Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Zweiter Band
Oswald Spengler

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Viertes Kapitel: Der Staat

I. Das Problem der Stände: Adel und Priestertum

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Ein unergründliches Geheimnis der kosmischen FlutungenVgl. Bd. II, S. 557 und Anm. S. 557., die wir Leben nennen, ist ihre Sonderung in zwei Geschlechter. Schon in den erdverbundenen Daseinsströmen der Pflanzenwelt strebt es auseinander, wie das Sinnbild der Blüte zeigt: etwas das dieses Dasein ist, und etwas, das es aufrecht erhält. Tiere sind frei, kleine Welten inmitten einer großen; Kosmisches, als Mikrokosmos abgeschlossen und dem Makrokosmos gegenübergestellt. Hier steigert sich, und zwar im Verlauf der Tiergeschichte mit immer größerer Entschiedenheit, das Zweierlei der Richtungen zu zweierlei Wesen, männlichen und weiblichen.

Das Weibliche steht dem Kosmischen näher. Es ist der Erde tiefer verbunden und unmittelbar einbezogen in die großen Kreisläufe der Natur. Das Männliche ist freier, tierhafter, beweglicher auch im Empfinden und Verstehen, wacher und gespannter.

Der Mann erlebt das Schicksal und begreift die Kausalität, die Logik des Gewordnen nach Ursache und Wirkung. Das Weib aber ist Schicksal, ist Zeit, ist die organische Logik des Werdens selbst. Eben deshalb bleibt das Kausalprinzip ihm ewig fremd. So oft sich der Mensch das Schicksal faßlich zu machen sucht, er hat immer den Eindruck von etwas Weiblichem empfangen, von Moiren, Parzen und Nornen. Der höchste Gott ist nie das Schicksal selbst, sondern er vertritt oder beherrscht es – wie der Mann das Weib. Das Weib ist in ursprünglichen Zeiten auch die Seherin, nicht weil es die Zukunft kennt, sondern weil es sie ist. Der Priester deutet nur, das Weib aber ist Orakel. Die Zeit selbst redet aus ihm.

Der Mann macht Geschichte, das Weib ist Geschichte. In geheimnisvoller Weise enthüllt sich hier ein doppelter Sinn alles lebendigen Geschehens: es ist kosmisches Dahinströmen an sich, und dann doch wieder die Reihenfolge der Mikrokosmen selbst, die das Strömen in sich faßt, schützt und erhält. Diese »zweite« Geschichte ist die eigentlich männliche, die politische und soziale; sie ist bewußter, freier, bewegter. Sie reicht tief in die Anfänge der Tierwelt zurück und empfängt in den Lebensläufen der hohen Kulturen ihre höchste sinnbildliche und welthistorische Gestalt. Weiblich ist die erste, die ewige, mütterliche, pflanzenhafte – die Pflanze selbst hat immer etwas Weibliches –, die kulturlose Geschichte der Folge von Generationen, die sich nie ändert, die durch das Dasein aller Tier- und Menschenarten, durch alle kurzlebigen Einzelkulturen gleichmäßig und still hindurchgeht. Blickt man zurück, so ist sie gleichbedeutend mit dem Leben selbst. Auch sie hat ihre Kämpfe und ihre Tragik. Das Weib erringt seinen Sieg im Wochenbett. Bei den Azteken, den Römern der mexikanischen Kultur, wurde die gebärende Frau als tapferer Krieger begrüßt und die an der Geburt gestorbene unter denselben Formeln bestattet wie die in der Schlacht gefallenen Helden. Des Weibes ewige Politik ist die Eroberung des Mannes, durch den sie Mutter von Kindern, durch den sie also Geschichte, Schicksal, Zukunft sein kann. Ihre tiefe Klugheit und Kriegslist richtet sich stets auf den Vater ihres Sohnes. Der Mann aber, der mit dem Schwergewicht seines Wesens der andern Geschichte angehört, will seinen Sohn haben als Erben, als Träger seines Blutes und seiner geschichtlichen Tradition.

Hier kämpfen in Mann und Weib die beiden Arten von Geschichte um die Macht. Das Weib ist stark und ganz, was es ist, und es erlebt den Mann und die Söhne nur in bezug auf sich und seine Bestimmung. Im Wesen des Mannes liegt etwas Zwiespältiges. Er ist dies und noch etwas andres, was das Weib weder begreift noch anerkennt und als Raub und Gewalt an seinem Heiligsten empfindet. Das ist der geheime Urkrieg der Geschlechter, der ewig dauert, seit es Geschlechter gibt, schweigend, erbittert, ohne Versöhnung, ohne Gnade. Es gibt auch da Politik, Schlachten, Bündnisse, Vertrag und Verrat. Die Rassegefühle von Haß und Liebe, die beide aus den Tiefen der Weltsehnsucht, aus dem Urgefühl der Richtung stammen, herrschen zwischen den Geschlechtern unheimlicher noch als in der andern Geschichte zwischen Mann und Mann. Es gibt Liebeslyrik und Kriegslyrik, Liebestänze und Waffentänze und zwei Arten der Tragödie – Othello und Macbeth –, aber bis an die Abgründe von Klytämnestras und Kriemhilds Rache reicht nichts in der politischen Welt.

Deshalb verachtet das Weib diese andre Geschichte, die Politik des Mannes, die sie nie versteht, von der sie nur weiß, daß sie ihr die Söhne raubt. Was ist ihr eine siegreiche Schlacht, die den Sieg in tausend Wochenbetten vernichtet? Die Geschichte des Mannes opfert die des Weibes sich auf, und es gibt ein weibliches Heldentum, das die Söhne mit Stolz zum Opfer bringt – Katharina Sforza auf den Wällen von Imola –, aber trotzdem ist es die ewige, geheime, bis in die Anfänge der Tierwelt zurückreichende Politik des Weibes, den Mann von ihr abzuziehen, um ihn ganz in die eigne, pflanzenhafte der Geschlechterfolgen einzuspinnen, das heißt in sich selbst. Und trotzdem erfolgt alles in der andern Geschichte nur, um diese ewige Geschichte des Zeugens und Sterbens zu schützen und zu erhalten, man mag es ausdrücken wie man will, für Haus und Herd, für Weib und Kind, für das Geschlecht, das Volk, die Zukunft. Der Kampf zwischen Mann und Mann geschieht stets um des Blutes, um des Weibes willen. Das Weib als Zeit ist das, wofür es Staatengeschichte gibt.

Das Weib von Rasse fühlt das, auch wenn sie es nicht weiß. Sie ist das Schicksal, sie spielt das Schicksal. Es beginnt mit dem Kampfe zwischen den Männern um ihren Besitz – Helena; die Carmentragödie; Katharina IL, Napoleon und Désirée Clary, die Bernadotte zuletzt auf die feindliche Seite zog –, der schon die Geschichte ganzer Tiergattungen ausfüllt, und endet mit ihrer Macht als Mutter, Gattin, Geliebte über das Schicksal von Reichen: die Hallgerd der Njalssaga; die Frankenkönigin Brunhilde; Marozia, die den päpstlichen Stuhl an Männer ihrer Wahl vergibt. Der Mann steigt in seiner Geschichte empor, bis er die Zukunft eines Landes in Händen hält – dann kommt ein Weib und zwingt ihn auf die Knie. Mögen darüber Völker und Staaten zugrunde gehen, sie hat in ihrer Geschichte gesiegt. Der politische Ehrgeiz des Weibes von Rasse hat im letzten Grunde nie ein anderes Ziel.Erst das Weib ohne Rasse, das Kinder nicht haben kann oder will, das nicht mehr Geschichte ist, möchte die Geschichte der Männer machen, nachmachen. Und umgekehrt hat es einen tiefen Grund, wenn man die antipolitische Gesinnung von Denkern, Doktrinären und Menschheitsschwärmern als altweiberhaft bezeichnet. Sie wollen die andere Geschichte, die des Weibes, nachmachen, obwohl sie es nicht – können.

Geschichte besitzt demnach einen heiligen Doppelsinn. Sie ist kosmisch oder politisch. Sie ist das Dasein oder bewahrt das Dasein. Es gibt zwei Arten von Schicksal, zweierlei Krieg, zweierlei Tragik: öffentliche und private. Nichts kann diesen Gegensatz aus der Welt schaffen. Er ist von Anfang an im Wesen des tierischen Mikrokosmos begründet, der zugleich etwas Kosmisches ist. Er tritt in allen bedeutenden Lagen in Gestalt eines Konflikts der Pflichten hervor, der nur für den Mann, nicht für das Weib vorhanden ist, und er wird im Verlauf der hohen Kulturen nicht überwunden, sondern beständig vertieft. Es gibt ein öffentliches und ein Privatleben, öffentliches und privates Recht, Gemeinde- und Hauskulte. Als Stand ist das Dasein »in Form« für die eine, als Stamm ist es in Fluß als die andere Geschichte. Das ist der altgermanische Unterschied der »Schwertseite« und »Spindelhälfte« einer Blutsverwandtschaft. Seinen höchsten Ausdruck findet dieser Doppelsinn der gerichteten Zeit in den Ideen des Staats und der Familie.

Die Gliederung der Familie ist in lebendigem, was die Gestalt des Hauses in totem Stoff ist.Vgl. Bd. II, S. 698. Ein Wandel in Aufbau und Bedeutung des Familiendaseins, und der Grundriß des Hauses wird anders. Der antiken Wohnweise entsprach die Agnatenfamilie antiken Stils, die in hellenischen Stadtrechten noch schärfer ausgeprägt war wie in dem jüngeren römischen.Mitteis, Reichsrecht und Volksrecht (1891), S. 63. Sie ist ganz auf den gegenwärtigen Stand, das euklidische Jetzt und Hier gestellt, ebenso wie die als Summe gegenwärtig vorhandener Körper aufgefaßte Polis. Blutsverwandtschaft ist also für sie weder notwendig noch ausreichend; sie hört auf mit der Grenze der patria potestas, des »Hauses«. Die Mutter ist an sich mit ihren leiblichen Kindern agnatisch nicht verwandt; nur insofern sie der patria potestas des lebenden Gatten untersteht, ist sie die agnatische Schwester ihrer Kinder.Sohm, Institutionen (1911), S. 614. Dem consensus dagegen entspricht die magische Kognatenfamilie (hebräisch Mischpacha), die durch väterliche und mütterliche Blutsgemeinschaft weithin dargestellt und einen »Geist« besitzt, einen consensus im Kleinen, aber kein bestimmtes Oberhaupt.Auf diesem Prinzip beruht der Dynastiebegriff der arabischen Welt (der Ommaijaden, Komnenen, Sassaniden), der uns schwer begreiflich ist. Wenn ein Usurpator den Thron erobert hat, so vermählt er sich mit irgend einem weiblichen Mitgliede aus der Blutsgemeinschaft und setzt so die Dynastie fort. Von einer gesetzlichen Erbfolge ist der Idee nach nicht die Rede. Vgl. auch J. Wellhausen, Ein Gemeinwesen ohne Obrigkeit (1900). Es ist für das Erlöschen der antiken und die Entfaltung der magischen Seele bezeichnend, daß das »römische« Recht der Kaiserzeit von der Agnation allmählich zur Kognation übergeht. Noch einige Novellen Justinians (118, 127) schaffen eine Neuregelung des Erbrechts infolge des Sieges der magischen Familienidee.

Auf der andern Seite erblicken wir Massen von Einzelwesen, die werdend und vergehend, aber Geschichte machend dahinströmen. Je reiner, tiefer, stärker, selbstverständlicher der gemeinsame Takt dieser Geschlechterfolgen, desto mehr »Blut«, desto mehr Rasse haben sie. Aus der Unendlichkeit aller heben sich beseelte Einheiten ab,Vgl. Bd. II, S. 577. Scharen, die sich im gleichen Wellenschlag des Daseins als Ganzes fühlen, nicht geistige Gemeinschaften wie Orden, Künstlergilden und Gelehrtenschulen, die durch gleiche Wahrheiten verbunden sind, sondern Blutverbände mitten im kämpfenden Leben.

Es sind Daseinsströme »in Form«, um einen Sportausdruck zu gebrauchen, der in die Tiefe dringt. In Form ist ein Feld von Rennpferden, das sicher in den Gelenken mit feinem Schwung über die Hürde geht und sich dann wieder im gleichen Takt der Hufe über die Ebene bewegt. In Form sind Ringer, Fechter und Ballspieler, denen das Gewagteste leicht und selbstverständlich von der Hand geht. In Form ist eine Kunstepoche, für welche die Tradition Natur ist wie der Kontrapunkt für Bach. In Form ist eine Armee, wie sie Napoleon bei Austerlitz und Moltke bei Sedan hatten. So gut wie alles, was in der Weltgeschichte geleistet worden ist, im Krieg und in jener Fortsetzung des Krieges durch geistige Mittel, die wir Politik nennen, alle erfolgreiche Diplomatie, Taktik, Strategie, sei es die von Staaten, Ständen oder Parteien, rührt von lebendigen Einheiten her, die sich in Form befanden.

Das Wort für die rassemäßige Art von Erziehung ist Zucht, Züchtung, im Unterschied von Bildung, die durch die Gleichheit des Gelernten oder Geglaubten Wachseinsgemeinschaften begründet. Zur Bildung gehören Bücher, zur Zucht gehört der stetige Takt und Einklang der Umgebung, in die man sich hineinfühlt, hinein lebt: Klostererziehung und Pagenerziehung der frühen Gotik. Alle guten Formen einer Gesellschaft, jedes Zeremoniell ist versinnlichter Takt einer Art von Dasein. Um sie zu beherrschen, muß man Takt haben. Deshalb gewöhnen sich Frauen, weil sie triebhafter und dem Kosmischen näher sind, schneller an die Formen einer neuen Umgebung. Frauen aus der Tiefe bewegen sich nach ein paar Jahren mit voller Sicherheit in einer vornehmen Welt, aber sie sinken ebenso schnell wieder herab. Der Mann ändert sich schwerer, weil er wacher ist. Der Proletarier wird nie ganz Aristokrat, der Aristokrat nie ganz Proletarier. Erst die Söhne haben den Takt der neuen Umgebung.

Je tiefer die Form, desto strenger und abweisender ist sie. Dem nicht Zugehörigen erscheint sie als Sklaverei; der Zugehörige beherrscht sie mit vollkommener Freiheit und Leichtigkeit. Der Fürst von Ligne war ebenso wie Mozart Herr, nicht Sklave der Form; und das gilt von jedem geborenen Aristokraten, Staatsmann und Heerführer.

Deshalb gibt es in allen hohen Kulturen ein Bauerntum, das Rasse überhaupt und also gewissermaßen Natur ist, und eine Gesellschaft, die in anspruchsvoller Weise »in Form« ist, als Gruppe von Klassen oder Ständen und ohne Zweifel künstlicher und vergänglicher. Aber die Geschichte dieser Klassen und Stände ist Weltgeschichte in höchster Potenz. Erst im Hinblick auf sie erscheint das Bauerntum als geschichtslos. Die gesamte Geschichte großen Stils von sechs Jahrtausenden hat sich in den Lebensläufen der hohen Kulturen vollzogen, nur weil diese Kulturen selbst ihren schöpferischen Mittelpunkt in Ständen haben, die Zucht besitzen, in Vollendung gezüchtet worden sind. Eine Kultur ist Seelentum, das in sinnbildlichen Formen zum Ausdruck gelangt, aber diese Formen sind lebendig und in Entwicklung begriffen, auch die der Kunst, deren wir uns erst durch ihre Abziehung von der Kunst geschichte bewußt geworden sind; sie liegen im gesteigerten Dasein von Einzelnen und Kreisen, eben in dem, was soeben »Dasein in Form« genannt worden ist und durch diese Höhe des Geformtseins erst die Kultur repräsentiert.

Das ist etwas Großes und Einziges innerhalb der organischen Welt. Es ist der einzige Punkt, wo der Mensch sich über die Mächte der Natur erhebt und selbst Schöpfer wird. Noch als Rasse ist er Schöpfung der Natur; da wird er gezüchtet; als Stand aber züchtet er sich selbst, ganz wie die edlen Tier- und Pflanzenrassen, mit denen er sich umgeben hat; und eben das ist im höchsten und letzten Sinne Kultur. Kultur und Klasse sind Wechselbegriffe; sie entstehen als Einheit, sie vergehen als Einheit. Die Züchtung erlesener Wein-, Obst- und Blumenarten, die Züchtung von Pferden reinen Blutes ist Kultur, und in genau demselben Sinne entsteht erlesene menschliche Kultur als Ausdruck eines Daseins, das sich selbst in große Form gebracht hat.

Aber eben deshalb gibt es in jeder Kultur ein starkes Gefühl dafür, ob jemand dazu gehört oder nicht. Der antike Begriff des Barbaren, der arabische des Ungläubigen – des Amhaarez oder Giaur –, der indische des Tschudra mögen noch so verschieden gedacht sein, sie drücken zunächst weder Haß noch Verachtung aus, sondern stellen eine Verschiedenheit im Takt des Daseins fest, die eine unüberschreitbare Grenze in allen tiefen Dingen zieht. Diese ganz klare und eindeutige Tatsache ist durch den indischen Begriff der »vierten Kaste« verdunkelt worden, die es in Wirklichkeit, wie wir heute wissen, nie gegeben hat.R. Fick, Die soziale Gliederung im nordöstlichen Indien zu Buddhas Zeit (1897), S. 201. K. Hillebrandt, Alt-Indien (1899), S. 82. Das Gesetzbuch des Manu mit seinen berühmten Bestimmungen über die Behandlung des Tschudra entstammt dem ausgebildeten Fellachentum Indiens und zeichnet ohne Rücksicht auf die rechtlich vorhandene oder auch nur erreichbare Wirklichkeit das dünkelhafte Brahmanenideal durch seinen Gegensatz, wie es mit dem Begriff des arbeitenden Banausen in der spätantiken Philosophie nicht viel anders gewesen ist. Das hat für uns dort zum Mißverstehen der Kaste als einer spezifisch indischen Erscheinung, hier zu einer grundfalschen Meinung von der Stellung des antiken Menschen zur Arbeit geführt.

Es handelt sich in allen Fällen um den Rest, der für das innere Leben der Kultur und ihre Symbolik nicht in Betracht kommt und von dem bei jeder bedeutungsvollen Einteilung von vornherein abgesehen wird, etwa das, was man heute in Ostasien outcast nennt. In dem gotischen Begriff des corpus christianum ist ausgesprochen, daß der jüdische Konsensus nicht dazu gehört. Innerhalb der arabischen Kultur ist im Bereiche der jüdischen, persischen, christlichen und vor allem islamischen Nation der Andersgläubige nur geduldet und im übrigen mit Verachtung seiner eigenen Verwaltung und Rechtsprechung überlassen. In der Antike sind » outcast« nicht nur Barbaren, sondern in gewissem Sinne auch die Sklaven, vor allem aber Reste der Urbevölkerung wie die Penesten in Thessalien und die Heloten in Sparta, deren Behandlung durch ihre Herren wieder an die Haltung der Normannen im angelsächsischen England und der Ordensritter im slawischen Osten erinnert. Im Gesetzbuch des Manu erscheinen als Namen von Tschudraklassen alte Völkernamen des »Kolonialgebiets« am unteren Ganges, darunter Magadha – danach könnte Buddha so gut wie der Cäsar Asoka, dessen Großvater Tschandragupta von niedrigster Herkunft war, ein Tschudra gewesen sein – andre sind Namen von Berufen und das erinnert daran, daß auch im Abendland und anderswo gewisse Berufe outcast waren, so die Bettler – bei Homer ein Stand! –, Schmiede, Sänger und die berufsmäßig Erwerbslosen, die in frühgotischer Zeit durch die Caritas der Kirche und die Wohltätigkeit frommer Laien in Massen förmlich gezüchtet worden sind.

Aber endlich ist Kaste überhaupt ein Wort, das weniger gebraucht als mißbraucht worden ist. Kasten haben im Ägypten des Alten und Mittleren Reiches ebensowenig bestanden wie im vorbuddhistischen Indien und in China vor der Hanzeit. Erst in sehr späten Zuständen tauchen sie auf, dann aber auch in allen Kulturen. Von der 21. Dynastie an (um 1100) befindet sich Ägypten bald in den Händen der thebanischen Priester-, bald der libyschen Kriegerkaste, und die Erstarrung ist dann beständig fortgeschritten bis zu den Tagen Herodots, der den Zustand seiner Zeit ebenso falsch als spezifisch ägyptisch betrachtet hat, wie wir heute den indischen. Stand und Kaste unterscheiden sich wie früheste Kultur und späteste Zivilisation. In der Heraufkunft der Urstände Adel und Priestertum entfaltet sich die Kultur, in den Kasten drückt sich das endgültige Fellachentum aus. Der Stand ist das Lebendigste von allem, Kultur in Vollendung begriffen, »geprägte Form, die lebend sich entwickelt«; die Kaste ist das absolute Fertigsein, die Zeit der Vollendung als unbedingte Vergangenheit.

Die großen Stände sind aber auch etwas ganz andres als die Berufsgruppen etwa der Handwerker, Beamten, Künstler, die durch technische Tradition und den Geist ihrer Arbeit zunftmäßig zusammengehalten werden: nämlich Symbole in Fleisch und Blut, deren gesamtes Sein nach Erscheinung, Haltung und Denkart sinnbildliche Bedeutung besitzt. Und zwar ist innerhalb jeder Kultur das Bauerntum ein reines Stück Natur und Wachstum und also unpersönlicher Ausdruck, Adel und Priestertum aber das Ergebnis einer hohen Zucht oder Bildung und also Ausdruck einer ganz persönlichen Kultur, die nicht nur den Barbaren, den Tschudra, sondern nun auch alle andern dem Stand nicht Zugehörigen als Rest, vom Adel aus gesehen als »Volk«, vom Priester aus als Laientum durch die Höhe der Form abweist. Und dieser Stil der Persönlichkeit ist es, der im Fellachentum versteinert und zum Typus einer Kaste wird, die nun unverändert durch alle Jahrhunderte fortbesteht. Wenn innerhalb der lebendigen Kultur sich Rasse und Stand als das unpersönliche und persönliche gegenüberstehen, so in Fellachenzeiten die Masse und die Kaste, der Kuli und der Brahmane oder Mandarin als das Formlose und das Förmliche. Die lebendige Form ist zur Formel geworden, die ebenfalls Stil besitzt, aber stilvolle Starrheit, den versteinerten Stil der Kaste, etwas von höchster Feinheit, Würde und Durchgeistigung, den im Werden begriffenen Menschen einer Kultur sich unendlich überlegen fühlend – wir machen uns kaum eine Vorstellung davon, aus welcher Höhe ein Mandarin oder Brahmane auf europäisches Denken und Tun herabblickt, und wie gründlich die ägyptischen Priester ihre Besucher wie Pythagoras und Plato verachtet haben müssen – aber unbewegt durch alle Zeiten schreitend mit der byzantinischen Erhabenheit einer Seele, die alle Rätsel und Probleme längst hinter sich hat.


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