Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Zweiter Band
Oswald Spengler

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Die Rechtsgeschichte des Abendlandes beginnt ganz unabhängig von der damals vollständig verschollenen Schöpfung Justinians. Von deren völliger Bedeutungslosigkeit zeugt die Tatsache, daß sich der Hauptteil, die Pandekten, in einer einzigen Handschrift erhalten hat, die um 1050 zufällig – leider – gefunden wurde.

Die Vorkultur hat seit 500 eine Reihe germanischer Stammesrechte – das west- und ostgotische, burgundische, fränkische, langobardische – hervorgebracht. Sie entsprechen denen der arabischen Vorkultur, von denen uns nur die jüdischenBertholet, Kulturgeschichte Israels, S. 200 ff. erhalten geblieben sind: das Deuteronomion (um 621, jetzt etwa Mos. V, 12–26) und der Priesterkodex (um 450, jetzt etwa Mos. II–IV). Sie beschäftigen sich beide mit den Grundwerten eines primitiven Daseins: Familie und Habe, und benützen beide in urwüchsiger und doch kluger Weise ein altes zivilisiertes Recht – die Juden und sicherlich ebenso die Perser und andere das spätbabylonische,Eine Ahnung davon gibt das berühmte Gesetz Hammurabis, ohne daß wir wissen können, wie dies einzelne Werk sich dem inneren Range nach zu dem in der babylonischen Welt überhaupt erreichten Recht verhält. die Germanen einige Reste der stadtrömischen Literatur.

Das politische Leben der gotischen Frühzeit mit seinen bäuerlichen, feudalen und einfachsten Stadtrechten führt sehr bald zu einer Sonderentwicklung in drei großen Rechtsgebieten, die heute noch in der gleichen Schärfe fortbestehen. Es fehlt an einer einheitlichen und vergleichenden Rechtsgeschichte des Abendlandes, welche den Sinn dieser Entwicklung bis in seine letzte Tiefe verfolgt.

Bei weitem das wichtigste wurde infolge der politischen Schicksale das aus dem fränkischen entlehnte normannische Recht. Es hat nach der Eroberung Englands 1066 das einheimische sächsische unterdrückt, und seitdem ist in England »das Recht der Großen das Recht des ganzen Volkes«. Seinen rein germanischen Geist hat es von einer unerhört strengen feudalen Fassung bis zur heute geltenden ohne Erschütterung fortgebildet und es ist in Kanada, Indien, Australien, Südafrika und den Vereinigten Staaten herrschendes Recht geworden. Ganz abgesehen von dieser Macht ist es auch das lehrreichste von Westeuropa. Im Unterschied von den andern lag seine Weiterbildung nicht in den Händen theoretischer Rechtslehrer. Das Studium des römischen Rechts in Oxford wird der Praxis ferngehalten. Der hohe Adel lehnte es 1236 zu Merton ausdrücklich ab. Der Richterstand selbst bildet den alten Rechtsstoff durch schöpferische Präjudizien fort, und aus diesen praktischen Entscheidungen (reports) gehen dann die Rechtsbücher hervor wie dasjenige Bractons (1259). Seitdem und heute noch gehen das durch die Entscheidungen fortgesetzt lebendig erhaltene Statutenrecht und das aus der Gerichtspraxis jederzeit erkennbare Gewohnheitsrecht nebeneinander her, ohne daß einmalige Gesetzgebungsakte der Volksvertretung nötig wären.

Im Süden herrschten die erwähnten germanisch-romanischen Codices, in Südfrankreich der westgotische als droit écrit im Gegensatz zum fränkischen droit coutumier des Nordens, in Italien bis tief in die Renaissance der bedeutendste von ihnen, der fast rein germanische der Langobarden. In Pavia entstand eine Hochschule deutschen Rechts, aus welcher um 1070 die weitaus bedeutendste rechtswissenschaftliche Leistung dieser Zeit, die Expositio, und gleich darauf ein Gesetzbuch, die Lombarda, hervorging.Sohm, Inst., S. 156. Die Rechtsentwicklung des gesamten Südens wurde durch den Code civil Napoleons abgebrochen und ersetzt. Dies Buch ist in allen romanischen Ländern und weit darüber hinaus die Grundlage weiterer Gestaltung geworden und damit nach dem englischen Recht das wichtigste.

In Deutschland zerrann die mit den gotischen Stammesrechten (Sachsenspiegel 1230, Schwabenspiegel 1274) gewaltig einsetzende Bewegung im Nichts. Ein Gewirr kleiner Stadt- und Territorialrechte kam auf, bis die lebensfremde politische Romantik von Träumern und Schwärmern wie dem Kaiser Maximilian, die im Elend der Tatsachen aufblühte, auch das Recht ergriff. Der Reichstag zu Worms schuf 1495 nach italienischem Muster die Kammergerichtsordnung. Zum Heiligen Römischen Reich trat das kaiserlich römische als gemeines deutsches Recht. Das altdeutsche Prozeßverfahren wurde gegen das italienische vertauscht, die Richter mußten jenseits der Alpen studieren und sie empfingen ihre Erfahrungen statt aus dem Leben, das sie umgab, aus einer begriffespaltenden Philologie. Nur in diesem Lande gibt es seitdem Ideologen des römischen Rechts, welche das Corpus juris wie ein Heiligtum gegen die Wirklichkeit verteidigen.

Was war es denn, das unter diesem Namen in den geistigen Besitz einer kleinen Anzahl gotischer Menschen überging? Um 1100 hatte an der Hochschule zu Bologna ein Deutscher, Irnerius, jene einzige Pandektenhandschrift zum Gegenstand einer echten Rechtsscholastik gemacht. Er übertrug die langobardische Methode auf den neuen Text, »an dessen Wahrheit als einer ratio scripta geglaubt wird wie an die Bibel und den Aristoteles«.Lenel I, S. 395. Wahrheit – aber das gotische Verstehen, an die gotische Lebenshaltung gebunden, war weit davon entfernt, den Geist dieser Sätze, der die Prinzipien eines zivilisierten und weltstädtischen Lebens in sich schloß, auch nur von fern zu ahnen. Diese Glossatorenschule stand wie alle Scholastik im Banne des Begriffsrealismus – das eigentlich Wirkliche, die Substanz der Welt, sind nicht die Dinge, sondern die allgemeinen Begriffe – und es war für sie über allen Zweifel erhaben, daß man das wahre Recht nicht aus Gewohnheit und Sitte wie die »elende und schmutzige« Lombarda, sondern durch Hin- und Herwenden abstrakter Begriffe finde.Das Wortspiel von lombardischer faex und römischer lex ist von Huguccio (1200). Sie hatten ein rein dialektisches Interesse an dem BuchW. Goetz, Archiv für Kulturgeschichte 10, 28 ff. und dachten nicht im geringsten an eine Anwendung ihrer Gelehrsamkeit auf das Leben. Erst nach 1300 dringen ihre Glossen und Summen gegen die lombardischen Rechte der Renaissancestädte langsam vor. Die Juristen der Spätgotik, Bartolus vor allem, haben kanonisches und germanisches Recht zu einem für die praktische Anwendung bestimmten Ganzen verschmolzen. Sie trugen wirkliche Gedanken hinein, und zwar die einer beginnenden Spätzeit, die etwa der Gesetzgebung Drakons und den Erlassen der Kaiser von Diokletian bis Theodosius entspricht. Die Schöpfung des Bartolus ist in Spanien und Deutschland als »römisches Recht« geltend geworden; nur in Frankreich ging die Jurisprudenz des Barock seit Cujacius und Donellus vom scholastischen zum byzantinischen Text zurück.

Neben der abstrakten Leistung des Irnerius ist aber, und zwar auch in Bologna, etwas ganz Entscheidendes geschehen. Hier schrieb um 1140 der Mönch Gratian sein berühmtes Decretum. Er schuf damit die abendländische Wissenschaft vom geistlichen Recht, indem erNach Sohms letzter Abhandlung: Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians (1918). das altkatholische – magische – Kirchenrecht von dem früharabischenVgl. Bd. II, Kap. III, I. Ursakrament der Taufe her in ein System brachte. Nun hatte das neukatholische – faustische – Christentum eine Form gefunden, in der es sein Dasein rechtlich zum Ausdruck brachte. Es geschah von dem gotischen Ursakrament des Altars (und dessen Stütze, der Priesterweihe) aus. 1234 ist im Liber extra das Hauptstück des Corpus juris canonici fertig geworden. Was das Kaisertum nicht vermocht hatte, die Schöpfung eines allgemein abendländischen Corpus juris germanici aus all den reichen Ansätzen der Stammesrechte, das gelang dem Papsttum. Ein vollständiges Privatrecht mit Strafrecht und Prozeßordnung entstand mit germanischer Methode aus dem geistlich-weltlichen Rechtsstoff der Gotik. Es ist das »römische« Recht, dessen Geist seit Bartolus auch das Studium des justinianischen Werkes durchdrang. Und damit erscheint auch im Recht der große faustische Zwiespalt, welcher den riesenhaften Kampf zwischen Kaisertum und Papsttum heraufgeführt hat. Wie in der arabischen Welt der Widerspruch zwischen jus und fas unmöglich, so ist er in der abendländischen unvermeidlich. Sie sind beide Ausdruck eines Willens zur Macht über das Unendliche: der weltliche Rechtswille stammt aus der Sitte und legt seine Hand auf die Generationen der Zukunft, der geistliche stammt aus einer mystischen Gewißheit und gibt ein zeitlos ewiges Gesetz.Vgl. Bd. II, Kap. IV, I. Dieser Kampf ebenbürtiger Gegner ist nie beendet worden und steht uns heute noch im Eherecht, in dem Gegensatz von kirchlicher und ziviler Trauung vor Augen.

Mit dem Anbruch des Barock erhebt das Leben, das städtische und geldwirtschaftliche Formen angenommen hat, die Forderung nach einem Recht, wie es die antiken Stadtstaaten seit Solon gaben. Man versteht jetzt den Zweck des geltenden Rechts, aber an dem verhängnisvollen Erbe der Gotik, daß ein Gelehrtenstand die Schöpfung des »Rechtes, das mit uns geboren ist«, als sein Privilegium betrachtet, vermochte niemand etwas zu ändern.

Der städtische Rationalismus wendet sich wie in der sophistischen und stoischen Philosophie dem Naturrecht zu, von seiner Begründung durch Oldendorp und Bodinus bis zu seiner Zerstörung durch Hegel. In England hat sein größter Jurist, Coke, das germanische, sich in der Praxis fortbildende Recht gegen den letzten Versuch verteidigt, den die Tudors zur Einführung des Pandektenrechts machten. Auf dem Festlande aber entwickelten sich die gelehrten Systeme in römischen Formen bis zu den deutschen Landrechten und den Entwürfen des ancien régime, auf die Napoleon sich stützte. Und so ist Blackstones Kommentar zu den Laws of England (1765) der einzige rein germanische Kodex an der Schwelle der abendländischen Zivilisation.


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