Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Zweiter Band
Oswald Spengler

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Hier stehen wir vor dem Lieblingsbegriff des modernen Geschichtsdenkens. Trifft ein Historiker heute auf ein Volk, das etwas geleistet hat, so ist er ihm gewissermaßen die Frage schuldig: von woher kam es? Es gehört zum Anstand eines Volkes, von irgendwoher gekommen zu sein und eine Urheimat zu haben. Daß es auch dort zu Hause sein könne, wo man es vorfindet, ist eine fast beleidigende Annahme. Wandern ist ein beliebtes Sagenmotiv ursprünglicher Menschheit, aber seine Anwendung in der ernsthaften Forschung ist nachgerade zu einer Manie geworden. Ob überhaupt die Chinesen nach China, die Ägypter nach Ägypten eingedrungen sind, danach wird nicht gefragt; nur das Wann und Woher steht in Frage. Man würde lieber die Semiten aus Skandinavien und die Arier aus Kanaan stammen lassen, als auf den Begriff einer Urheimat verzichten.

Nun liegt die Tatsache einer starken Bewegtheit aller frühen Bevölkerungen unzweifelhaft vor. Das Libyerproblem birgt ein solches Geheimnis. Die Libyer oder ihre Vorfahren sprachen hamitisch, waren aber körperlich, wie schon die altägyptischen Reliefs beweisen, hochgewachsen, blond und blauäugig und also zweifellos von nordeuropäischer Herkunft.C. Mehlis, Die Berberfrage (Archiv f. Anthropologie 39, S. 249 ff.), wo auch über die Verwandtschaft norddeutscher und mauretanischer Keramik und sogar vieler Fluß- und Bergnamen berichtet wird. Die alten Pyramidenbauten in Westafrika sind einerseits den nordischen Hünengräbern, andererseits den Königsgräbern des Alten Reiches nahe verwandt. (Einige Abbildungen bei L. Frobenius, Der kleinafrikanische Grabbau, 1916.) In Kleinasien sind wenigstens drei Wanderschichten seit 1300 gesichert, die vielleicht zu den Angriffen der nordischen »Seevölker« auf Ägypten in Beziehung stehen, und Ähnliches ist für die mexikanische Welt nachgewiesen. Aber wir wissen über das Wesen dieser Bewegungen gar nichts, und von Wanderungen, wie sie sich der Historiker heute gern vorstellt, wonach geschlossene Völker wie große Massenkörper die Länder durchziehen, einander verdrängen und bekämpfen, um sich zuletzt irgendwo festzusetzen, kann gewiß nicht die Rede sein. Es ist nicht die Veränderung an sich, sondern diese Vorstellung von ihr, welche unsere Ansichten vom Wesen der Völker verdorben hat. Völker im heutigen Sinne wandern nicht und was damals wanderte, bedarf einer sehr vorsichtigen Bezeichnung und verträgt nicht überall dieselbe. Auch das ewig wiederholte Motiv dieser Wanderzüge ist platt und des vorigen Jahrhunderts würdig: die materielle Not. Hunger hätte zu ganz anderen Versuchen geführt und ist sicherlich der letzte aller Gründe gewesen, der Rassemenschen aus ihrem Neste trieb – obwohl man es verstehen wird, daß er am häufigsten geltend gemacht wurde, wenn solche Scharen plötzlich auf ein militärisches Hindernis stießen. Es ist ohne Zweifel in diesen starken und einfachen Menschen der ursprüngliche mikrokosmische Drang nach Bewegung im weiten Räume gewesen, der sich aus tiefster Seele als Abenteuerlust, Wagemut, Schicksalszug, als Hang nach Macht und Beute erhob, als eine leuchtende Sehnsucht nach Taten, wie wir sie uns gar nicht mehr vorstellen können, nach fröhlichem Gemetzel und heldenmütigem Tod; oft wird es heimatlicher Zwist und Flucht vor der Rache des Stärkeren gewesen sein, aber stets etwas Männliches und Starkes. Und das steckte an. Der war ein Feigling, der auf seinem Gute sitzen blieb. Oder sind etwa noch die Kreuzzüge, die Fahrten des Cortez und Pizarro und noch in unseren Zeiten die Abenteuer der Trapper im wilden Westen der Union durch die gemeine Not des Lebens veranlaßt worden? Wo in der Geschichte eine kleine Schar siegreich in weite Gebiete einbricht, da ist es regelmäßig die Stimme des Blutes, die Sehnsucht nach einem großen Schicksal, das Heldentum echter Rassemenschen, das sie treibt.

Man muß aber auch ein Bild der Lage in den durchstreiften Ländern besitzen. Diese Züge sind beständig etwas anderes geworden, und das hing nicht nur vom Geist der Wanderer ab, sondern mehr und mehr vom Wesen der seßhaften Bevölkerung, die zuletzt in entschiedener Überzahl vorhanden war. Es ist klar, daß in fast menschenleeren Räumen ein einfaches Ausweichen des Schwächeren möglich und Regel ist.

In den Zuständen späterer Dichte handelt es sich aber um ein Heimatloswerden des Schwächeren, der sich verteidigen oder um ein neues Land kämpfen muß. Man drängt sich bereits im Raume. Kein Stamm lebt ohne beständige Fühlung nach allen Seiten und ohne eine mißtrauische Bereitschaft zum Widerstand. Die harte Notwendigkeit des Krieges züchtet Männer. Völker wachsen an Völkern und gegen Völker zu innerer Größe heran. Die Waffe wird zur Waffe gegen Menschen, nicht gegen Tiere. Endlich ist jene Wanderungsform da, von der in historischer Zeit allein die Rede sein kann: streifende Scharen bewegen sich in durchaus bewohntem Gebiete, dessen Bevölkerung als ein wesentlicher Bestandteil des Eroberten seßhaft und erhalten bleibt; die Sieger sind in der Minderzahl und es treten damit ganz neue Lagen ein. Völker von starker innerer Form schichten sich über viel größere, aber formlose Bevölkerungen, und die weitere Verwandlung der Völker, Sprachen, Rassen hängt von sehr verwickelten Einzelheiten ab. Seit den entscheidenden Untersuchungen von BelochDie Bevölkerung der griechisch-römischen Welt (1886). und DelbrückGeschichte der Kriegskunst (zuerst 1900). wissen wir, daß alle Wandervölker – und Völker in diesem Sinne waren die Perser des Kyros, die Mamertiner und die Kreuzfahrer ebensogut wie die Ostgoten und die »Seevölker« der ägyptischen Inschriften – im Verhältnis zur Bewohnerschaft der besetzten Gebiete sehr klein waren, wenige tausend Krieger stark und den Eingebornen überlegen allein durch ihre Entschlossenheit, ein Schicksal zu sein und nicht zu erleiden. Nicht bewohnbares, sondern bewohntes Land wird in Besitz genommen: damit wird das Verhältnis beider Bevölkerungen auch zu einer Standesfrage, die Wanderung zu einem Feldzuge und das Seßhaftwerden zu einer politischen Aktion. Und hier, wo der Erfolg einer kleinen Kriegerschar mit seiner Wirkung: der Ausbreitung von Namen und Sprache der Sieger, aus historischer Ferne allzu leicht als »Völkerwanderung« erscheint, muß die Frage noch einmal gestellt werden: Was alles kann wandern?

Der Name einer Landschaft oder eines Verbandes – es kann auch der eines Helden sein, den das Gefolge trägt –, indem er sich verbreitet, dort erlischt und hier von einer ganz anderen Bevölkerung angenommen oder ihr gegeben wird, indem er vom Lande auf Menschen übergeht und mit ihnen zieht oder umgekehrt; die Sprache der Sieger oder Besiegten – oder auch eine dritte, die beide zu ihrer Verständigung annehmen; die Gefolgschaft eines Häuptlings, die ganze Länder unterwirft und sich durch erbeutete Weiber fortpflanzt, oder ein zufälliger Haufe von Abenteurern verschiedenster Herkunft oder eine Völkerschaft mit Weib und Kind, wie die Philister, die ganz nach germanischer Art um 1200 v. Chr. mit ihren vierspännigen Ochsenwagen längs der phönikischen Küste nach Ägypten zogen.Ramses III., der sie schlug, hat ihren Zug in seinen Reliefs von Medinet Habu abgebildet, W. M. Müller, Asien und Europa, S. 366. Und deshalb muß noch einmal gefragt werden: Darf man aus dem Schicksal von Sprachen oder Namen auf das von Völkern oder Rassen schließen? Es ist nur eine Antwort möglich: ein entschiedenes Nein.

Unter den »Seevölkern«, die Ägypten im 13. Jahrhundert immer wieder angriffen, erscheinen die Namen der Danaer und Achäer, aber bei Homer sind beide fast mythische Bezeichnungen; dann der Name der Lukka, der später an Lykien haftet, aber dessen Bewohner nennen sich Tramilen; endlich die Namen der Etrusker, Sarden und Sikuler, aber daraus folgt nicht, daß diese Turscha, das spätere Etruskisch, sprachen, nichts für ihren leiblichen Zusammenhang mit den gleichnamigen Bewohnern Italiens; und selbst wenn beides gesichert wäre, nichts für das Recht, von »ein und demselben Volke« zu sprechen. Angenommen, die Inschrift von Lemnos wäre etruskisch, und das Etruskische indogermanisch – so würde daraus für die Sprachgeschichte manches, für die Rassegeschichte gar nichts folgen. Rom ist eine Etruskerstadt. Ist das nicht für die Seele des römischen Volkes gleichgültig? Sind die Römer deshalb Indogermanen, weil sie zufällig einen lateinischen Dialekt sprachen? Die Ethnographen kennen eine mittelländische und eine Alpenrasse und südlich und nördlich davon eine auffallende leibliche Verwandtschaft zwischen Nordgermanen und Libyern, aber die Philologen wissen, daß die Basken ihrer Sprache wegen der Rest einer »vorindogermanischen« – iberischen – Bevölkerung sind. Beide Meinungen schließen sich aus. Waren die Erbauer von Mykene und Tiryns »Hellenen«? Man könnte ebenso fragen, ob die Ostgoten Deutsche gewesen sind. Ich gestehe, daß ich solche Fragestellungen nicht begreife.

Für mich ist »Volk« eine Einheit der Seele. Alle großen Ereignisse der Geschichte sind nicht eigentlich von Völkern ausgeführt worden, sondern haben Völker erst hervorgerufen. Jede Tat verändert die Seele des Handelnden. Mag man sich zuerst um einen berühmten Namen geschart haben, – daß hinter seinem Klange nicht ein Haufe, sondern ein Volk steht, das ist die Wirkung und nicht die Voraussetzung großer Ereignisse. Erst durch ihre Wanderschicksale sind Goten und Osmanen geworden, was sie später waren. »Die Amerikaner« sind nicht aus Europa eingewandert; der Name des florentinischen Geographen Amerigo Vespucci bezeichnet heute zunächst einen Erdteil, aber außerdem ein echtes Volk, das durch die seelische Erschütterung von 1775 und vor allem durch den Sezessionskrieg von 1861–65 seine Eigenart erhalten hat.

Einen anderen Inhalt des Wortes Volk gibt es nicht. Weder die Einheit der Sprache noch der leiblichen Abstammung ist entscheidend. Was ein Volk von einer Bevölkerung unterscheidet, es aus dieser abhebt und wieder in ihr aufgehen läßt, ist stets das innere Erlebnis des »Wir«. Je tiefer dieses Gefühl, desto stärker ist die Lebenskraft des Verbandes. Es gibt energische, matte, flüchtige, unverwüstliche Völkerformen. Sie können Sprache, Rasse, Namen und Land wechseln; solange ihre Seele dauert, eignen sie sich Menschen jeder denkbaren Herkunft innerlich an und formen sie um.

Der römische Name bezeichnet zur Zeit Hannibals ein Volk, zur Zeit Trajans nur noch eine Bevölkerung.

Wenn trotzdem mit vielem Rechte Völker und Rassen zusammengestellt werden, so ist damit nicht der heute übliche Rassebegriff der darwinistischen Zeit gemeint. Man glaube doch nicht, daß je ein Volk durch die bloße Einheit der leiblichen Abstammung zusammengehalten wurde und diese Form auch nur durch zehn Generationen hätte wahren können. Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß diese physiologische Herkunft nur für die Wissenschaft und niemals für das Volksbewußtsein vorhanden ist und daß kein Volk sich je für dieses Ideal des »reinen Blutes« begeistert hat. »Rasse haben« ist nichts Stoffliches, sondern etwas Kosmisches und Gerichtetes, gefühlter Einklang eines Schicksals, gleicher Schritt und Gang im historischen Sein. Aus einem Mißverhältnis dieses ganz metaphysischen Taktes entspringt der Rassehaß, der zwischen Franzosen und Deutschen nicht weniger stark ist als zwischen Deutschen und Juden, und aus dem gleichen Pulsschlag andererseits die wirkliche, dem Haß verwandte Liebe zwischen Mann und Weib. Wer keine Rasse hat, der kennt diese gefährliche Liebe nicht. Wenn ein Teil der Menschenmasse, die sich heute indogermanischer Sprachen bedient, einem gewissen Rasseideal sehr nahe steht, so deutet das auf die metaphysische Kraft dieses Ideals, das züchtend wirkte; und nicht auf ein »Urvolk« im gelehrten Geschmack. Es ist doch von höchster Bedeutung, daß dieses Ideal niemals in der gesamten Bevölkerung, sondern vorwiegend in ihrem kriegerischen Element und vor allem dem echten Adel ausgeprägt ist, also unter den Menschen, welche ganz in einer Tatsachenwelt, im Banne geschichtlichen Werdens leben, Schicksalsmenschen, die etwas wollen und wagen, obwohl gerade in früher Zeit die Aufnahme in den Herrenstand einem Stammfremden von äußerem und innerem Range nicht schwer fiel und zumal die Weiber nach ihrer »Rasse« und gewiß nicht ihrer Abstammung gewählt worden sind. Am schwächsten sind die Rassezüge gleich daneben, wie man heute noch beobachten kann, in den echten Priester- und Gelehrtennaturen ausgeprägt,Die eben deshalb den sinnlosen Begriff Geistesadel erfunden haben. obwohl sie mit den andern vielleicht in engster Blutsverwandtschaft stehen. Ein starkes Seelentum züchtet den Leib wie ein Kunstwerk heran. Die Römer bilden, mitten in dem italischen Wirrwarr der Stämme und selbst von verschiedenartigster Herkunft, eine Rasse von der allerstrengsten inneren Einheit, die weder etruskisch noch latinisch oder allgemein »antik«, sondern ganz spezifisch römisch ist.Obwohl gerade in Rom die Freigelassenen, also in der Regel Menschen ganz fremden Blutes, das Bürgerrecht erhalten und schon der Zensor Appius Claudius (310) Söhne ehemaliger Sklaven in den Senat aufnahm. Einer von ihnen, Flavius, ist damals sogar kurulischer Ädil geworden. Wenn man irgendwo die Stärke eines Volkstums vor Augen sehen kann, so ist es an den Römerbüsten der letzten republikanischen Zeit.

Als Beispiel nenne ich noch die Perser. Es gibt kein stärkeres für die Irrtümer, welche diese gelehrten Vorstellungen von Volk, Sprache und Rasse nach sich ziehen mußten. Hier liegt auch der letzte und vielleicht entscheidende Grund, weshalb der Organismus der arabischen Kultur bis heute nicht erkannt worden ist. Persisch ist eine arische Sprache, also sind »die Perser« »ein indogermanisches Volk«. Also sind persische Geschichte und Religion ein Thema der »iranischen« Philologie.

Zunächst: Ist das Persische eine dem Indischen gleichgeordnete Sprache, von einer gemeinsamen Ursprache stammend, oder nur ein indischer Dialekt? 700 Jahre schriftloser, also schnellster Sprachentwicklung liegen zwischen dem Altvedischen der indischen Texte und den Behistun-Inschriften des Darius. Nicht größer ist der Abstand zwischen dem Latein des Tacitus und dem Französischen der Straßburger Eide (842). Nun kennen wir aber aus der Mitte des 2. Jahrtausends – also aus vedischer Ritterzeit – durch die Amarnabriefe und das Archiv von Boghazköi zahlreiche »arische« Personen- und Götternamen, und zwar in Syrien und Palästina. Indessen Ed. MeyerDie ältesten datierten Zeugnisse der iranischen Sprache, Zeitschr. f. vgl. Sprachf. 42, S. 26. bemerkt, daß diese Namen indisch und nicht persisch sind, und dasselbe gilt von den jetzt entdeckten Zahlworten.Vgl. Bd. II, S. 735. Von Persern ist keine Rede, noch weniger von einem »Volk« im Sinne unserer Historiker. Es waren indische Helden, die nach Westen rittenVgl. Bd. II, S. 736, Anm. 2. H. K. und mit ihrer kostbaren Waffe, dem Reitpferde, und ihrem Tatendrang allenthalben in der alternden babylonischen Welt eine Macht bedeutet haben.

Seit 600 erscheint mitten in dieser Welt die kleine Landschaft Persis mit einer politisch geeinigten bäuerlich-barbarischen Bevölkerung. Herodot berichtet, daß von ihren Stämmen nur drei eigentlich persischer Nationalität gewesen seien. Hat sich die Sprache jener Ritter in diesem Gebirge erhalten und ist »Perser« ein Landname, der auf ein Volkstum überging? Auch die sehr ähnlichen Meder tragen nur den Namen eines Landes, dessen kriegerische Oberschicht sich durch große politische Erfolge als Einheit fühlen gelernt hat. In den assyrischen Urkunden Sargons und seiner Nachfolger (um 700) finden sich neben den nichtarischen Ortsnamen zahlreiche »arische« Personennamen, durchweg von führenden Männern, aber Tiglat Pileser IV. (745–727) nennt das Volk schwarzhaarig.Ed. Meyer a. a. O., S. 1 ff. Das »persische Volk« des Kyros und Darius kann sich erst von da an aus Menschen verschiedener Herkunft, aber aus einer starken Einheit des Erlebens heraus gebildet haben. Als die Makedonier aber kaum zwei Jahrhunderte später ihre Herrschaft auflösten – waren da »die Perser« in dieser Form überhaupt noch vorhanden? Gab es um 900 in Italien wirklich noch ein langobardisches Volk? Es ist sicher, daß die weithin verbreitete persische Reichssprache und die Verteilung der wenigen tausend erwachsenen Männer aus Persis über den ungeheuren Kreis von militärischen und Verwaltungsaufgaben das Volkstum längst aufgelöst und an seine Stelle als Träger des persischen Namens eine sich als politische Einheit fühlende Oberschicht gesetzt hatten, von deren Ahnen nur sehr wenige aus Persis sein konnten. Ja – es gibt nicht einmal ein Land, das man als den Schauplatz der persischen Geschichte bezeichnen kann. Was sich von Darius bis auf Alexander ereignet, hat seinen Ort teils im nördlichen Mesopotamien, also unter einer aramäisch sprechenden Bevölkerung, teils im alten Sinear, jedenfalls nicht in Persis, wo die von Xerxes begonnenen Prachtbauten gar nicht fortgesetzt worden sind. Die Parther waren ein mongolischer Stamm, der eine persische Mundart angenommen hatte und inmitten dieser Bevölkerung das persische Nationalgefühl in sich zu verkörpern suchte.

Hier erscheint neben der persischen Sprache und Rasse nun auch die Religion als Problem.Zum folgenden vgl. Bd. II, Kap. III. Die Forschung hat sie mit jenen zusammengebracht, als ob das selbstverständlich wäre, und also in beständiger Beziehung auf Indien behandelt. Aber die Religion jener Landwikinger war mit der vedischen nicht verwandt, sondern identisch, wie die Götterpaare Mitra-Varuna und Indra-Nasatya der Boghazköi-Texte beweisen. Und innerhalb dieser mitten in der babylonischen Welt aufrecht erhaltenen Religion erscheint nun Zarathustra als Reformator aus dem unteren Volke. Daß er kein Perser war, ist bekannt. Was er schuf – ich hoffe das noch nachzuweisen – war die Überführung der vedischen Religion in die Formen des aramäischen Weltdenkens, in welchem sich ganz leise schon die magische Religiosität vorbereitet. Die daevas, die Götter des altindischen Glaubens, werden zu den Dämonen des semitischen, den dschins der Araber. Jahwe und Beelzebub stehen sich nicht anders gegenüber als Ahura Mazda und Ahriman in dieser durch und durch aramäischen, also aus einem sittlich-dualistischen Weltgefühl entsprungenen Bauernreligion. Ed. Meyer hatGeschichte des Altertums, I, § 590 f. den Unterschied zwischen indischer und »iranischer« Weltanschauung durchaus richtig gezeichnet, ihn seinem Ursprung nach infolge der falschen Voraussetzungen aber nicht erkannt. Zarathustra ist ein Weggenosse der israelitischen Propheten, welche den mosaisch-kananäischen Volksglauben ebenso und gleichzeitig umgewendet haben. Es ist bezeichnend, daß die gesamte Eschatologie ein Gemeinbesitz der persischen und jüdischen Religion ist und daß die Awestatexte zur Partherzeit ursprünglich aramäisch geschrieben und dann erst in Pehlewi übertragen worden sind.Andreas und Wackernagel, Nachrichten der Göttingischen Gesellschaft der Wissenschaften (1911), S. 1 ff.

Aber schon in der Partherzeit hat sich bei Persern wie bei Juden jene tief innerliche Wandlung vollendet, welche den Begriff der Nation nicht mehr nach der Stammeszugehörigkeit, sondern der Rechtgläubigkeit bestimmt.Siehe weiter unten. Ein Jude, der zum Mazdaglauben übertrat, ist damit Perser geworden; ein Perser, der Christ wurde, gehört dem nestorianischen »Volke« an. Die sehr starke Bevölkerung des nördlichen Mesopotamiens – des Mutterlandes der arabischen Kultur – ist teils jüdischer, teils persischer Nation in diesem Sinne, der mit Rasse nichts und mit Sprache wenig zu tun hat. »Der Ungläubige« ist schon zur Zeit von Christi Geburt die Bezeichnung für den Nichtperser wie für den Nichtjuden.

Diese neue Nation ist das »persische Volk« des Sassanidenreiches. Damit hängt es zusammen, daß Pehlewi und Hebräisch gleichzeitig aussterben und das Aramäische die Muttersprache beider Gemeinschaften wird. Will man die Bezeichnungen Arier und Semiten verwenden, so waren die Perser zur Zeit der Amarnabriefe Arier, aber kein »Volk«, zur Zeit des Darius ein Volk, aber ohne Rasse, zur Sassanidenzeit eine Glaubensgemeinschaft, aber von semitischer Abstammung. Es gibt weder ein persisches Urvolk, das sich von einem arischen abgezweigt hätte, noch eine persische Gesamtgeschichte; und es läßt sich nicht einmal für die drei Einzelgeschichten, welche lediglich durch gewisse Sprachbeziehungen zusammenhängen, ein einheitlicher Schauplatz angeben.


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