Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Zweiter Band
Oswald Spengler

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II. Völker, Rassen, Sprachen

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Das wissenschaftliche Geschichtsbild während des ganzen 19. Jahrhunderts wird verdorben durch eine aus der Romantik stammende oder von ihr doch vollendete Vorstellung, den Begriff des »Volkes« in sittlich-begeistertem Sprachgebrauch. Wenn irgendwo in früher Zeit eine neue Religion, Ornamentik, Bauweise, Schrift oder auch ein Reich oder eine große Verwüstung hervortritt, so stellt der Forscher seine Frage sofort in der Fassung: wie hieß das Volk, das diese Erscheinung hervorgebracht hat? Diese Fragestellung ist dem westeuropäischen Geist in seiner heutigen Beschaffenheit eigentümlich, sie ist aber in allen Einzelheiten so falsch, daß das mit ihr heraufgerufene Bild vom Gang der Ereignisse notwendig verfehlt sein muß. »Das Volk« als die Urform schlechthin, in welcher Menschen historisch wirksam sind, die Urheimat, die Ursitze, die Wanderungen »der« Völker – darin spiegelt sich der große Schwung der Begriffe Nation von 1789 und Volk von 1813, die beide letzten Endes auf das englisch-puritanische Selbstbewußtsein zurückgehen. Aber gerade weil der Begriff ein hohes Pathos birgt, entzieht er sich gern der Kritik. Selbst scharfsinnige Forscher bezeichnen hundert ganz verschiedenartige Dinge damit, ohne es zu bemerken, und so entwickelt sich »Volk« zu der vermeintlich eindeutigen Größe, welche alle Geschichte macht. Weltgeschichte gilt uns heute, was durchaus nicht selbstverständlich ist und dem Denken der Griechen und Chinesen ganz fern lag, als die Geschichte von Völkern. Alles andere, Kultur, Sprache, Kunst, Religion, wird von den Völkern geschaffen. Der Staat ist die Form eines Volkes.

Dieser romantische Begriff soll hier zerstört werden. Was seit der Eiszeit die Erde bewohnt, sind Menschen, nicht »Völker«. Ihr Schicksal wird zunächst dadurch bestimmt, daß die leibliche Folge von Eltern und Kindern, der Zusammenhang des Blutes, natürliche Gruppen bildet, welche den deutlichen Hang verraten, in einer Landschaft Wurzel zu fassen. Auch Nomadenstämme halten ihre Bewegungen innerhalb gewisser Grenzen. Damit ist eine Dauer der kosmisch-pflanzenhaften Lebensseite, des Daseins, gegeben. Dies nenne ich Rasse. Stämme, Sippen, Geschlechter, Familien – das sind sämtlich Bezeichnungen für die Tatsache des durch Zeugungen in einer engeren oder weiteren Landschaft fortkreisenden Blutes.

Aber diese Menschen besitzen auch noch die mikrokosmisch-tierhafte Lebensseite des Wachseins, des Empfindens und Verstehens, und die Form, in welcher das Wachsein des einen zu dem der übrigen in Beziehung tritt, nenne ich Sprache, die zunächst nichts ist als unbewußter lebendiger Ausdruck, der sinnlich wahrgenommen wird, der sich aber allmählich zu einer bewußten Mitteilungstechnik entwickelt, welche auf einem übereinstimmenden Bedeutungsgefühl für Zeichen beruht.

Zuletzt ist jede Rasse ein einziger großer Leib, und jede Sprache die Tätigkeitsform eines großen, viele Einzelwesen verbindenden Wachseins. Man wird über beide nie zu den letzten Aufschlüssen gelangen, wenn man sie nicht gemeinsam und in beständiger Vergleichung behandelt.

Man wird aber auch die Geschichte des höheren Menschentums nie verstehen, wenn man übersieht, daß der Mensch als Element einer Rasse und als Besitzer einer Sprache, oder der Mensch, je nachdem er einer Einheit des Blutes entstammt oder einer Einheit der Verständigung eingereiht ist, daß also Dasein und Wachsein des Menschen ihre besonderen Schicksale haben. Und zwar sind Ursprung, Entwicklung und Dauer der Rasseseite und der Sprachseite in ein und derselben Bevölkerung durchaus unabhängig voneinander. Rasse ist etwas Kosmisches und Seelenhaftes. Irgendwie ist sie periodisch und in ihrem Innern von den großen astronomischen Verhältnissen mitbedingt. Sprachen sind kausale Gebilde; sie wirken durch die Polarität ihrer Mittel. Wir reden von Rasseinstinkten und vom Geist einer Sprache. Aber das sind zwei verschiedene Welten. Zur Rasse gehört die tiefste Bedeutung der Worte Zeit und Sehnsucht, zur Sprache die der Worte Raum und Angst. Das alles ist bis jetzt unter dem Begriff »Volk« verschüttet geblieben.

Es gibt also Daseinsströme und Wachseinsverbindungen. Jene besitzen eine Physiognomie, diesen liegt ein System zugrunde. Rasse ist, im Bilde der Umwelt betrachtet, der Inbegriff aller leiblichen Kennzeichen, soweit sie für das Sinnesempfinden wacher Wesen vorhanden sind. Hier müssen wir bedenken, daß ein Leib die mit seiner Zeugung gesetzte und ihm innerlich eigene Form von der Kindheit bis zum Greisentum entfaltet und vollendet, während gleichzeitig das, was der Leib abgesehen von seiner Form ist, unaufhörlich erneuert wird. Von einem Knaben ist also im Manne nichts wirklich geblieben als der lebendige Sinn seines Daseins, und wir erkennen davon nicht mehr, als was sich in der Welt des Wachseins darbietet. Obwohl sich für den höheren Menschen der Rasseeindruck fast ganz auf das beschränkt, was in der Lichtwelt seines Auges erscheint, Rasse also ganz wesentlich ein Inbegriff sichtbarer Merkmale ist, so sind doch auch für ihn bedeutsame Reste nichtoptischer Merkmale vorhanden, der Geruch, die Stimmen der Tiere, vor allem aber die Sprechweise des Menschen. Für höhere Tiere dagegen wird der gegenseitige Rasseeindruck ohne Zweifel durchaus nicht vom Sehen beherrscht. Die Witterung ist wichtiger; es kommen aber Empfindungsarten hinzu, die sich dem menschlichen Wissen vollständig entziehen. Es ergibt sich daraus, daß eine Pflanze, weil sie Dasein besitzt, auch Rasse hat – die Obst- und Blumenzüchter wissen das sehr wohl –, daß aber nur Tiere Rasseeindrücke empfangen. Es hat für mich immer etwas Erschütterndes, wenn ich im Frühling sehe, wie all diese blühenden Gewächse, die sich nach Zeugung und Befruchtung sehnen, mit der ganzen Leuchtkraft ihrer Blüten einander nicht anziehen und nicht einmal bemerken können, sondern auf Tiere angewiesen sind, für die es allein diese Farben und Düfte gibt.

Sprache nenne ich die gesamte freie Tätigkeit des wachen Mikrokosmos, insofern sie etwas für andere zum Ausdruck bringt. Pflanzen besitzen kein Wachsein und keine Beweglichkeit und also keine Sprache. Das Wachsein tierischer Wesen aber ist durch und durch ein Sprechen, ob nun der Sinn der einzelnen Akte ein Sprechen sein soll oder nicht und wenn auch der bewußte oder unbewußte Zweck des Tuns in einer ganz anderen Richtung liegt. Ein Pfau spricht sicherlich bewußt, wenn er seinen Schweif entfaltet, aber eine junge Katze, die mit einem Garnknäul spielt, spricht durch die Zierlichkeit ihrer Bewegungen unbewußt zu uns. Jeder kennt den Unterschied in seinen Bewegungen, je nachdem er sich beobachtet weiß oder nicht. Man beginnt plötzlich mit allem, was man tut, bewußt zu »sprechen«.

Damit ergibt sich aber ein sehr bedeutsamer Unterschied in den Arten der Sprache: Sprache, die nur Ausdruck für die Welt ist und deren innere Notwendigkeit in der Sehnsucht alles Lebens liegt, sich vor Zeugen zu verwirklichen, sein Dasein sich selbst zu bezeugen, und Sprache, die von bestimmten Wesen verstanden sein will. Es gibt also Ausdruckssprachen und Mitteilungssprachen. Jene setzen nur ein Wachsein, diese eine Wachseinsverbindung voraus. Verstehen heißt mit dem eigenen Bedeutungsgefühl auf den Eindruck eines Zeichens antworten. Sich verständigen, »Zwiesprache halten«, zu einem »Du« sprechen, heißt also in ihm ein dem eigenen entsprechendes Bedeutungsgefühl voraussetzen. Die Ausdruckssprache vor Zeugen beweist nur das Vorhandensein eines Ich. Die Mitteilungssprache setzt ein Du. Ich ist das Sprechende. Du ist das, was die Sprache des Ich verstehen soll. Für den primitiven Menschen kann ein Baum, ein Stein, eine Wolke ein Du sein. Alle Gottheiten sind Du. Im Märchen gibt es nichts, was nicht mit dem Menschen Zwiesprache halten könnte. Und wir brauchen uns nur in Augenblicken zorniger Erregung oder dichterischen Schwunges zu ertappen, um zu wissen, daß noch heute jedes Ding ein Du für uns werden kann. Und endlich spricht jeder denkende Mensch mit sich selbst wie mit einem Du. Erst am Du erwacht auch das Wissen von einem Ich. »Ich« ist also eine Bezeichnung für die Tatsache, daß eine Brücke zu einem anderen Wesen vorhanden ist.

Eine strenge Grenze zwischen religiöser und künstlerischer Ausdruckssprache und reiner Mitteilungssprache zu ziehen, ist unmöglich. Das gilt ganz besonders auch für hohe Kulturen mit der Sonderentwicklung ihrer Formgebiete. Denn einerseits kann niemand sprechen, ohne in die Art seines Sprechens noch einen bedeutsamen Ausdruck zu legen, der ihm selbst oft nicht bekannt ist und der jedenfalls nicht der Mitteilung dient. Und andererseits kennen wir alle das Drama, mit dem der Dichter etwas »sagen« will, was er ebensogut und besser auch durch einen Aufruf hätte sagen können, das Gemälde, das durch seinen Inhalt belehren, mahnen, bessern soll – die Bilderreihen in jeder griechisch-orthodoxen Kirche bilden einen strengen Kanon und dienen dem ausgesprochenen Zweck, dem Betrachter, dem ein Buch nichts sagt, die Wahrheiten der Religion eindringlich klar zu machen – die Stiche von Hogarth, welche Kanzelreden ersetzen, und endlich das Gebet, das unmittelbare Sprechen mit Gott, das auch durch die Ausübung einer kultischen Handlung vor seinen Augen, deren Sprache er versteht, ersetzt werden kann. Der theoretische Streit um den Zweck der Kunst beruht auf der Forderung, daß eine künstlerische Ausdruckssprache keine Mitteilungssprache sein soll, und der Erscheinung des Priestertums liegt die Überzeugung zugrunde, daß es allein die Sprache kennt, in welcher der Mensch sich Gott mitteilen kann.

Alle Daseinsströme haben historische, alle Wachseinsverbindungen religiöse Prägung. Was von jeder echten religiösen oder künstlerischen Formensprache feststeht und was insbesondere die Geschichte der Schrift uns überall enthüllt – Schrift ist die Wortsprache fürs Auge –, das gilt ganz ohne Zweifel auch von der Entstehung der menschlichen Lautsprache überhaupt. Die Urworte, von deren Beschaffenheit wir nicht das geringste mehr wissen, besaßen sicherlich auch eine kultische Farbe. Aber in einem entsprechenden Zusammenhang steht die Rasse mit allem, was wir das Leben als Kampf um die Macht, was wir die Geschichte als Schicksal, was wir heute Politik nennen. Es ist vielleicht verwegen, in dem Suchen einer Kletterpflanze nach Haftpunkten, womit sie einen Baum umklammert, seinen Widerstand überwindet und ihn zuletzt erwürgt, um sich über seinen Wipfel hoch in die Luft zu recken, etwas von politischem Instinkt, in dem Gesang einer aufsteigenden Lerche etwas von religiösem Weltgefühl zu verspüren, aber es ist sicher, daß von hier aus in ununterbrochener Reihe die Äußerungen des Daseins und des Wachseins, des Taktes und der Spannung bis zu den ausgebildeten politischen und religiösen Formen jeder modernen Zivilisation führen.

Und daraus ergibt sich endlich der Schlüssel für jene zwei merkwürdigen Worte, welche die völkerkundliche Forschung an zwei ganz verschiedenen Stellen der Erde entdeckt hat und zwar in einer nicht sehr umfangreichen Anwendung, die dann aber unvermerkt immer mehr in den Vordergrund der Untersuchung gerückt sind: Totem und Tabu. Je rätselhafter und vieldeutiger sie werden, desto mehr hat man gefühlt, daß mit ihnen die letzten Lebensgründe nicht nur der primitiven Menschheit angerührt wurden. Und aus der hier vorgelegten Untersuchung folgt nunmehr die eigentliche Bedeutung beider: Totem und Tabu bezeichnen den letzten Sinn von Dasein und Wachsein, Schicksal und Kausalität, Rasse und Sprache, Zeit und Raum, Sehnsucht und Angst, Takt und Spannung, Politik und Religion. Die Totemseite des Lebens ist pflanzenhaft und gehört allen Wesen an, die Tabuseite ist tierhaft und setzt die freie Bewegung des Wesens in einer Welt voraus. Wir besitzen die Totemorgane des Blutkreislaufs und der Fortpflanzung und die Tabuorgane der Sinne und Nerven. Alles was zum Totem gehört, besitzt Physiognomie, alles was Tabu ist, hat System. Im Totemistischen liegt das Gemeingefühl von Wesen, die ein und demselben Daseinsstrome angehören. Es läßt sich nicht übertragen und nicht beseitigen, es ist eine Tatsache, die Tatsache im eminenten Sinne. Alles was Tabu ist, kennzeichnet Wachseinsverbindungen; es ist erlernbar und übertragbar und eben deshalb ein behütetes Geheimnis von Kultgemeinden, Denkerschulen und Künstlergilden, die alle eine Art von Geheimsprache besitzen.Es versteht sich, daß totemistische Tatsachen, insofern sie vom Wachsein bemerkt werden, auch eine Tabubedeutung erhalten, wie vieles im Geschlechtsleben, das den Menschen mit einer tiefen Angst erfüllt, weil es seinem Verstehenwollen entzogen bleibt.

Aber das Dasein kann ohne das Wachsein gedacht werden; das Wachsein nicht ohne Dasein. Daraus folgt, daß es Rassewesen ohne Sprache gibt, aber keine Sprache ohne Rasse. Deshalb besitzt alles Rassemäßige seinen eigenen und vom etwaigen Wachsein unabhängigen, den Pflanzen so gut wie den Tieren zugehörigen Ausdruck – wohl zu unterscheiden von der Ausdrucks sprache, welche in der aktiven Veränderung des Ausdruckes besteht –, der nicht für Zeugen bestimmt, sondern einfach da ist: die Physiognomie. In jeder mit tiefer Bedeutung so genannten lebenden Sprache aber ist außer der Tabuseite, die erlernbar ist, ein gänzlich unerlernbarer Rassezug nachzuweisen, der mit den Trägern der Sprache dahinstirbt; er liegt in Melos, Rhythmus und Betonung, in Farbe, Klang und Schritt der Aussprache, im Sprachgebrauch, in der begleitenden Geste. Man sollte deshalb die Sprache und das Sprechen unterscheiden. Jene ist ein an sich toter Bestand von Zeichen, diese ist die Tätigkeit, welche mit den Zeichen wirkt.W. v. Humboldt (»Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues«) war der erste, welcher betonte, daß eine Sprache kein Ding, sondern eine Tätigkeit ist. »Will man den Ausdruck scharf nehmen, so läßt sich wohl sagen: es gibt keine Sprache, so wenig wie es Geist gibt; aber der Mensch spricht, und der Mensch wirkt geistig.« Wenn man von einer Sprache nicht mehr unmittelbar hören und sehen kann, wie sie gesprochen wird, so kennt man von ihr nur den Knochenbau und nicht den Leib. Das ist beim Sumerischen, Gotischen, Sanskrit und allen andern Sprachen der Fall, die wir nur aus Texten und Inschriften entziffert haben und mit vollem Recht tot nennen, weil die menschliche Gemeinschaft verschwunden ist, welche durch diese Sprache gebildet worden war. Wir kennen die ägyptische Sprache, aber nicht das ägyptische Sprechen. Wir kennen vom Latein der augusteischen Zeit annähernd den Lautwert der Buchstaben und den Wortsinn, aber wir wissen nicht, wie eine Rede Ciceros von den Rostra herab erklang, und noch viel weniger wissen wir, wie Hesiod und Sappho ihre Verse sprachen und wie sich ein Gespräch auf dem Markt von Athen anhörte. Wenn in der Gotik das Latein wirklich wieder gesprochen wurde, so war damit etwas Neues entstanden; die Ausbildung dieses gotischen Latein hat vom Klang und Takt des Sprechens, von dem wir uns heute ebenfalls keine Vorstellung mehr machen können, bald auf den Wortbestand und die Wortverbindung übergegriffen. Aber auch das antigotische Latein der Humanisten, das ciceronianisch sein sollte, war nichts weniger als eine Auferstehung. Die ganze Bedeutung der Rasseseite im Sprechen ermißt man, wenn man das Deutsch Nietzsches und Mommsens, das Französisch Diderots und Napoleons vergleicht und bemerkt, daß Lessing und Voltaire im Gebrauch der Sprache sich näherstehen als Lessing und Hölderlin.

Und ebenso steht es mit der bedeutendsten Ausdruckssprache, die es gibt, der Kunst. Die Tabuseite, nämlich der Formenschatz, die Regeln der Konvention, der Stil, soweit er einen Inbegriff feststehender Wendungen bedeutet, was mit dem Wortschatz und der Syntax der Wortsprachen zu vergleichen ist, stellt die Sprache selbst dar, die erlernt werden kann. Sie wird erlernt und im Gebrauch überliefert in den großen Malerschulen, der Bauhüttentradition, überhaupt in der strengen Handwerkszucht, welche für jede echte Kunst selbstverständlich ist und deren Zweck zu allen Zeiten die sichere Beherrschung einer ganz bestimmten, gerade damals lebendigen Sprechweise war. Denn es gibt auch hier lebendige und tote Sprachen. Die Formensprache einer Kunst läßt sich nur dann als lebendig bezeichnen, wenn die Künstlerschaft in ihrer Gesamtheit sie wie eine gemeinsame Muttersprache anwendet, deren man sich bedient, ohne an ihre Beschaffenheit auch nur zu denken. In diesem Sinne war der gotische Stil im 16. Jahrhundert eine tote Sprache, das Rokoko um 1800. Man vergleiche die unbedingte Sicherheit, mit welcher Baumeister und Musiker des 17. und 18. Jahrhunderts sich ausdrücken, mit dem Stammeln Beethovens, den mühsam, gewissermaßen durch Selbstunterricht erworbenen Sprachkenntnissen Schinkels und Schadows, dem Radebrechen der Präraffaeliten und Neugotiker und endlich den hilflosen Sprechversuchen heutiger Künstler.

Das Sprechen einer künstlerischen Formensprache, wie es in den Werken vorliegt, läßt die Totemseite, die Rasse erkennen und zwar von einzelnen Künstlern so gut wie von ganzen Künstlergeschlechtern. Die Schöpfer der dorischen Tempel Unteritaliens und Siziliens und die der norddeutschen Backsteingotik waren eine starke Rasse und ebenso die deutschen Musiker von Heinrich Schütz bis Joh. Seb. Bach. Zur Totemseite gehören der Einfluß der kosmischen Kreisläufe, dessen Bedeutung für die Gestalt der Kunstgeschichte man kaum ahnt und niemals im einzelnen feststellen wird, und die schöpferischen Zeiten des Frühlings und des Liebesrausches, die ganz unabhängig von der Sicherheit der Formgebung über die Formgewalt, die Tiefe der Konzeption einzelner Werke und ganzer Künste entscheiden. Wir verstehen den Formalisten aus Tiefe der Weltangst oder aus Mangel an Rasse und den großen Formlosen aus Überschwang des Blutes oder Mangel an Zucht. Wir verstehen, daß es einen Unterschied gibt zwischen der Geschichte von Künstlern und der von Stilen und daß man die Sprache einer Kunst von Land zu Land tragen kann, die Meisterschaft, sie zu sprechen, aber nicht.

Eine Rasse hat Wurzeln. Rasse und Landschaft gehören zusammen. Wo eine Pflanze wurzelt, da stirbt sie auch. Es hat wohl einen Sinn, nach der Heimat einer Rasse zu fragen, aber man sollte wissen, daß dort, wo die Heimat ist, eine Rasse mit ganz wesentlichen Zügen des Leibes und der Seele auch bleibt. Ist sie dort nicht zu finden, so ist sie nirgends mehr. Eine Rasse wandert nicht. Die Menschen wandern; ihre Geschlechterfolgen werden dann in immer wechselnden Landschaften geboren; die Landschaft erhält eine geheime Gewalt über das Pflanzenhafte in ihnen und endlich ist der Rasseausdruck von Grund aus verändert, der alte erloschen und ein neuer aufgetaucht. Nicht Engländer und Deutsche sind nach Amerika ausgewandert, sondern diese Menschen sind als Engländer und Deutsche gewandert; als Yankees sind ihre Urenkel jetzt dort, und es ist seit langem kein Geheimnis mehr, daß der Indianerboden seine Macht an ihnen bewiesen hat: sie werden von Generation zu Generation der ausgerotteten Bevölkerung ähnlicher. Gould und Baxter haben gezeigt, daß Weiße aller Stämme, Indianer und Neger dieselbe durchschnittliche Körpergröße und Wachstumszeit erhalten und zwar so schnell, daß jung eingewanderte Iren (mit einer sehr langen Wachstumszeit) die Macht der Landschaft noch an sich selbst erfahren. Boas hat gezeigt, daß schon die in Amerika geborenen Kinder langköpfiger sizilischer und kurzköpfiger deutscher Juden dieselbe Kopfform haben. Aber das gilt überall und sollte zur größten Vorsicht gegenüber historischen Wanderungen mahnen, von denen wir nur gewisse Namen der Wanderstämme und geringe Sprachreste kennen, wie es in der antiken Vorgeschichte mit Danaern, Etruskern, Pelasgern, Achaiern, Dorern der Fall ist. Für die Rasse dieser »Völker« folgt daraus gar nichts. Was unter den Namen der Goten, Langobarden, Vandalen in die südeuropäischen Länder einströmte, war zuerst ohne Zweifel eine Rasse für sich. Sie war aber schon zur Zeit der Renaissance in die wurzelhaften Rassemerkmale des provenzalischen, kastilischen und toskanischen Bodens vollständig hineingewachsen.

Nicht so die Sprache. Die Heimat einer Sprache bedeutet nur den zufälligen Ort ihrer Bildung, der zu ihrer inneren Form in keiner Beziehung steht. Sprachen wandern, indem sie von Stamm zu Stamm verbreitet und von Stämmen fortgetragen werden. Vor allem werden sie gewechselt und einen Sprachenwechsel der Rassen kann man in früher Zeit gar nicht oft genug annehmen. Es ist, um das zu wiederholen, der Formbestand und nicht das Sprechen der Sprache, was man sich aneignet, ebenso wie primitive Bevölkerungen sich unaufhörlich ornamentale Motive aneignen, um sie mit vollkommener Sicherheit als Elemente der eigenen Formensprache zu gebrauchen. Es genügt in frühen Zeiten die Tatsache, daß ein Volk sich als stärker erwiesen hat, oder ein Gefühl, daß dessen Sprache in der Anwendung überlegen ist, um – oft aus wirklicher religiöser Scheu – die eigene Sprache dafür aufzugeben. Man verfolge den Sprachwechsel der Normannen, die in der Normandie, in England, in Sizilien, vor Byzanz immer mit einer andern Sprache erschienen und jedesmal bereit waren, sie wieder gegen eine andere einzutauschen. Die Ehrfurcht vor der Muttersprache, mit dem ganzen sittlichen Gewicht, das an diesem Worte haftet und das immer wieder zu erbitterten Sprachkämpfen führt, ist ein Zug der späten abendländischen Seele und dem Menschen andrer Kulturen kaum, dem primitiven gar nicht bekannt. Er wird von unsern Historikern aber stillschweigend überall vorausgesetzt und führt zu einer Unzahl falscher Schlüsse über die Bedeutung von Sprachfunden auf die Geschicke von »Völkern«. Man denke an die Rekonstruktion der »dorischen Wanderung« aus der Verteilung der späteren griechischen Dialekte. Daraus ergibt sich die Unmöglichkeit, aus bloßen Ortsnamen, Eigennamen, Inschriften, Dialekten, der Sprachseite überhaupt auf die Geschicke der Rasseseite von Bevölkerungen zu schließen. Wir wissen von vornherein nie, ob ein Völkername einen Sprachkörper oder einen Rasseteil bezeichnet, beides oder keins von beiden, und dazu kommt noch, daß die Völkernamen und sogar die Ländernamen ihre eigenen Schicksale besitzen.


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