Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Zweiter Band
Oswald Spengler

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II. Staat und Geschichte

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Innerhalb der Welt als Geschichte, in die wir lebend verwoben sind, so daß unser Empfinden und Verstehen beständig dem Fühlen gehorcht, erscheinen die kosmischen Flutungen als das, was wir Wirklichkeit, wirkliches Leben nennen, Daseinsströme in leiblicher Gestalt. Man kann sie, die das Merkmal der Richtung tragen, verschieden erfassen: hinsichtlich der Bewegung oder des Bewegten. Jenes heißt Geschichte, dieses Geschlecht, Stamm, Stand, Volk, aber eins ist nur durch das andre möglich und vorhanden. Geschichte gibt es nur von etwas. Meinen wir die Geschichte der großen Kulturen, so ist Nation das Bewegte. Staat, status heißt Zustand. Den Eindruck des Staates erhält man, wenn man von einem in bewegter Form dahinströmenden Dasein die Form für sich ins Auge faßt, als etwas in zeitlosem Beharren Ausgedehntes, und von der Richtung, dem Schicksal ganz absieht. Der Staat ist die Geschichte als stillstehend, Geschichte der Staat als fließend gedacht. Der wirkliche Staat ist die Physiognomie einer geschichtlichen Daseinseinheit; nur der ausgedachte Staat der Theoretiker ist ein System.

Eine Bewegung hat Form, das Bewegte ist in Form oder, um wieder einen Sportausdruck von Bedeutung anzuwenden: ein vollendet Bewegtes befindet sich in vollkommener Verfassung. Das gilt von einem Rennpferde oder Ringer ebenso wie von einem Heer oder Volk. Die vom Lebensstrom eines Volkes abgezogene Form ist dessen Verfassung in bezug auf das Ringen in und mit der Geschichte. Verstandesmäßig abziehen aber läßt sie sich nur zum kleinsten Teile. Keine wirkliche Verfassung, für sich betrachtet und als System zu Papier gebracht, ist vollständig. Das Ungeschriebene, Unbeschreibliche, Gewohnte, Gefühlte, Selbstverständliche überwiegt in dem Grade – was Theoretiker nie begreifen werden –, daß eine Staatsbeschreibung oder Verfassungsurkunde nicht einmal ein Schattenbild von dem geben, was der lebendigen Wirklichkeit eines Staates als wesentliche Form zugrunde liegt, so daß eine Daseinseinheit für die Geschichte verdorben wird, wenn man ihre Bewegung einer geschriebenen Verfassung ernstlich unterwirft.

Das Einzelgeschlecht ist die kleinste, das Volk die größte Einheit im Strom der Geschichte.Vgl. Bd. II, S. 746 ff. Und zwar unterliegen Urvölker einer Bewegung, die im höheren Sinne geschichtslos ist, langatmig oder stürmisch, aber ohne organischen Zug, ohne tiefere Bedeutung. Immerhin sind Urvölker durch und durch bewegt bis zu dem Grade, daß sie dem flüchtigen Betrachter gänzlich formlos erscheinen; Fellachenvölker dagegen sind starre Objekte einer von außen kommenden Bewegung, die ohne Sinn und in zufälligen Stößen sich an ihnen übt. Zu jenen gehört der » Status« der mykenischen, der Thinitenzeit, der chinesischen Schang-Dynastie etwa bis zur Übersiedlung nach Yin (1400), das Frankenreich Karls des Großen, das Westgotenreich Eurichs und das petrinische Rußland, staatliche Formen von oft großartiger Leistungsfähigkeit, aber noch ohne Symbolik, ohne Notwendigkeit; zu diesen das römische, chinesische und die andern Imperien, deren Form keinerlei Ausdrucksgehalt mehr besitzt.

Dazwischen aber liegt die Geschichte der hohen Kulturen. Ein Volk im Stile einer Kultur, ein historisches Volk also heißt Nation.Vgl. Bd. II, S. 761 ff. Eine Nation besitzt, insofern sie lebt und kämpft, einen Staat nicht nur als Bewegungszustand, sondern vor allem als Idee. Mag der Staat im einfachsten Sinne so alt sein wie das frei im Raum bewegliche Leben überhaupt, so daß Schwärme und Herden selbst sehr einfacher Tiergattungen in irgendeiner »Verfassung« sind, die bei Ameisen, Bienen, manchen Fischen, Wandervögeln und Bibern eine erstaunliche Vollkommenheit erreicht: der Staat großen Stils ist nur so alt wie die Urstände Adel und Priestertum, nicht älter: sie entstehen mit einer Kultur, sie vergehen mit ihr, ihre Schicksale sind in hohem Maße identisch. Kultur ist das Dasein von Nationen in staatlicher Form.

Ein Volk ist als Staat, eine Geschlecht als Familie »in Form«. Das ist, wie wir sahen, der Unterschied von politischer und kosmischer Geschichte, öffentlichem und privatem Leben, res publica und res privata. Und zwar sind beide Symbole der Sorge. Das Weib ist Weltgeschichte. Es sorgt durch Empfängnis und Geburt für die Dauer des Blutes. Die Mutter, das Kind an der Brust, ist das große Sinnbild kosmischen Lebens. Nach dieser Seite hin ist das Leben von Mann und Weib »in Form« als Ehe. Der Mann aber macht die Geschichte, die ein nie endender Kampf um die Erhaltung jenes andern Lebens ist. Zur mütterlichen tritt die väterliche Sorge. Der Mann, die Waffe in der Hand, ist das andre große Sinnbild des Willens zur Dauer. Ein Volk »in Verfassung« ist ursprünglich eine Kriegerschaft, die tiefinnerlich gefühlte Gemeinschaft der Wehrfähigen. Staat ist eine Männersache, ist Sorge um die Erhaltung des Ganzen, auch um jene seelische Selbsterhaltung, die man als Ehre und Selbstachtung bezeichnet, ist Vereitelung von Angriffen, Voraussicht von Gefahren und vor allem der eigne Angriff, der jedem im Aufstieg begriffenen Leben natürlich und selbstverständlich ist.

Wäre alles Leben ein gleichförmiger Daseinsstrom, so würden wir die Worte Volk, Staat, Krieg, Politik, Verfassung nicht kennen. Aber das ewige und gewaltige Verschiedensein des Lebens, das durch die Gestaltungskraft der Kulturen bis aufs Äußerste gesteigert wird, ist eine Tatsache, die mit all ihren Folgen geschichtlich schlechthin gegeben ist. Pflanzenleben gibt es nur in bezug auf tierisches; die beiden Urstände bedingen sich gegenseitig; ebenso ist ein Volk nur wirklich in bezug auf andre Völker, und diese Wirklichkeit besteht in natürlichen und unaufhebbaren Gegensätzen, in Angriff und Abwehr, Feindschaft und Krieg. Der Krieg ist der Schöpfer aller großen Dinge. Alles Bedeutende im Strom des Lebens ist durch Sieg und Niederlage entstanden.

Ein Volk gestaltet Geschichte, soweit es sich in Verfassung befindet. Es erlebt eine innere Geschichte, die es in diesen Zustand versetzt, in dem allein es schöpferisch wird, und eine äußere Geschichte, die in Schöpfung besteht. Die Völker als Staaten sind deshalb die eigentlichen Mächte alles menschlichen Geschehens. Es gibt in der Welt als Geschichte nichts über ihnen. Sie sind das Schicksal.

Res publica, das öffentliche Leben, die »Schwertseite« menschlicher Daseinsströme, ist in Wirklichkeit unsichtbar. Der Fremde sieht nur die Menschen, nicht ihren innern Zusammenhang. Dieser ruht vielmehr tief im Strome des Lebens und wird dort mehr gefühlt als verstanden. Ebenso sehen wir in Wirklichkeit nicht die Familie, sondern nur einige Menschen, deren Zusammenhalt in einem ganz bestimmten Sinne wir aus innerer Erfahrung kennen und begreifen. Aber es gibt für jedes dieser Gebilde einen Kreis von Zugehörigen, die durch gleiche Verfassung des äußeren und inneren Seins zur Lebenseinheit verbunden sind. Diese Form, in welcher das Dasein dahinströmt, heißt Sitte, wenn sie unwillkürlich aus dessen Takt und Gang entsteht und dann erst ins Bewußtsein tritt, Recht, wenn sie mit Absicht gesetzt und zur Anerkennung gebracht wird. Recht ist die gewollte Form des Daseins, gleichviel ob sie gefühlsmäßig und triebhaft anerkannt – ungeschriebenes Recht, Gewohnheitsrecht, equity – oder durch Nachdenken abgezogen, vertieft und in ein System gebracht worden ist – Gesetz. Das sind zweierlei Rechtstatsachen von zeithafter Symbolik, zwei Arten von Sorge, Vorsorge, Fürsorge, aber schon aus dem Gradunterschied der Bewußtheit in ihnen ergibt sich, daß im ganzen Verlauf wirklicher Geschichte sich zwei Rechte feindlich gegenüberstehen müssen: das Recht der Väter, der Tradition, das verbriefte, ererbte, gewachsene, bewährte Recht, das heilig ist, weil es von je war, aus Erfahrung des Blutes stammend und deshalb den Erfolg verbürgend, und das erdachte, entworfene Vernunft-, Natur- und allgemeine Menschenrecht, aus Nachdenken hervorgegangen und deshalb der Mathematik verwandt, vielleicht nicht erfolgreich, aber »gerecht«. In ihnen beiden reift der Gegensatz von Landleben und Stadtleben, Lebenserfahrung und gelehrter Erfahrung bis zu jener revolutionären Höhe der Erbitterung, wo man sich ein Recht nimmt, das nicht gegeben wird, und eins zertrümmert, das nicht weichen will.

Ein Recht, das von einer Gemeinschaft gesetzt ist, bedeutet eine Pflicht für jeden Zugehörigen, aber es ist kein Beweis für dessen Macht. Vielmehr ist es eine Schicksalsfrage, wer es setzt und für wen es gesetzt wird. Es gibt Subjekte und Objekte der Recht setzung, obwohl ein jeder Objekt der Rechts geltung ist, und zwar gilt das ohne Unterschied vom inneren Recht der Familien, Zünfte, Stände und Staaten. Für den Staat als das höchste in der geschichtlichen Wirklichkeit vorhandene Rechtssubjekt tritt aber noch ein Außenrecht hinzu, das er dem Fremden feindlich auferlegt. Zu jenem gehört das bürgerliche Recht, zu diesem der Friedensvertrag. In jedem Falle aber ist das Recht des Stärkeren auch das des Schwächeren. Recht haben ist ein Ausdruck von Macht. Das ist eine geschichtliche Tatsache, die jeder Augenblick bestätigt, aber sie wird im Reiche der Wahrheit – das nichtvon dieser Welt ist – nicht anerkannt. Unversöhnt stehen sich auch in der Auffassung des Rechts Dasein und Wachsein, Schicksal und Kausalität gegenüber. Zur priesterlichen und ideologischen Moral von gut und böse gehört der moralische Unterschied von Recht und Unrecht; zur Rassemoral von gut und schlecht gehört der Rangunterschied von Gebern und Empfängern des Rechts. Ein abstraktes Ideal von Gerechtigkeit geht durch die Köpfe und Schriften aller Menschen, deren Geist edel und stark und deren Blut schwach ist, durch alle Religionen, durch alle Philosophien, aber die Tatsachenwelt der Geschichte kennt nur den Erfolg, der das Recht des Stärkeren zum Recht aller macht. Sie geht erbarmungslos über die Ideale hin, und wenn je ein Mensch oder Volk auf die Macht der Stunde verzichtet hat, um gerecht zu sein, so war ihm wohl der theoretische Ruhm in jener zweiten Welt der Gedanken und Wahrheiten gewiß, aber auch der Augenblick, wo er einer andern Lebensmacht erlag, die sich besser auf Wirklichkeiten verstand als er.

Solange eine geschichtliche Macht den ihr ein- und untergeordneten Einheiten so überlegen ist wie der Staat und Stand sehr oft den Familien und Berufsklassen oder das Familienhaupt den Kindern, ist ein gerechtes Recht zwischen den Schwächeren aus der allmächtigen Hand des Unbeteiligten möglich. Aber Stände fühlen selten und Staaten so gut wie nie eine Macht von diesem Range über sich, und zwischen ihnen gilt also mit unmittelbarer Gewalt das Recht des Stärkeren, wie es sich in einseitig festgesetzten Verträgen und mehr noch in deren Auslegung und Innehaltung durch den Sieger zeigt. Das unterscheidet Innen- und Außenrechte der geschichtlichen Lebenseinheiten. In jenen kommt der Wille eines Schiedsrichters zur Geltung, unparteiisch und gerecht zu sein, obwohl man sich sehr über den Grad von Unparteilichkeit täuscht, die selbst in den besten Gesetzbüchern der Geschichte wirksam gewesen ist, auch in jenen, die sich bürgerlich nennen und damit schon andeuten, daß ein Stand sie kraft seiner Übermacht für alle geschaffen hat.Deshalb verwerfen sie die Rechte von Adel und Geistlichkeit und verteidigen die von Geld und Geist, mit einer ausgesprochenen Parteinahme für den beweglichen gegenüber dem unbeweglichen Besitz. Innenrechte sind das Ergebnis eines streng logisch-kausalen, auf Wahrheit gerichteten Denkens, aber eben deshalb bleibt ihre Geltung jederzeit abhängig von der materiellen Macht ihres Urhebers, sei er Stand oder Staat. Eine Revolution vernichtet mit dieser Macht sofort auch die Macht der Gesetze. Sie bleiben wahr, aber sie sind nicht mehr wirklich. Außenrechte wie alle Friedensverträge aber sind dem Wesen nach nie wahr und stets wirklich – wirklich oft im erschreckenden Sinne – und erheben gar nicht den Anspruch, gerecht zu sein. Es genügt, daß sie wirksam sind. Aus ihnen spricht das Leben, das keine kausale und moralische Logik besitzt, aber eine um so folgerichtigere organische. Es will selbst Geltung besitzen; es fühlt mit innerlicher Gewißheit, was es dazu braucht, und im Hinblick darauf weiß es, was ihm recht ist und für andere deshalb recht zu sein hat. Diese Logik erscheint in jeder Familie, namentlich in den alten rasseechten Bauerngeschlechtern, sobald die Autorität erschüttert ist und ein anderer als das Oberhaupt bestimmen will, »was ist«. Sie erscheint in jedem Staate, sobald eine einzelne Partei die Lage beherrscht. Jede Feudalzeit ist erfüllt von dem Kampf zwischen Lehnsherrn und Vasallen um das »Recht auf das Recht«. Dieser Kampf endet in der Antike fast überall mit dem unbedingten Sieg des ersten Standes, der dem Königtum die Gesetzgebung entzieht und es selbst zum Objekt der eigenen Rechtsetzung macht, wie Ursprung und Bedeutung der Archonten in Athen und der Ephoren in Sparta mit Sicherheit beweisen, auf abendländischem Boden aber vorübergehend auch in Frankreich mit der Einsetzung der Generalstände (1302) und für immer in England, wo die normannischen Barone und der hohe Klerus 1215 die Magna Charta erzwangen, aus welcher die tatsächliche Souveränität des Parlaments hervorgegangen ist. Aus diesem Grunde ist das alte normannische Standesrecht hier dauernd in Geltung geblieben. Dagegen war es die Verteidigung der schwachen kaiserlichen Gewalt in Deutschland gegen die Ansprüche der großen Lehnsträger, die das justinianische römische Recht als das Recht einer unbedingten Zentralgewalt gegen die frühdeutschen Landrechte zu Hilfe rief.Vgl. Bd. II, S. 645 ff. Der entsprechende Versuch der absolutistisch gesinnten Stuarts, das römische Recht in England einzuführen, ist vor allem durch den puritanischen Juristen Coke ( † 1643) vereitelt worden, wieder ein Beweis dafür, daß der Geist eines Rechts immer Parteigeist ist.

Die Verfassung Drakons, die ðÜôñéïò ðïëéôåßá der Oligarchen, wurde ebenso wie das streng patrizische Zwölftafelrecht vom Adel gegeben,Vgl. Bd. II, S. 631 f. schon tief in der antiken Spätzeit mit den voll entwickelten Mächten der Stadt und des Geldes, aber gegen sie gerichtet und deshalb sehr bald durch ein Recht des dritten Standes, der »andern« verdrängt – das des Solon und der Tribunen –, das nicht weniger Standesrecht war. Der Kampf zwischen den beiden Urständen um das Recht der Rechtsetzung hat die ganze Geschichte des Abendlandes erfüllt von dem frühgotischen Streit um den Vorrang des weltlichen oder des kanonischen Rechts bis zu dem noch heute nicht abgeschlossenen um die Zivilehe.Vor allem auf dem Gebiet der Ehescheidung, für welche die staatliche und die kirchliche Auffassung unvermittelt nebeneinander gelten. Die Verfassungskämpfe seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bedeuten doch auch, daß der dritte Stand, der nach jener berühmten Bemerkung von Sieyès im Jahre 1789 »nichts war, aber alles sein konnte«, die Gesetzgebung im Namen aller an sich brachte und sie in genau demselben Sinne zu einer bürgerlichen gemacht hat, wie die der Gotik eine adlige gewesen war. Am unverhülltesten tritt, wie gesagt, das Recht als Ausdruck der Macht in den zwischenstaatlichen Rechtssetzungen hervor, in Friedensverträgen und in jenem Völkerrecht, von dem schon Mirabeau meinte, daß es das Recht der Mächtigen sei, dessen Innehaltung dem Machtlosen auferlegt werde. In Rechten von dieser Art wird ein großer Teil der welthistorischen Entscheidungen festgelegt. Sie sind die Verfassung, in welcher die kämpfende Geschichte fortschreitet, solange sie nicht zu der ursprünglichen Form des Kampfes mit Waffen zurückkehrt, dessen geistige Fortsetzung jeder geltende Vertrag in seinen beabsichtigten Wirkungen ist. Ist die Politik ein Krieg mit anderen Mitteln, so ist das »Recht auf das Recht« die Beute der siegreichen Partei.


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