bd. II, S. 994. so müssen sie hier wie dort vorhanden gewesen sein, und daraus erklären sich nach vollzogenem Synoikismos die Sechszahl der Reiterzenturien, der Kriegstribunen und der hochadligen Vestalinnen, aber andrerseits auch die beiden Prätoren oder Konsuln, die dem Königtum schon früh als Vertreter des Adels zur Seite gestellt wurden und ihm allmählich jeden Einfluß entzogen. Schon um 600 muß die Verfassung Roms eine starke Oligarchie der Patres mit einem SchattenkönigtumDas kommt auch in dem Verhältnis des Pontifex maximus zum Rex sacrorum zum Ausdruck. Dieser gehört mit den drei großen Flamines zum Königtum; die Pontifices und die Vestalinnen gehören zum Adel. an der Spitze gewesen sein, aber daraus folgt wieder, daß die alte Annahme einer Vertreibung der Könige und die moderne eines langsamen Abbaus der Königsgewalt nebeneinander zu Recht bestehen, denn die eine bezieht sich auf den Sturz der tarquinischen Tyrannis, die um die Mitte des 6. Jahrhunderts wie damals überall gegen die Oligarchie aufgerichtet worden war, in Athen durch Peisistratos, die andere auf die langsame Auflösung der Lehnsgewalt des, man darf auch hier sagen homerischen Königtums vor der »Gründung« durch den Ständestaat der Polis, eine Krise, die hier vielleicht durch das Hervortreten der Prätoren ebenso bezeichnet wurde wie anderswo durch das der Archonten und Ephoren.

Diese Polis ist streng adlig wie der abendländische Ständestaat (dieser einschließlich des höheren Klerus und der Städtevertreter). Der Rest der Zugehörigen ist schlechthin Objekt – der politischen Sorge, hier also der Sorglosigkeit. Denn Carpe diem ist der Wahlspruch gerade auch dieser Oligarchie, wie die Lieder des Theognis und des Kreters Hybrias laut genug verkünden; in der Finanzwirtschaft, die bis in die spätesten Zeiten der Antike mehr oder weniger gesetzloser Raub geblieben ist, um die Mittel für den Augenblick zu beschaffen, von dem organisierten Piratentum des Polykrates seinen eigenen Untertanen gegenüber bis zu den Proskriptionen der römischen Triumvirn; in der Rechtssetzung bis zu der mit beispielloser Konsequenz auf den Augenblick gerichteten Ediktalgesetzgebung des einjährigen römischen Prätors;Vgl. Bd. II, S. 628 ff. endlich in der sich immer mehr verbreitenden Sitte, gerade die wichtigsten Heeres-, Rechts- und Verwaltungsämter durch das Los zu besetzen – eine Art Huldigung an Tyche, die Göttin des Augenblicks.

Ausnahmen von dieser Art, politisch in Form zu sein und entsprechend zu fühlen und zu denken, gibt es nicht. Die Etrusker sind von ihr ebenso beherrscht wie die Dorer und Makedonier.Vgl. Bd. II, S. 765 f. Wenn Alexander und seine Nachfolger den Osten weithin mit hellenistischen Städten bedeckten, so geschah es ganz unbewußt auch deshalb, weil sie sich eine andere Form der politischen Organisation nicht vorstellen konnten. Antiochia sollte Syrien sein und Alexandria Ägypten. Und in der Tat war Ägypten unter den Ptolemäern wie später unter den Cäsaren nicht rechtlich, aber tatsächlich eine Polis in ungeheurem Maßstabe; das längst fellachenhafte und wieder stadtlose Land lag mit seiner uralten Verwaltungstechnik als Feldmark vor den Toren.Das ist deutlich zu ersehen aus Wilcken, Grundzüge der Papyruskunde (1912), S. 1 ff. Das römische Imperium ist nichts als der letzte und größte Stadtstaat der Antike auf Grund eines riesenhaften Synoikismos. Der Redner Aristides konnte unter Marc Aurel mit vollem Recht sagen (in seiner Rede auf Rom): »Rom hat diese Welt im Namen einer Stadt zusammengefaßt. Wo man auch in ihr geboren sein mag, man wohnt doch in ihrer Mitte.« Aber auch die unterworfene Bevölkerung, wandernde Wüstenstämme und die Bewohner kleiner Alpentäler, werden als civitates konstituiert. Livius denkt durchaus in den Formen des Stadtstaates, und für Tacitus ist die Provinzialgeschichte überhaupt nicht vorhanden. Pompejus war im Jahre 49 verloren, als er vor Cäsar zurückwich und das militärisch bedeutungslose Rom preisgab, um sich im Osten eine Operationsbasis zu schaffen. In den Augen der herrschenden Gesellschaft hatte er damit den Staat preisgegeben. Rom war ihnen alles.Ed. Meyer, Cäsars Monarchie (1918), S. 308.

Diese Stadtstaaten sind der Idee nach nicht erweiterungsfähig; ihre Zahl kann wachsen, nicht ihr Umfang. Es ist nicht richtig, wenn man den Übergang der römischen Klientel in die stimmberechtigte Plebs und die Schaffung der ländlichen Tribus als Durchbrechung des Polisgedankens auffaßt. Es ist hier wie in Attika: Das gesamte Leben des Staates, der res publica bleibt nach wie vor auf einen Punkt beschränkt und dieser ist die Agora, das römische Forum. Mag das Bürgerrecht an noch so viele Fernwohnende verliehen sein, zur Zeit Hannibals weithin in Italien und später in der ganzen Welt, zur Ausübung der politischen Seite dieses Rechts ist die persönliche Gegenwart auf dem Forum erforderlich. Damit ist die große Mehrzahl der Bürger nicht gesetzlich, aber tatsächlich ohne Einfluß auf die politischen Geschäfte.Plutarch und Appian beschreiben die Menschenmasse, die auf allen Straßen Italiens zur Abstimmung über die Gesetze des Ti. Gracchus nach Rom wandert. Aber daraus geht hervor, daß dergleichen noch nie dagewesen war, und gleich nach seinem Gewaltschritt gegen Oktavius sieht Gracchus den Untergang vor Augen, weil die Menge wieder nach Hause geströmt und nicht zum zweiten Male zusammenzubringen ist. Zur Zeit Ciceros bestanden die Komitien oft nur in der Besprechung einiger Politiker, ohne daß sonst jemand teilnahm; aber nie ist einem Römer der Gedanke gekommen, die Abstimmung an den Wohnort der einzelnen zu verlegen, auch nicht den für ihr Bürgerrecht kämpfenden Italikern (90 v. Chr.), so stark war das Gefühl der Polis. Das Bürgerrecht bedeutet also für sie lediglich die Dienstpflicht und den Genuß des städtischen Privatrechts.In den abendländischen Dynastiestaaten gilt das Privatrecht für deren Gebiet und also für alle darin Anwesenden ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit. Aber selbst für die nach Rom kommenden Bürger ist die politische Macht durch einen zweiten, künstlichen Synoikismos beschränkt, der sich erst nach und infolge der Bauernbefreiung vollzogen hat – sicherlich ganz unbewußt –, um die Idee der Polis streng aufrecht zu erhalten: die Neubürger werden ohne Rücksicht auf ihre Zahl in ganz wenige Tribus eingeschrieben, nach der lex Julia in acht, und sind in den Komitien deshalb stets in der Minderheit gegenüber der alten Bürgerschaft.

Denn diese Bürgerschaft wird durchaus als ein Leib empfunden, als soma. Wer nicht dazu gehört, ist rechtlos, hostis. Die Götter und Heroen stehen oberhalb, der Sklave, der nach Aristoteles kaum ein Mensch zu nennen ist, unterhalb dieser Gesamtheit von Personen.Vgl. Bd. II, S. 624 f. Der einzelne aber ist æ?ïí ðïëéôéêüí

in einem Sinne, der uns aus dem Weitengefühl Denkenden und Lebenden als Inbegriff von Sklaverei erscheinen würde; er existiert nur vermöge seiner Zugehörigkeit zu einer einzelnen Polis. Infolge dieses euklidischen Gefühls war zuerst der Adel als festgeschlossenes soma mit der Polis gleichbedeutend, bis zu dem Grade, daß noch im Zwölftafelrecht die Ehe zwischen Patriziern und Plebejern verboten war und in Sparta die Ephoren nach alter Sitte bei ihrem Amtsantritt eine Kriegserklärung gegen die Heloten erließen. Das Verhältnis kehrt sich um, ohne seinen Sinn zu verändern, sobald infolge einer Revolution der Demos gleichbedeutend mit den Nichtadligen wird. Und wie nach innen, so ist nach außen das politische soma die Grundlage aller Ereignisse durch die ganze antike Geschichte hindurch. Zu Hunderten lagen diese kleinen Staaten auf der Lauer, jeder nach Möglichkeit politisch und wirtschaftlich in sich abgeschlossen, bissig, auf den geringsten Anlaß losfahrend, um einen Kampf zu beginnen, dessen Ziel nicht die Ausdehnung des eignen Staates ist, sondern die Vernichtung des fremden: die Stadt wird zerstört, die Bürgerschaft getötet oder in die Sklaverei verkauft, genau wie eine Revolution

Im Stadtstaat aber ist die Geltung des Privatrechts für den einzelnen erst eine Folge des Bürgerrechts. Die civitas bedeutet deshalb unendlich viel mehr als die moderne Staatsangehörigkeit, denn ohne sie ist der Mensch rechtlos und als Person nicht vorhanden. damit endet, daß die Unterliegenden erschlagen oder vertrieben werden und ihre Habe der siegreichen Partei zufällt. Der natürliche zwischenstaatliche Zustand ist in der abendländischen Welt ein dichtes Netz diplomatischer Beziehungen, die durch Kriege unterbrochen werden können. Das antike Völkerrecht setzt aber den Krieg als normalen Zustand voraus, der durch Friedensverträge zeitweise unterbrochen wird. Eine Kriegserklärung stellt hier also die natürliche politische Lage wieder her; erst so lassen sich die 40- und 50jährigen Friedensverträge, spondai, wie der berühmte des Nikias von 421 erklären, die lediglich eine vorübergehende Sicherheit gewährleisten sollen.

Diese beiden Staatsformen und damit die zugehörigen Stile der Politik sind mit dem Ausgang der Frühzeit gesichert. Der Staatsgedanke hat über den Lehnsverband gesiegt, aber vertreten wird er doch durch die Stände und nur als ihre Summe ist die Nation politisch vorhanden.


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