Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Zweiter Band
Oswald Spengler

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7

Ich wiederhole: Jedes Wesen erlebt das andre und dessen Schicksale nur in bezug auf sich selbst. Den Taubenschwarm, der sich auf ein Feld niederläßt, verfolgt der Besitzer des Feldes mit ganz anderen Blicken als der Naturfreund auf der Straße und der Habicht in der Luft. Der Bauer sieht in seinem Sohn den Nachkommen und Erben, der Nachbar den Bauern, der Offizier den Soldaten, der Fremde den Eingebornen. Napoleon hat als Kaiser die Menschen und Dinge anders erlebt wie als Leutnant. Man versetze einen Menschen in eine andre Lage, man mache einen Revolutionär zum Minister, einen Soldaten zum General, und die Geschichte mit ihren Trägern wird für ihn mit einem Schlage etwas anderes. Talleyrand durchschaute die Menschen seiner Zeit, weil er zu ihnen gehörte. Er hätte Crassus, Cäsar, Catilina und Cicero, wäre er plötzlich unter sie versetzt worden, in allen ihren Maßregeln und Absichten falsch oder gar nicht verstanden. Es gibt keine Geschichte an sich. Die Geschichte einer Familie nimmt sich für jeden Angehörigen, die eines Landes für jede Partei, die Zeitgeschichte für jedes Volk anders aus. Der Deutsche sieht den Weltkrieg anders als der Engländer, der Arbeiter die Wirtschaftsgeschichte anders als der Unternehmer, der Historiker des Abendlandes hat eine ganz andre Weltgeschichte vor Augen als die großen arabischen und chinesischen Geschichtsschreiber, und nur aus sehr großer Entfernung und ohne innere Beteiligung könnte die Geschichte einer Zeit objektiv dargestellt werden, aber die besten Historiker der Gegenwart beweisen, daß sie nicht einmal den Peloponnesischen Krieg und die Schlacht bei Actium ganz ohne Beziehung auf gegenwärtige Interessen beurteilen und darstellen können.

Die tiefste Menschenkenntnis schließt nicht aus, sondern fordert sogar, daß ihre Einsichten durchaus die Farbe dessen tragen, der sie hat. Gerade der Mangel an Menschenkenntnis und Lebenserfahrung ergeht sich in Verallgemeinerungen, die alles Bedeutende, nämlich das Einmalige der Geschichte verzerren oder völlig übersehen, am schlimmsten jene materialistische Geschichtsauffassung, die man beinahe erschöpfend als Mangel an physiognomischer Begabung definieren kann. Aber trotzdem und eben deshalb gibt es für jeden Menschen, weil er einer Klasse, Zeit, Nation und Kultur angehört, und wieder für diese Zeit, Klasse, Kultur im ganzen ein typisches Bild der Geschichte, wie es in bezug auf sie vorhanden sein sollte. Als höchste Möglichkeit besitzt das Gesamtdasein jeder Kultur ein für sie symbolisches Urbild ihrer Welt als Geschichte, und alle Einstellungen der einzelnen und der als lebendige Wesen wirkenden Mengen sind Abbilder davon. Wenn man die Anschauung eines andern als bedeutend, flach, originell, trivial, verfehlt, veraltet bezeichnet, so geschieht dies stets, ohne daß jemand sich dessen bewußt wäre, im Hinblick auf das im Augenblick geforderte Bild als der beständigen Funktion der Zeit und des Menschen.

Es versteht sich, daß jeder Mensch der faustischen Kultur sein eignes Bild der Geschichte besitzt, und nicht nur eines, sondern unzählige von seiner Jugend an, die je nach den Erlebnissen des Tages und der Jahre unaufhörlich schwanken und sich verändern. Und wie verschieden ist wieder das typische Geschichtsbild der Menschen verschiedener Zeitalter und Stände: die Welt Ottos des Großen und die Gregors VII., die eines Dogen von Venedig und die eines armen Pilgers! In wie verschiednen Welten haben Lorenzo de' Medici, Wallenstein, Cromwell, Marat, Bismarck gelebt, ein Höriger der gotischen, ein Gelehrter der Barockzeit, Offiziere des Dreißigjährigen, des Siebenjährigen und des Befreiungskrieges und allein in unsern Tagen ein friesischer Bauer, der nur mit seiner Landschaft und deren Bevölkerung wirklich lebt, ein Hamburger Großkaufmann und ein Physikprofessor! Und trotzdem hat das alles, unabhängig von Alter, Stellung und Zeit des einzelnen einen gemeinsamen Grundzug, der die Gesamtheit dieser Bilder, ihr Urbild, von dem jeder andern Kultur unterscheidet.

Was aber das antike und indische Geschichtsbild vollständig von dem chinesischen und arabischen und noch viel schärfer von dem abendländischen trennt, ist die Enge des Horizonts. Was die Griechen von der altägyptischen Geschichte wissen konnten und wissen mußten, haben sie nie in ihr eignes Geschichtsbild eintreten lassen, das für die meisten mit den Ereignissen abschloß, von denen die letzten Überlebenden noch erzählen konnten, und in dem selbst für die besten Köpfe mit dem Trojanischen Kriege eine Grenze gesetzt wurde, jenseits deren es kein geschichtliches Leben mehr geben sollte.

Die arabische Kultur hat zuerst, und zwar im Geschichtsdenken sowohl der Juden wie der Perser etwa seit Kyros, den erstaunlichen Griff gewagt, die Weltschöpfungslegende durch eine echte Zeitrechnung mit der Gegenwart zu verbinden und bei den Persern sogar eine chronologische Festlegung des Jüngsten Gerichts und der Erscheinung des Messias vorzunehmen. Diese scharfe und sehr enge Abgrenzung der gesamten Menschengeschichte – die persische umfaßt im ganzen zwölf, die jüdische bis jetzt noch nicht sechs Jahrtausende – ist ein notwendiger Ausdruck des magischen Weltgefühls und scheidet die jüdisch-persische Schöpfungssage ihrer tieferen Bedeutung nach vollständig von den Vorstellungen der babylonischen Kultur, denen sie viele äußere Züge entnommen hat. Aus einem ganz andern Gefühl heraus hat das chinesische und ägyptische Geschichtsdenken eine weite Perspektive ohne Abschluß eröffnet, und zwar durch eine chronologisch gesicherte Reihe von Dynastien, die sich über Jahrtausende hin in graue Ferne verlieren.

Das faustische Bild der Weltgeschichte setzt sogleich, vorbereitet durch die christliche Zeitrechnung522 unter der Ostgotenherrschaft in Rom entstanden, aber erst seit Karl dem Großen rasch über das germanische Abendland verbreitet. , mit einer ungeheuren Erweiterung und Vertiefung des von der abendländischen Kirche übernommenen magischen Bildes ein, das von Joachim von Floris um 1200 zur Grundlage einer tiefsinnigen Deutung aller Weltschicksale als der Folge dreier Zeitalter des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes genommen wurde. Dazu trat eine immer wachsende Erweiterung des geographischen Horizonts, der schon in gotischer Zeit durch die Wikinger und Kreuzfahrer von Island bis zu entlegenen Teilen Asiens gedehnt wurdeMit einer sehr bezeichnenden Verengerung des tatsächlichen erlebten Geschichtsbildes im Bewußtsein des echten Renaissancemenschen.. Für den höheren Menschen des Barock seit 1500 wird nun zum ersten Male und im Unterschied von allen andern Kulturen die gesamte Oberfläche des Planeten zum Schauplatz menschlicher Geschichte. Zum ersten Male haben Kompaß und Fernrohr für die Gebildeten dieser Spätzeit aus der bloßen theoretischen Annahme einer Kugelgestalt der Erde das wirkliche Gefühl gemacht, auf einer Kugel im Weltraum zu leben. Der Länderhorizont hört auf und ebenso der zeitliche durch die doppelte Unendlichkeit der Jahreszählung vor und nach Christi Geburt. Und unter dem Eindruck dieses planetarischen, zuletzt alle hohen Kulturen umfassenden Bildes vollzieht sich heute die Auflösung jener gotischen, längst flach und leer gewordnen Einteilung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit.

In allen andern Kulturen fallen die Aspekte Weltgeschichte und Menschengeschichte zusammen; der Weltanfang ist der Anfang des Menschen; das Ende der Menschheit ist auch das Ende der Welt. Der faustische Hang zum Unendlichen läßt während des Barock zum ersten Male beide Begriffe auseinandertreten und macht die Menschengeschichte in einer noch nie bekannten Ausdehnung dennoch zu einer bloßen Episode in der Weltgeschichte, und die Erde, von der andre Kulturen nur ein Oberflächenstück als »Welt« überblickten, zu einem kleinen Stern unter Millionen von Sonnensystemen.

Diese Ausdehnung des historischen Weltbildes macht es in der heutigen Kultur noch viel notwendiger als in jeder andern, sorgfältig zwischen der Alltagseinstellung der meisten Menschen und der Maximaleinstellung zu unterscheiden, deren nur die höchsten Geister fähig sind, die sich aber auch in diesen nur für Augenblicke vollzieht. Der Unterschied zwischen dem historischen Horizont des Themistokles und dem eines attischen Bauern ist vielleicht geringfügig, aber schon der zwischen dem Geschichtsbild Kaiser Heinrichs VI. und dem eines Hörigen seiner Zeit ist ungeheuer, und mit dem Aufstieg der faustischen Kultur werden die höchstmöglichen Einstellungen so erweitert und vertieft, daß es immer engere Kreise sind, denen sie zugänglich bleiben. Es bildet sich gleichsam eine Pyramide von Möglichkeiten, auf der jeder einzelne seiner Veranlagung nach eine Stufe einnimmt, welche durch die höchste ihm erreichbare Einstellung bezeichnet wird. Damit aber gibt es zwischen abendländischen Menschen eine Grenze der Verständigung in geschichtlichen Lebensfragen, wie sie in dieser verhängnisvollen Schärfe ohne Zweifel keiner andern Kultur bekannt war. Kann heute ein Arbeiter einen Bauern wirklich verstehen? Oder ein Diplomat einen Handwerker? Der historisch-geographische Horizont, aus dem heraus beide ihre wichtigsten Fragen in Worte fassen, ist so verschieden, daß aus der Mitteilung ein Vorbeireden wird. Ein wirklicher Menschenkenner versteht wohl auch noch die Einstellung des andern und richtet seine Mitteilung danach ein – wie wir es alle machen, wenn wir mit Kindern sprechen –, aber die Kunst, sich auch noch in das Geschichtsbild eines Menschen der Vergangenheit, Heinrichs des Löwen oder Dantes so einzuleben, daß man seine Gedanken, Gefühle und Entscheidungen als selbstverständlich begreift, ist bei dem gewaltigen Abstand beider Wachseinszustände so selten, daß sogar die Aufgabe als solche um 1700 noch gar nicht geahnt und erst seit 1800 zu einer sehr selten erfüllten Forderung der Geschichtsschreibung geworden ist.

Die echt faustische Trennung der eigentlichen Menschengeschichte von der viel weiteren Weltgeschichte hat zur Folge, daß seit dem Ausgang des Barock sich in unserem Weltbild mehrere Horizonte in getrennten Schichten hintereinander lagern, für deren Untersuchung sich Einzelwissenschaften von mehr oder weniger ausgesprochen historischem Charakter ausgebildet haben. Die Astronomie, Geologie, Biologie, Anthropologie verfolgen der Reihe nach die Schicksale der Sternenwelt, der Erdrinde, der Lebewesen, des Menschen, und erst dann beginnt die heute noch so genannte »Weltgeschichte« der hohen Kulturen, an welche sich weiterhin die Geschichte einzelner Kulturelemente, die Familiengeschichte, zuletzt die gerade im Abendlande sehr ausgebildete Biographie anschließen.

Jede dieser Schichten fordert eine Einstellung für sich, und mit dem Augenblick dieser Einstellung hören die engeren und weiteren Schichten auf, lebendiges Werden zu sein, und sind schlechthin gegebene Tatsachen. Untersuchen wir die Schlacht im Teutoburger Walde, so ist die Entstehung dieses Waldes innerhalb der Pflanzenwelt Norddeutschlands vorausgesetzt. Fragen wir nach der Geschichte des deutschen Laubwaldes, so ist die geologische Schichtung der Erde die Voraussetzung und eine in ihren besonderen Schicksalen nicht weiter zu untersuchende Tatsache. Fragen wir nach dem Ursprung der Kreideformation, so ist das Vorhandensein der Erde selbst als eines Planeten im Sonnensystem kein Problem. Oder anders betrachtet: daß es in der Sternenwelt eine Erde, daß es auf der Erde das Phänomen »Leben«, daß es in diesem die Form »Mensch«, daß es in der Menschengeschichte die organische Form der Kulturen gibt, ist jedesmal ein Zufall im Bilde der nächst höheren Schicht. Goethe hatte von seiner Straßburger bis zur ersten Weimarer Zeit einen starken Hang zur Einstellung auf die Weltgeschichte – die Entwürfe zum Cäsar, Mahomet, Sokrates, Ewigen Juden, Egmont zeugen davon –, aber seit jenem schmerzlichen Verzicht auf eine politische Wirksamkeit großen Stils, der aus dem »Tasso« noch in dessen endgültiger, vorsichtig resignierter Fassung zu uns redet, schaltete er gerade diese aus und lebte fortan mit der fast gewaltsamen Beschränkung auf das Bild der Pflanzen-, Tier- und Erdgeschichte, seiner »lebendigen Natur«, und andrerseits in der Biographie.

Alle diese Bilder haben, in denselben Menschen entwickelt, dieselbe Struktur. Auch die Geschichte der Pflanzen und Tiere, auch die der Erdrinde und der Sterne ist fable convenue und spiegelt in der äußeren Wirklichkeit die Tendenz des eigenen Daseins wider. Eine vom subjektiven Standpunkt des betrachtenden Menschen, seiner Zeit, seines Volkes und selbst seiner sozialen Stellung abgelöste Betrachtung der Tiere oder der Gesteinsschichtung ist ebensowenig möglich wie die der Revolution oder des Weltkrieges. Die berühmten Theorien von Kant und Laplace, Cuvier, Lyell, Lamarck, Darwin haben auch eine politisch-wirtschaftliche Färbung und zeigen gerade durch den gewaltigen Eindruck, den sie auf ganz unwissenschaftliche Kreise hervorgerufen haben, den gemeinsamen Ursprung der Auffassung all dieser historischen Schichten. Was sich aber heute vollendet, ist die letzte dem faustischen Geschichtsdenken noch vorbehaltene Leistung: die organische Verbindung dieser Einzelschichten untereinander und ihre Eingliederung in eine einzige ungeheure Weltgeschichte von einheitlicher Physiognomik, in welcher der Blick vom Leben des einzelnen Menschen nun ohne Unterbrechung bis zu den ersten und letzten Schicksalen des Universums reicht. Das 19. Jahrhundert hat – in mechanistischer, also ungeschichtlicher Fassung – die Aufgabe gestellt. Es gehört zu den Bestimmungen des 20., sie zu lösen.


 << zurück weiter >>