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8. Prostitution und Vaterrecht.

Eine ganz neue Auffassung von dem Wesen und der Zukunft der Prostitution ergibt sich, wenn man sich den Gedanken vor Augen hält, daß unsere gesamte Kultur auf dem System der Männerherrschaft aufgebaut ist. Denn vaterrechtliche Zustände, das Dominieren des Mannes im öffentlichen Leben, setzen seine Herrschaft in der Erotik voraus. Der Pater familias mit seiner Gewalt über Leben und Tod von Frau und Kindern ist wohl die extremste Ausgestaltung des Prinzips, das auf eine Knechtung des Weibes hinaus will und damit auch von allem was vom Weibe stammt, das heißt der Kinder. Insofern reiht sich auch das System der Monogamie in das System der Weiberknechtschaft ein und ist nicht als ein Atavismus aus irgendwelchen frauenherrschaftlichen Zuständen zu erfassen. Denn das System der Monogamie basiert auch auf dem Rechte des Mannes, sich über die Erotik der Frau hinwegzusetzen. Das Element der Zugehörigkeit des einen Mannes zu der einen Frau ist nur die Ausbildung, die das vaterrechtliche Prinzip in einer Kultur erfahren hat, die wesentlich auf eine Konservierung der physisch und ökonomisch Schwachen hinausläuft. Solange man in dem Aufbau unserer Kultur eine Begünstigung der Schwachen zugunsten der in der Minderheit vertretenen Starken sieht, die Vergewaltigung einer Masse von Schwachen gegenüber einzelnen Starken, durch die Gewalt des Staates und durch die gesellschaftliche Bindung der Moral fügt sich auch die Monogamie restlos in die vaterrechtlichen Zustände ein, die sie allein hervorgebracht haben. Denn in dem Gesamtkomplex unserer Kultur ist der Mann der Entscheidende, der Mann ist derjenige, der die Macht hat, die Macht der Frau liegt nur in der Faszination, die sie auf die ovidische Richtung des männlichen Sexuallebens ausübt.

Auf dem rein erotischen Gebiet brachte die vaterrechtliche Ausgestaltung des Lebens eine außerordentliche Einbuße der Frau an Lustmomenten. Der Mann, der in dem Schnellverkehr mit der Prostitution die Umwerbung »verlernt« hat, bei dem die ovidische Seite im Liebesleben erstickt ist, wird eben auch seine Ehefrau nicht anders behandeln als früher die Dirne. So ist, abgesehen vom Individualfall, das Bild der Erotik für die Frau ein trauriges geworden. Und diese Einbuße an Lustmomenten für das Weib hat jenen Zustand geschaffen, der als sexuelle Krise empfunden wird. Es ist in Frauenkreisen das klare Bewußtsein vorhanden, daß ihre Sexualität im gegenwärtigen Augenblick vergewaltigt wird. Und wo eine Lücke entdeckt wird, da ist bekanntlich auch immer ein Rat, und meist sehr rasch. Die sexuelle Not hat ein ganzes System herausgebildet, um die Sexualität zu sanieren und als ersten Schlag die verschiedenen Gesichtspunkte zu Schlagworten gruppiert: freie Liebe, freie Ehe, Sexualreform, Aufklärung der Jugend, Mutterschutz, Schutz der unehelichen Kinder, Frauenemanzipation, Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, Abolitionismus, Reglementierung, Mädchenhandel, doppelte Moral, Rassenhygiene, Eugenik, Neoamaltusianismus und Kampf gegen den Schmutz in Wort und Bild. Es ist immer eine bedenkliche Sache, wenn Gedanken in ein System von Schlagworten gepreßt werden, weil damit immer eine Vereinfachung, d. i. eine Vergewaltigung, verbunden ist. Außerdem versteht jeder die Schlagworte etwas anders. Sie werden nach dieser und jener Seite nüanciert, und so sind die schätzenswerten Ergebnisse der öffentlichen Diskussion in der Regel ein aneinander Vorbeireden. Schon die Schlagworte Krafft-Ebings wirkten, wie ich gezeigt habe, für die Erkenntnis der psychologischen Zusammenhänge verdunkelnd. Sie brachten die Begriffe durcheinander, statt sie zu klären.

Der Hauptangelpunkt, an dem die Gegner die herrschenden Zustände angreifen, ist die doppelte Moral, die angeblich sehr ungerechte Moral, daß der Mann außerehelich mit Frauen verkehren darf unter stillschweigender Duldung der Gesellschaft, während sich bei dem freien Liebesverkehr der Frau das moralische Kollektivgewissen zu rühren scheint. Man kann in der Existenz dieser Erscheinung nur die alte Wahrheit bestätigt sehen, daß Recht und Unrecht ziemlich illusorische Begriffe sind, und daß es sich auch hier ausschließlich um Fragen der Macht dreht. Zunächst ist jedoch die Bedeutung dieser doppelten Moral zweifellos übertrieben. In ihrer extremen Ausgestaltung findet sie sich nur im mittleren Bürgerstande, während man in den unteren Kreisen die Verhältnisse unbefangener ansieht und in den Kreisen der großen Gesellschaft öffentlich mit der gleichen Ausschließlichkeit über Sexualität schweigt, wie man sie im Leben betätigt. Die doppelte Moral ist also nur eine Erscheinungsform einer bestimmten Gesellschaftssphäre, und darum hat es schon Bedenken, ein so ungeheures Geschrei um sie zu machen. Ihr ist nun einmal das Malheur passiert, daß sie zum Sündenbock ausersehen wurde, dem man alles vorwarf, was faul und schlecht an der Sexualität war, daß sie alle Krankheiten besitzen sollte, welche die Herren Mediziner zu erfinden sich zur Aufgabe gemacht hatten.

Die doppelte Moral ist eine Folge, nicht aber eine Ursache der sexuellen Not; weil durch die Prostitution der Schnellverkehr im Liebesleben eine bevorzugte Rolle einnimmt und Männer aller Stände sich angewöhnt haben, die Frau, mit der sie verkehren, mehr oder minder zur Prostituierten zu erniedrigen, weil sie in der freien Liebe nur die Möglichkeit zum bequemen Gratiskoitus sehen, ist es allerdings sehr fraglich, ob die doppelte Moral nicht auch äußerst heilsame Wirkungen hat. Jedenfalls stellt sie durchaus keinen Anachronismus dar, und mag sie auch aus dem Altertum stammen, die gesellschaftlichen Vorbedingungen, daß sie für das Mädchen einen Schutz gegen die Ausbeutung durch die Männer darstellt, sind nach wie vor gegeben. Weil die Lasten des freien Geschlechtsverkehrs zurzeit so durchaus verschieden verteilt sind, prägt die Gesellschaft die doppelte Moral. Dieses ist ihr Kern, über den man durch oberflächliche Verurteilungen nicht hinwegkommen kann.

Überdies handelt es sich hier nicht um vereinzelte Auffassungen über sexuelles Leben. Wir haben es mit einem psychologisch einheitlichen System der Lebensführung zu tun, von dem die doppelte Moral usw. nur die notwendigen Teilerscheinungen sind. Und die Wurzel dieses Systems geht tief bis in die innersten seelischen Notwendigkeiten des Lebens hinab, über die man mit oberflächlicher Morallogik nicht hinwegkommt.

Das freie Liebesverhältnis, argumentierte man, kann viel moralischer sein als eine Ehe, infolgedessen ist es widersinnig, den Geschlechtsverkehr danach moralisch zu bewerten, ob er ehelich oder unehelich ist. Die Schlußkraft ist von selbstverständlicher Logik und hat wie alles Selbstverständliche einen Haken. Man kann zunächst darauf hinweisen, die »alte Moral« entspringt keinem ethischen Gedankenkomplexe. Die gesellschaftliche Moral paßt sich immer den Opportunitätsgründen an; sie ist nicht die Offenbarung irgendwelcher überirdischer Grundprinzipien, sondern sie ist lediglich die Konstatierung eines gewissen Sittenniveaus, und als solche der Ausdruck der ungleichen Belastung durch den unehelichen Verkehr. Aber ihr Sinn geht noch tiefer. Hinzukommt die ethische Verbrämung, welche die Menschheit aus einer psychologischen Notwendigkeit dem Sittengesetz gegeben hat.

Als der menschliche Geist seine Beziehungen zur Welt in die Formel bannte, daß alles in ewiger Bewegung sei, hat er zugleich sich selbst als das einzige Konstante, das einzig Seiende dieser Welt gegenübergestellt. Er hat sich auf das Ufer des Weltflußbettes geschwungen, ja sogar den archimedischen Punkt gefunden, von dem aus er die Welt bewegen konnte, weil er selber stand. Um so stärker mußte seine Sehnsucht erwachsen, die Synthese, die im Geist gegeben ist, auch an der Welt zu vollziehen, das heißt die Welt seinem Ebenbild gemäß nachzuschaffen. Darum ist er endlos bemüht, das Werdende durch das Gesetz in die Formel des Seins zu bannen. Er treibt Mathematik, das heißt Wissenschaft. Darum verwandelt er die Dinge in Wesen, nimmt sie aus dem Raum und gibt ihnen den Körper, schafft die Gestalt: das heißt, er wird zum Künstler; darum nimmt er sie aus der Zeit, verleiht ihnen Seele und schafft die Persönlichkeit: das heißt, er ist moralisch oder religiös.

Dieser psychologische Vorgang liegt der »alten Moral« zugrunde. Sie ist der Versuch, das Werdende in die Form des Seins zu bannen und über Raum und Zeit zu erheben, die drei Elemente, die den Kern der moralisierenden Tätigkeit des Menschen ausmachen. Sie ist der Versuch, die empirisch gegebene Opportunität um einen gedanklichen Kern zu kristallisieren und daher sind alle Berufungen auf Logik und Gerechtigkeit bedeutungslos. Weil unter den gegenwärtigen Verhältnissen die Bedingungen des außerehelichen Geschlechtsverkehrs so außerordentlich verschieden abgemessen sind, macht man eine besondere Moral für jedes der beiden Geschlechter. Nebenbei bemerkt sei hier, daß die Moral einer Zeit sich in deren Handlungen und in der öffentlichen Bewertung der Handlungen dokumentiert, nicht etwa in den Predigten auf der Kanzel. Ich darf also als die Moral der Gegenwart aussprechen: dem Manne ist freier Geschlechtsverkehr gestattet, der Frau nicht; und dieses moralische System ist tatsächlich eine Kristallisierung der empirisch gegebenen Erfahrung, daß mit dem außerehelichen Geschlechtsverkehr für das Mädchen die abschüssige Bahn beginnt, es ist diese Erfahrung kristallisiert um einen gedanklichen Kern.

Dieselben Menschen predigen die Ungleichheit der sexuellen Bedingungen und schelten auf die doppelte Moral, als hätten die beiden nichts miteinander zu tun. Dabei liegt der sehr einfache Rückschluß, daß beide in innerer Beziehung stehen, geradezu auf dem Hühnerhofe, und es könnte von selber einleuchten, daß die doppelte Moral nicht eine ganz unabhängig auf irgendwelchen Vorurteilen basierende Erscheinung ist, die man doktrinär zu bekämpfen vermag. Man kann gern den Vorschlag machen: man stelle auch die Männer unter das Sittengesetz. An den Zuständen würde das herzlich wenig ändern. Die Überlegenheit des Mannes in erotischer Beziehung ist viel zu groß, als daß an seiner Macht in absehbarer Zeit gerüttelt werden könnte, die Bedeutung des Zusammenhanges zwischen der öffentlichen Moral und der Knechtung des Weibes und die Nuancierungen, die sie im Laufe der Geschichte annahm, wird ja im zweiten Teile bei der Darlegung der historischen Verhältnisse von mir entwickelt werden.

Auf der anderen Seite wird der Versuch gemacht, die Freiheit der Moral auch auf das weibliche Geschlecht auszudehnen. Diese Bewegung für eine sexuelle Reform stellt einen Teil der Frauenbewegung dar; wohlbemerkt nur einen Teil. Es gibt unter den Sichemanzipierenwollenden immer noch einige, welche die sexuellen Werte dabei für völlig belanglos halten. Es gibt immer noch Frauen, die durch geistige Leistungen den Beweis von der Gleichwertigkeit der Frauen liefern möchten, damit den Frauen eine äquivalente gesellschaftliche Stellung eingeräumt wird. Die Erfolge liegen nur in der Einzelpersönlichkeit. Einzelne Frauen setzen sich durch – im geistigen Leben und im wirtschaftlichen Leben, im großen und ganzen aber ist die Frauenarbeit mehr eine Sklaverei. Und darum wurde das Bestreben der Frauen nach Freiheitsentwicklung von dem kapitalistischen System aufgegriffen, und während die Frauen Triumphe feierten über die neuen Berufe, die sich ihnen eröffnet haben, hat man in aller Ruhe das sehr lukrative Ausbeutungsmoment der Frauenarbeit in ein System hineingepreßt.

In einer Zeit, in denen die Mediziner die Erbschaft des theologischen Hokuspokus angetreten haben, und die Massen darum in ihre geöffneten Arme laufen, fand der Kampf gegen die doppelte Moral von der rassenhygienischen Bewegung und der Bewegung zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vielleicht die wirksamste Unterstützung, einer Bewegung, die auf eine Verbesserung der Gesundheit ausgeht, und die zwei Hauptmomente zu ihrer Doktrin gemacht hat, daß der Kampf gegen die Prostitution gleichbedeutend ist mit dem Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten, und daß die durch unsere kulturellen Verhältnisse erst später gebotene Möglichkeit der Eheschließung die Rasse verdirbt, indem sie nicht ermöglicht, daß die jungen schönen und starken Menschen geboren werden, die Kinder von jugendlichen, schönen, sich heiß liebenden Menschen sind. So ungefähr ist der Gedankengang Ellen Keys und ihrer Schüler.

Sitte und Gesetz sind Maßnahmen zur Unterdrückung des einzelnen starken Individuums zugunsten der schwächlichen Masse. Die schwächliche Masse, die Sitte und Gesetz durchsetzte, hat kein Interesse daran, daß große und starke Menschen geboren werden. Die Gesellschaft baut sich darauf auf, daß schwache Menschen in der Mehrzahl geboren werden, und die Unterdrückung der sexuellen Instinkte jugendlicher schöner und starker Menschen in der Blüte des Lebens kann man als Selbsterhaltungstrieb der Gesellschaft deuten. Je mehr sich der Gesundheitszustand der Gesellschaft hebt, je mehr die physische und psychische Kräftigung der Einzelpersönlichkeiten an Boden gewinnt, um so mehr muß die sexuelle Not sich steigern, damit die schwächlichen Menschen in der Mehrzahl bleiben. Es ist unmöglich für eine sexuelle Befreiung einzutreten und gleichzeitig für Sitte und Gesetz. Will man in größerer Zahl »große und freie Menschen« züchten, so muß man sich zugleich mit der Beseitigung von Sitte und Gesetz abfinden, so lange werden es immer nur einzelne sein, die durch ihre Kraft vermögen, sich über Sitte und Gesetz hinwegzusetzen, und entweder durchzudringen oder zu unterliegen. Die Unterdrückung der Sexualität und ihre Erniedrigung in Prostitution und Ehe sind also nicht nur eine Maßnahme zur Stützung des Vaterrechtes, sondern ebenso eine Notwehrmaßnahme der auf Sitte und Gesetz aufgebauten Gesellschaft, gegenüber den außergewöhnlichen Kraftmenschen.

Mit dem gesetzmäßigen Zusammenhange von Prostitution und Geschlechtskrankheiten steht die Sache aber auch ein bisschen anders. Eine große Ansteckungsgefahr für Geschlechtskrankheiten haftet einem Verkehr an, für den folgende Merkmale zutreffen. Er muß zwischen einer Mehrheit von Männern und einer Mehrheit von Frauen ausgeübt werden, und da in der Mehrzahl der Fälle das Bewußtsein der Ansteckungsgefahr vorliegt, muß die individuelle Liebe fehlen. Für die Übertragung der Geschlechtskrankheiten ist es typisch, daß das Verhältnis, in dem sie erworben werden, seiner Psychologie nach in das System der Weiberknechtschaft gehört. Es läßt sich für die europäische Kultur der Neuzeit seit der Entdeckung der Geschlechtskrankheiten geradezu nachweisen, daß eine Verseuchung immer dann stattfand, wenn der Gesamtcharakter des Liebesverkehrs das Gepräge der Knechtung des Weibes trug. Die Grenzen des Begriffs der Prostitution sind, wie ich an seiner psychologischen Durchdringung gezeigt habe, so durchaus fluktuierend, daß es schon deswegen nicht angeht, Prostitution und Geschlechtskrankheiten in die Beziehung von Ursache und Wirkung zu bringen. Die Übertragung der Geschlechtskrankheiten haftet jedem Verkehr an, der seiner logischen Beziehung nach den Stempel der Knechtung des Weibes trägt, und der sich in ungebundener Weise zwischen einer Mehrheit von Männern und einer Mehrheit von Weibern vollzieht. Daß diese Voraussetzungen aber durchaus nicht nur bei der Prostitution im engeren Sinne erfüllt sind, wird die Darlegung der Verhältnisse der Gegenwart erweisen. So greift die Rassenhygiene auf diesem Gebiete nur einen auf der Oberfläche liegenden Punkt an, bis zur Wurzel der Erscheinungen dringt sie aber nicht vor.

Ich habe der Rassenhygiene gegenüber den Eindruck, daß sie sich zu früh einer Tendenz zugewandt hat. Freilich in unserer Zeit, wo man mehr und mehr daran ist, die Menschen nach ihren Gesinnungen und nicht nach ihrer Arbeit zu bewerten, ist diese tendiöse Stellungnahme nicht weiter verwunderlich. Statt zunächst nur die Gesetze des Wandels der Volksgesundheit zu erforschen, will sie den Weg aus einem Labyrinth zeigen, in dem sie selbst nicht Bescheid weiß.

Die Beziehungen der Geschlechtskrankheiten zur Prostitution sind allerdings sehr enge; nur stellen sich die Verhältnisse in Wirklichkeit anders dar, die geschlechtliche Ansteckung ist vielmehr eine Begleiterscheinung eines nicht auf Wechselliebe basierenden Verkehrs, nicht der eigentlichen Prostitution in ihrer legalen ökonomischen Erscheinung. Wer sich die Mühe der Umwerbung einer Frau gibt, wer individuelle Liebesbeziehungen zum Weibe sucht, braucht keine Syphilis zu fürchten, wer aber durch seine ökonomische Überlegenheit mit der brutalen, aller Erotik spottenden Macht die Frau, die ihn innerlich haßt und verabscheut, zum ekelhaften Koitus zwingt, dem gönne ich seinen Tripper von Herzen, und es tut mir nur leid, daß die Ehe für diese Sorte von Leuten immer noch eine gewisse Schutzeinrichtung darstellt, in deren Bannkreise ihnen meist nichts passieren kann. Es haftet also das Stigma der Geschlechtskrankheiten nicht dem außerehelichen Verkehre als solchem und nicht der Prostitution als solcher an.

Die andere praktische Reformbewegung – neben der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten – geht vom Bund für Mutterschutz und Sexualreform aus, und sie richtet sich neben der sehr unterstützenswerten Fürsorge für die unehelichen Mütter in erster Linie gegen die »doppelte Moral«, die ausgerottet werden soll.

Der Haß der »neuen Moral« gegen die »alte Moral«, die für die Gegenwart mit der christlichen Weltauffassung gleichgesetzt wird, ist übertrieben, und wenn Ellen Koy geradezu sagt: »Die neue Anschauung von der Heiligkeit der Generation erhält die Menschheit nicht eher, als bis sie im vollen Ernst die christliche Lebensanschauung verlassen hat«, so muß man allerdings fragen: »Wo sind die Beweise dafür?« Sehr richtig weist Seeberg demgegenüber darauf hin (»Sinnlichkeit und Sittlichkeit«), daß eine große historische Erscheinung wie das Christentum, mancherlei Entwicklungsstadien durchlebt und Heilige und Unheilige und auch sonderbare Heilige unter ihren Anhängern gehabt hat. Die Religion als solche hat nicht das Weib geächtet und geknechtet, den Geschlechtstrieb als das Böse an sich erklärt und die Ehe ruiniert. Es ist ja zweifellos, daß eine 2000 Jahre bestehende Erscheinung, wie das Christentum, ganz andere Entwicklungsmöglichkeiten in sich trägt, als die Herren mit der Lanzette sich träumen lassen, und an den einzelnen »reformbedürftigen« Zuständen der Gegenwart nicht zugrunde gehen muß. Das sinnenfeindliche Element, das eine Zeitlang in der christlichen Kirche dominierte, stellt nur eine, nicht aber die einzige Richtung und Beurteilung christlicher Persönlichkeiten gegenüber dem Geschlechtsleben dar, während die andere nicht die Sinnlichkeit ertöten, nur aber Sinnlichkeit und Sittlichkeit miteinander vereinen wollte. Ob das möglich ist, bleibe dahingestellt. Man kann auf dem Standpunkt stehen, daß Moral da aufhört, wo Liebe anfängt. Jedenfalls hat der Mensch das Recht, die sittliche Wertung seines Liebeslebens abzulehnen, weil es sich hier um die rein individuellen »Betätigungsformen« seiner Persönlichkeit handelt. Ich selbst stehe auf dem Standpunkte: Je individueller eine Liebe ist, desto »unsittlicher« und »unsozialer« ist sie. Die individuelle Liebe ist jedoch immer nur eine, immer nur die geringere Betätigungsform des menschlichen Geschlechtstriebes gewesen. Daß sie zwar zu allen Zeiten existiert hat, aber heute wie im Altertum gegenüber der bloß animalischen Betätigung der sexuellen Befriedigungsgelüste zurücktreten mußte, dieser Nachweis wird ein Ziel der historischen Darstellung sein. Ob nun diese individuelle animalische Sexualbetätigung einer formalen Umgestaltung bedarf, ist nicht eine Frage der Moral, sondern der »Sexualpolitik«, die erst nach Darlegung der Geschichte der Prostitution beantwortet werden kann. Sehr richtig bemerkt darum Reinhold Seeberg, »daß alles, was an der neuen Moral Moral ist, alte Moral ist«.

Sehr eigentümlich in der Deduktion der Sexualreformer ist auch ihre Auffassung von der märchenhaften Herrlichkeit des modernen Menschen, wie sie sich besonders in der Lehre von der erblichen Entlastung repräsentiert, durch die der moderne Mensch so ziemlich alle Fehler losgeworden ist. Demgegenüber betont Reinhold Seeberg, daß der moderne Mensch nichts Heiliges und Unantastbares ist, sondern daß auch der moderne Mensch seine besonderen und großen Fehler hat, und man kann den Menschen von heute nicht helfen, wenn man ihre Fehler nicht bekämpft, man kann das heranwachsende Geschlecht vor der Herrschaft der Sinnlichkeit über die Sittlichkeit nicht bewahren, wenn man diese Herrschaft nicht als böse und unsittlich lehrt.

Ich habe schon darauf hingewiesen, daß beide, die christliche und neue Moral, von falschen Voraussetzungen über die sexuelle Veranlagung unserer Zeit ausgehen. Jedenfalls ist die christliche Moral viel eher imstande, das Sexualleben unter eine Idee zu stellen, als die neue Moral, die vielmehr einen Versuch darstellt, freie Lebensformen mit moralischen Prinzipien in Einklang zu bringen. Die neue Moral als Tendenzerscheinung hat tatsächlich nicht übermäßig viel Bestrickendes für sich, schon wegen der völligen Unklarheit ihrer tatsächlichen Reformvorschläge.

Die Sexualreformer sagen: »Die Sittlichkeit eines Verhältnisses liegt nicht in der freien Liebe als solcher, ebensowenig in der Ehe als solcher, sondern jedes Verhältnis zwischen Menschen wird ebenso sittlich oder unsittlich sein, wie es die Menschen sind, die diese Ehe oder dieses Verhältnis haben.« Reinhold Seeberg betont demgegenüber sehr richtig, dann sollte man einfach darauf ausgehen, die persönliche Sittlichkeit zu heben. Die neue Moral »kompromittiert« sich eben dadurch, daß sie für Idealisten geschaffen ist, nicht aber für Menschen wie wir sind. Das herrschende System der Ausbeutung würde sich auch auf dem sexuellen Gebiet breitmachen, gewiß würden gewisse Übelstände, die durch die Gebundenheit verursacht werden, beseitigt sein, aber in viel höherem Maße würde der Zustand herrschen, daß das Weib das Freiwild des Mannes geworden ist. Die Männer von heute sind nicht die Idealisten, wie die Damen und, seltsamerweise, auch die Herren vom Bund für Mutterschutz sich träumen lassen; der Staat aber hat sehr wenig Verpflichtung, sich um eine Minderheit zu kümmern, die, sagen wir ruhig, anständiger ist als der Durchschnitt. Es ist eben nicht so einfach, reformieren zu wollen: Versucht man es von außen, so bin ich skeptisch. Nur die Änderungen im Anschauungskreis der Massen sind von Wert, die sich als notwendige Umformungen von innen heraus ergeben. Überdies sind die Massen nichts weniger als »vornehm«. Die Polemik gegen die christliche Moral macht die Idee der Ehe verantwortlich für die Mißtöne, die aus den brutalen Tatsachen herausklingen. Die unlösbare christliche Ehe soll kein Zwanggesetz sein, sondern sie ist die Idee eines vollkommenen Einsseins von Mann und Weib, und sie ist das gleiche Ideal, das der Bund für Mutterschutz aufgestellt hat; denn auch hier ist die Monogamie in ihrer extremsten Form das letzte Ziel. Das Problem für den Staat ist nun dieses: bei Vorherrschen eines derartigen Ideals diejenigen Garantien zu schaffen, die eine rein äußerliche Ausbeutung des einen Teils durch den andern nach Möglichkeit verhindern, und diese notwendige staatliche Zwangsform stellt die Zivilehe dar.

Natürlich kann man nicht allen gerecht werden, und immer werden Minderheiten auf Kosten der Gesamtheit vergewaltigt werden. Wenn sie dagegen protestieren, so bleibt das ihr gutes Recht, wenn sie aber ihre Auffassung auf die Gesamtheit übertragen wollen, so ist dies ein logischer Schnitzer.

Ich will durchaus nicht leugnen, daß es Möglichkeiten gibt, die nicht schönen sexuellen Verhältnisse umzugestalten, aber diese Möglichkeiten sind bisher noch von keiner Seite aufgedeckt worden, und ich muß bescheiden sagen, ich kenne sie nicht. Ich fasse meine Aufgabe nur so: anzuregen zur Beobachtung und zum Studium; und erst, wenn wissenschaftliche Durchforschung die Probleme menschlichen Seelenlebens und sozialer Gestaltung auf Grund des persönlichen Liebeserlebens aufgedeckt hat, dann kann man möglicherweise an eine Reformbewegung gehen. Bis dahin sind aber alle Reformversuche zwecklos; denn mit dem bloßen Beweis, daß eine soziale Ungerechtigkeit vorliegt, läßt sich noch kein Recht auf eine Änderung begründen, weil sich alles staatliche und gesellschaftliche Leben nicht auf das Recht, sondern auf die Macht gründet. Über die innere Umgestaltung des Seelenlebens, die sich selbst die neuen Formen schaffen soll, lehrt aber die psychologische Forschung dieses: Eine praktische Durchführung des Abolitionismus ist untunlich, weil der Mann die Prostitution will, weil er hier Lust ohne Umwerbung findet. Der Mann, den noch der Kampf um die Liebe, die Umwerbung reizt, findet zurzeit trotz Prostitution, Ehe und Doppelmoral immer noch die Liebe, die er sucht, er, der der große Verführer ist und zugleich der große Erfüller, gestaltet sich frei sein Liebesleben, allen staatlichen und gesellschaftlichen Normen zum Trotz, und für die üblen Bordellhähne, die, nachdem sie die Spuren gemerkt haben, auf ihrem Misthaufen nach dem Untergang der Prostitution krähen, für welche die Frauen das Klosett sind, in das sie ihre bloß animalische Ejakulation »abladen«, ist die Prostitution immer noch reichlich gut genug. Im Grunde besagen natürlich diese Hinweise auf die Unmoral und Ungerechtigkeit einzelner Erscheinungen in der Erotik gar nichts.

Man kann in den Fragen der Erotik ebensowenig wie in der Politik von Recht und Unrecht, von Natur und Idealzuständen sprechen. Denn es handelt sich hier um Fragen der Macht: Ein Geschlecht muß siegen, und eins muß unterliegen. Und die Frau ist seit Jahrtausenden unterlegen, nachdem sie vorher vielleicht noch längere Zeit die Macht gehabt hat.

So stellt sich der Kampf der Geschlechter als etwas Naturgemäßes dar, dem man die Freiheit der Entwicklung lassen muß. Ihn in die menschlichen Theorien pressen zu wollen, ist natürlich zwecklos.

In der Verkennung der Verschiedenheit von männlichen und weiblichen Sexualinstinkten liegt die Oberflächlichkeit aller Sexualreformversuche begründet, die ja auch zu allen Zeiten und immer gescheitert sind. Ich erinnere nur an die umfassende Sexualreform des Augustus, über die ich unten eingehend sprechen werde. Sie müssen scheitern, weil die Faktoren des Sexuallebens von den Gestaltungen der sexuellen Typen abhängig sind. Diese Typen verändern sich nach sehr schwer zu ergründenden Prinzipien in dem ewigen Auf und Ab der Umgestaltung des historischen Lebens scheinbar sinnlos, und sie können in ihrer Tendenz niemals durch Reformversuche an einer vereinzelten Erscheinung beeinflußt werden, wie sie Prostitution oder Sexualmoral darstellen, weil diese an sich nur Funktionen des ungeheuer komplizierten Gebildes ökonomischer, politischer, nationaler, sexueller, wissenschaftlicher und religiöser Gestaltungen sind, das wir Zeitgeist nennen. Man kann den Zeitgeist für die Gegenwart und die Vergangenheit zu ergründen versuchen, aber eine bewußte Beeinflussung vereinzelter Faktoren dieses Geistes durch eine Persönlichkeit, geschweige denn durch Vereine, weiß die Historie nicht zu melden. Die Genies, die den Gang der Jahrhunderte »bestimmten«, haben sich eine Beeinflussung ihrer Zeit nie zum bewußten Ziel gemacht, und es ist sehr wahrscheinlich, daß sie immer nur das aussprachen, was die gemeinsame Tendenz gerade ihrer Zeit war. Die Menschen, die Anbeter des Erfolges, nannten sie dann Genies, weil sie ihre geheimste Sehnsucht erfüllten.

Daß das sexuelle Programm sozusagen vernünftige Züge enthält, bedarf nicht der Erwähnung, daß es keine sexuelle Abstinenz gibt, weiß heute jedes Kind. Allerdings scheinen es die Greise vergessen zu haben. Wo im geschlechtsreifen Alter der Verkehr mit Frauen fehlt, setzt eben die Detumeszenz auf anderer Basis ein: durch Onanie, Masochismus, Grausamkeit, Beschäftigung mit Pornographie usw. Es bedarf keines wissenschaftlichen Vereins, um diese Tatsache zu lehren. Wer sie nicht anerkennt, wird sie nie begreifen. Doch die Sexualreform zielt weiter. Es ist eine bekannte Tatsache auf allen Gebieten menschlichen Geistes und menschlicher Geistlosigkeit, daß sich die Vereine immer unendlich viel schlauer vorkommen als die Staatsraison. Das Geheimnis liegt darin, daß sich in den Vereinen immer nur Menschen von größeren oder geringeren gesellschaftlichen Unterschieden finden, die gerade in dem Zweck, dem ihr Verein dienen soll, durch den gleichen Leitgedanken zusammengehalten werden. Das Leben schafft aber unendlich viel Möglichkeiten, und all diesen muß die gesetzliche Regulierung durch den Staat gerecht werden. So kann die Bekämpfung der Prostitution für einen bestimmten Kreis wohl das Nonplusultra einer Sanierung des sexuellen Lebens sein, der Staat als solcher steht ihrer Beurteilung aus viel größerer Distanz gegenüber. Er sieht das, was ihr Wesen ausmacht, in den Beziehungen zum Gesellschaftsleben viel kühler an, und er kann darum keine Radikalkur zu ihrer Bekämpfung mitmachen.

Die sexuelle Krise beruht nun darauf, daß unserer Zeit das Talent zur Liebe in außerordentlich hohem Maße fehlt. Ich will nicht geradezu behaupten, daß für uns das Zusammenwirken von horazischen und ovidischen Momenten des Liebeslebens in der gleich verhängnisvollen Weise waltet wie im alten Rom. Ich werde über diese Probleme der Mischung der Sexualinstinkte bei der historischen Darstellung sehr eingehend sprechen. Die herrschende Talentlosigkeit auf dem Gebiete der Erotik hat erst das geschaffen, was wir sexuelle Krise nennen. Sie besteht darum, weil die Frau nicht zur Detumeszenz kommt, nicht weil man eine doppelte Moral erfunden hat. Der Mann will nicht mehr die Frau umwerben; die Frau ist in dem erotischen Kampfe der Geschlechter unterlegen. Die Frau zur eigenen Lust zu benutzen, sie zu prostituieren, ist der männliche Kollektivwille der herrschenden Generation. Ich erinnere an die Worte von Grete Meißel-Heß: »Die Unwilligkeit und Unfähigkeit des heutigen Mannes zur Liebe ist die Tragödie der heutigen Frau.« Die Gründe für die sogenannte sexuelle Krise liegen eben wesentlich tiefer, sie sind Zeitsymptome und als solche durch eine papierene Polemik nicht hinwegzuschaffen.

Ich bin gewiß weit davon entfernt, die herrschenden sexuellen Zustände zu bejubeln, aus meinem sehr persönlichen Urteil über das horazische und ovidische Element im Liebesleben mag man entnehmen, daß ich mit dieser Richtung der modernen Entwicklung sehr wenig sympathisiere, aber ich halte es für die Pflicht eines ehrlichen Forschers, die Tatsachen als solche anzuerkennen; denn ich persönlich sehe durchaus kein Mittel, wie man sich gegen den Zeitgeist stellen sollte. Ganz abgesehen davon, daß ich mir zum Reformator und Organisator auf diesem Gebiet wirklich zu gut vorkäme.

Überdies ist die sexuelle Krise eine reine Krise des mittleren Bürgerstands, und auch hier ist die Hauptdomäne der Prostituierung. Die sexuellen Zustände der Arbeiterkreise und des unteren Bürgerstandes sind durchaus nicht als desperate hinzustellen, hier, wo noch die großen Dramen einer gesunden, leidenschaftlichen Liebe sich abspielen, besteht noch ein guter Teil der alten natürlichen Geschlechtswahl, weil die Liebe noch nicht den reinen Warencharakter angenommen hat. Hier wirbt noch bis zu einem gewissen Grade der Mann um die Frau, und er wird erhört oder abgewiesen. In den oberen Kreisen des Bürgerstandes und der sogenannten Aristokratie kann ebenso von einer sexuellen Krise nicht die Rede sein. Der junge Mann hat seine Geliebte (über die Bedeutung der Halbwelt für diese Kreise werde ich an anderer Stelle sprechen), und das junge Mädchen genießt im Flirt, die sexuelle Krise ist also eine Krise jener Sorte von mittlerem Bürgerstand, über dessen kulturelle Bedeutung sich streiten läßt und für den der Geschlechtsverkehr stets zwischen Pflicht und Notdurft schwankte. Auch fand ich in diesen Kreisen die meisten bleichsüchtigen und liebesschwachen Mädchen, jene Mädchen, die typische Onanistinnen sind, für die die Erwähnung alles Erotischen den Dégout bedeutet, die so zimperlich sind, daß in diesen Kreisen bekanntlich die sexuelle Aufklärung zum A und O des Erziehungsproblems geworden ist. In jedem anderen Kreise wäre das unmöglich, weil sich hier der natürliche Junge und das natürliche Mädchen ohne die unendlichen seelischen Erschütterungen mit dem Problem des Geborenwerdens und des Geschlechtsgenusses leicht, wie mit einer ganz natürlichen Erscheinung abfinden, einfach deswegen, weil in keinem anderen Kreise die Moralheuchelei so groteske Formen angenommen hat.

Der Unterricht in der sexuellen Aufklärung wird bekanntlich in der Schule erteilt, d. h. von den Schülern, nicht von den Lehrern. Es sind mir viel Äußerungen von Jungen des mittleren Bürgerstandes überliefert worden, die ihren wahrscheinlich sehr zart »aufklärenden« Kameraden geantwortet haben: »Das glaube ich nicht. So etwas hat meine Mutter nie gemacht!« Das bekommt traditionelle Familiensuggestion fertig.

Das Niveau der Männer dieser Kreise charakterisiert der Stammtisch, auf den sich die geistige Tätigkeit konzentriert und dessen Psychologie ich an anderer Stelle zu skizzieren Gelegenheit haben werde. Die jungen Leute frequentieren größtenteils die Prostitution vierzehntägig à 3 Mark, stecken sich an und gelangen schließlich in den Hafen der Ehe, um mit ihrer trippergeschmalzenen Liebe das Ehegesponst kaltzulassen. Nebenbei nehmen sie möglichst jede Gelegenheit wahr, um ihre Frau zu betrügen. In diesen Kreisen kennt man offenbar die Minderwertigkeit des eigenen Sexuallebens und bezeichnet sie als sexuelle Krise. Sie haben den ehrlichen Willen, sie zu heilen, und sie klagen die Moralheuchelei, die doppelte Moral und die Prostitution an, die sie selbst erfunden haben, als Surrogat für sexuelles Leben. Weil sie zur Erotik taugen wie der Papagei zum Maschineschreiben, können sie die Sexualität nicht kultivieren, wohl aber reformieren; und darum überlasse ich sie und ihre Sippe ihrem Schicksal und werde mir nie zu ihren Gunsten über ihre sexuelle Krise den Kopf zerbrechen. Ich möchte ihnen nur den schlechten Trost spenden, daß es immer noch Menschen gibt, die trotz Moralheuchelei, und notabene trotz Sexualreform, in eroticis auf ihre Rechnung kommen und immer auf ihre Rechnung kommen werden.

Die wahre Liebe hat es bekanntlich nur sehr wenig nötig, sich gesetzlich regeln zu lassen, und in ihre Mysterien dringt das Auge des Neugierigen ebensowenig, wie das Auge des Gesetzes.

Ich habe schon erwähnt, daß die modernen medizinischen Sexualwissenschaftler im Banne jener erotischen Richtung stehen, die den Koitus für den breiten, fruchtbaren Strom des sexuellen Lebens halten, und zwar den unkomplizierten brutalen Koitus, und dieselben Mediziner wollen den Frauen die Möglichkeit sexueller Befriedigung schaffen. Es folgt aus dem, was ich über die sexuelle Befriedigung des Weibes gesagt habe: Wer die Besserung der erotischen Situation der Frauen anstrebt, darf nicht gegen die Differenzierung des Liebeslebens Front machen, die eine Conditio sine qua non der Umwerbung des Mannes ist. Welche Unklarheit über die Psychologie des Liebeslebens in medizinischen Kreisen herrscht, möchte ich noch an einigen Aufsätzen aus den offiziellen Publikationsorganen glossieren, die sich nicht darüber beklagen können, gar zu viel Proselyten gemacht zu haben. Die Reformgesellschaften sind eigentlich jetzt noch exklusiver als bei ihrer Gründung.

Die Geschichte der Sexualreformbewegung ist tatsächlich eine traurige, man lese die Aufsätze der zehn Jahrgänge der Zeitschrift des Bundes für Mutterschutz, »Mutterschutz« und »Die neue Generation«, und man wird einen traurigen Eindruck davon bekommen, wie seit Jahren eine Gruppe gebildeter und geistig hochstehender Menschen sich auf ein System versteifte, das nie durchgeführt werden kann, weil es das Weltbild verzerrt. Seit zehn Jahren werden Artikel geschrieben: »Zur Psychologie der freien Liebe«, vom »Geist der alten Ethik«, »Die sexuelle Moral«, die »Wertigkeit der Unehelichen«, die »Sexuelle Abstinenz«, »Sexualpädagogik«, »Wahlkreise der Liebe«, seit zehn Jahren wird unter diesen und ähnlichen Spitzmarken immer in demselben Idealismus und mit derselben Verkennung der gegebenen Verhältnisse gepredigt und gepredigt, ohne daß auch nur ein einziger nennenswerter Erfolg zu verzeichnen ist. Die Moral eines kleinen Kreises, der unter sich in seinem »wissenschaftlichen« System durchaus einig ist, und also über seine Stellung zu den Problemen kaum noch zu reden brauchte, wird in die Welt hinausposaunt, die von dieser Moral gar nichts wissen will, rein als sei es ein Verdienst, allgemeinen Widerspruch zu erregen.

Es ist unter den Sexualreformern zur Sitte geworden, mit Donnergepolter papierne Wände einzurennen. Das gilt natürlich besonders von den Argumenten gegen die doppelte Moral, für sie die bestgehaßte Erscheinung in der modernen Welt. Hier muß man sich allerdings zunächst eine Opposition schaffen, um Ansichten en gros widerlegen zu können, die kein mir bekannter vernünftiger Mensch je geteilt hat. In typischer Weise verdreht Rosa Mayreder die Verhältnisse in einem Aufsatz über die freie Liebe. (Neue Generation 8, 1.) Sie sagt über die Einwände, die man zugunsten der doppelten Moral gemacht hat, folgendes: » Nach der herrschenden Auffassung bedingt schon der physiologische Unterschied in dieser Hinsicht einen anderen psychischen Zustand. Danach wäre der sexuelle Affekt beim Manne eine vorübergehende Erregung, die mit den höheren Gebieten des Seelenlebens nur lose oder gar nicht verknüpft ist, während alles Geschlechtliche beim Weibe eine tief in das psychische Leben eingreifende, mit den unterscheidendsten Tendenzen der weiblichen Seele innig verwachsene Angelegenheit bildet. Der Mann vermag daher ohne Schädigung seiner persönlichen Qualität die psychischen Geschlechtsansprüche in flüchtigen Abenteuern zu befriedigen, das Weib hingegen wird durch eine solche Lebensweise eben wegen der Zusammenhänge der sexuellen Impulse mit den höheren Seelentätigkeiten in ihrer weiblichen Konstitution moralisch und seelisch depraviert.«

Hier findet eine kolossale Verdrehung statt, mein Fräulein. Der psychologische Komplex, von dem Sie hier offenbar sprechen wollen, ist rein erotischer Art, und der Angelpunkt ist der, daß eine Form des Geschlechtsverkehrs möglich ist, die dem Manne sexuellen Genuß gestattet, die Frau aber zu einem passiven Wollustapparat stempelt, der sich ohne eigenen Genuß benutzen läßt. Es handelt sich also nicht um die mangelnde Verquickung von erotischen mit geistigen Elementen, die für die Bewertung eines erotischen Verhältnisses irrelevant ist, sondern es handelt sich einfach um die Erscheinung, die ich als Prostituierung gekennzeichnet habe, und die eine notwendige Erniedrigung der Frau involviert. Diese ganz einfachen Tatsachen verdreht Rosa Mayreder zu der Behauptung, es sei die herrschende Ansicht, daß der sexuelle Affekt beim Manne eine vorübergehende Erregung, beim Weibe eine mit den entscheidendsten seelischen Tendenzen innig verwachsene Angelegenheit sei. Sie verdreht es, um dadurch einen Einwand gegen die freie Liebe zu gewinnen, die in Wirklichkeit nichts als eine rein formal faßbare Form des Liebeslebens darstellt, nicht aber irgendeine an sich psychologisch faßbare Erscheinung ist; die freie Liebe kann in das System der Weiberknechtschaft gehören und somit der psychologischen Wertung der Prostituierung unterliegen. Sie kann ebensogut aber in das System der Weiberherrschaft gehören.

Diese glossierte Gedankenverdrehung wählt sich Rosa Mayreder zum Ausgangspunkt ihrer Darlegung, und sie erkennt diese von ihr aufgezogene papierne Wand als bedingt richtig an: »Ohne Zweifel ist bei der Mehrzahl der Frauen das Geschlechtsempfinden stärker in das gesamte Seelenleben eingebunden, als bei der Mehrzahl der Männer.« Man erkennt sofort die Technik dieser Beweisführung. Es wird künstlich unter Verdrehung der tatsächlichen Verhältnisse eine Ansicht als die herrschende hineingestellt, die es gar nicht ist, in dieser angeblich herrschenden Ansicht wird ein wahrer Kern anerkannt, und nun wird sie zerpflückt.

In Wirklichkeit liegt die Sache so: Die Verquickung sexueller Werte mit geistigen Werten ist erst etwas durchaus Sekundäres, und die Erscheinungen, um die es sich hier handelt, lassen sich zwanglos auf Grund einer rein sexuellen Deduktion lösen, was entschieden vorzuziehen ist. Und tatsächlich leitet nun Rosa Mayreder aus dieser Begriffsverwirrung der herrschenden Meinung die Formulierung und Begründung des Systems der doppelten Moral her. Und sie kommt zu dem Resultat, daß es die landläufige Auffassung ist, daß die seelisch ungebundene Sexualität ein Vorrecht und Vorzug des Mannes, als dessen spezifische Eigenart ist, die seelisch gebundene ein Wertmesser und Vorzug der Weiblichkeit. Und damit erscheint die doppelte Moral gerechtfertigt. Ich würde mir nicht die Mühe machen, solche Marotten zu widerlegen; ich weiß nicht, ob diese Deduktion tatsächlich irgendwo ausgesprochen ist, oder ob sich Rosa Mayreder diese herrschende Ansicht selbst zusammenkomponiert hat; ich würde mir in jedem Falle nicht die Mühe machen, eine irgendwo aufgestellte Deduktion dieser Art auf einem zehn Seiten langen Aufsatze zu widerlegen. Man ist nicht verpflichtet, gegen jeden Unsinn zu Felde zu ziehen, sondern man kann auch der Kritik seiner lieben Mitmenschen einiges zu tun übrig lassen. Ich erwähne diese ganze »Beweisführung« hier nur, weil sie so überaus typisch ist für die Art der Polemik auf seiten der Reformatoren. Hier die Verdrehung der ganz einfachen Tatsache, daß der Mann das Weib prostituieren kann, niemals aber das Weib den Mann, umgemodelt und umgedeutet zu der Behauptung, die seelisch ungebundene Sexualität sei ein Vorzug des Mannes, die seelisch gebundene ein Vorzug der Frau. Während es doch ganz einfach so ist, daß die Prostituierung (hier als seelisch ungebundene Sexualität gefaßt) ohne die Verquickung mit irgendwelchen moralischen oder psychischen Phänomenen rein erotisch betrachtet die tiefst mögliche Erniedrigung für das Weib, nicht für den Mann darstellt. Zum Zweck des Beweises wird ein ganz innerlicher Vorgang willkürlich veräußerlicht.

Nun aber die Polemik, der eigentlich geistreiche Teil des Aufsatzes, der diese scheinbaren Widersprüche zu lösen vermag. Rosa Mayreder entdeckt beim Durchschnittsmanne eine andere sehr bedeutsame Erscheinung der männlichen Psyche. Beim Durchschnittsmanne wird die mangelnde Verknüpfung der geistigen Elemente durch soziale Vorstellungen ersetzt. Und in diesen sozialen Vorstellungen sucht sie den Grund dafür, warum der Mann seinem eigenen sexuellen Interesse entgegen nur jene Frauen als moralisch voll gelten läßt, die auf ihre Hingabe den äußersten Preis setzen, den der Mann zu geben hat, seine sexuelle Bindung durch die Ehe. Darin sucht sie den Grund dafür, warum der Mann die freie Liebe, das heißt die uninteressierte Liebe des Weibes nicht zu schätzen weiß. Ich habe schon sattsam dargelegt, daß die Erscheinung, die im allgemeinen unter die Rubrik »freie Liebe« subsumiert wird, oft in das System der Weiberherrschaft gehört, und damit würde es zur Genüge erkenntlich werden, worauf der Widerstand der Männer gegen diese erotische Form basiert, und warum sie die Ehe als eine Form der Weiberknechtschaft bevorzugen. Oder man kann auch sagen, daß der Mann, gerade wenn er liebt, gern sein Höchstes zum Geschenk gibt. Das ist ebenfalls rein erotisch zu erklären und bedarf nicht etwa der neuen Verquickung mit dem sozialen Phänomen.

Aber die wogende Verwirrung hat Rosa Mayreder nun erreicht: »Damit haben wir ein Gebiet der männlichen Psychologie betreten, das uns die verwickeltsten Probleme entgegenstellt.« Durch diese Komplikation mit sozialen Motiven ist die Verfasserin unlogisch und widerspruchsvoll geworden; sie aber meint, durch die Komplikation mit sozialen Motiven ist die männliche Sexualität, die angeblich um so viel einfacher und verständlicher ist, als die weibliche unlogisch und widerspruchsvoll. Die Verfasserin zerbricht sich nun den Kopf, worauf der Grund für die Mißachtung des Mannes gegenüber der freien Liebe basiert, warum er ein Mädchen, das ein Liebesverhältnis hatte, nicht heiraten mag, was ihr rein unlösbar erscheint: die retrospektive Eifersucht kann es nicht sein, die retrospektive müßte sich auch der Witwe gegenüber geltend machen, und das ist nicht der Fall.« Aber wie dann? Statt nun zu dem ganz einfachen Resultat zu kommen, der Mann weiß hinreichend, wie das Ding gedreht wird, er kennt den Kollektivwillen der Männer zur Prostituierung, er weiß, wie im freien Verhältnis der Mann das Weib behandelt, und er will nicht mit einer Frau eine Ehe eingehen, die diese Erniedrigung durchgekostet hat, weil er aus seinem eigenen Liebesverkehr die Erfahrung gemacht hat, mit welcher Einbuße psychischer Werte eine derartige Erniedrigung verbunden war, statt dessen greift Rosa Mayreder wieder auf die Verknüpfung mit dem sozialen Moment zurück und konstatiert ein Interesse des Mannes an der Vaterschaft. Der Mann erblickt im Verhältnis zu seinen erst zu zeugenden Kindern in der sozialen Prämie, die das Weib für die geschlechtliche Hingebung fordert, die stärkste Garantie dafür, daß diese Hingebung nicht eine egoistische Triebbefriedigung ist, sondern den Willen zur Mutterschaft, und damit auch den Willen zur Ausschließlichkeit bedeutet. Der Wille zur Ausschließlichkeit der Hingebung an den einen erwähnten Einzigen unter sozialer und familialer Approbation bildet den Inbegriff der weiblichen Ehre, weil dieser Begriff für den Mann als soziales Wesen die wertvollsten Eigenschaften des Weibes einschließt. Jetzt wird also plötzlich das System wieder umgedreht; nachdem erst von der Abneigung des Mannes gegen die frühere freie Liebe die Rede war, die nicht durch die retrospektive Eifersucht zu erklären ist, wird jetzt plötzlich die mit Recht so beliebte »philosophische« Genesis der Ehe gegeben. Sie ist schon oft widerlegt, und ich werde ohnehin noch an anderer Stelle über sie sprechen; hier verweise ich nur auf meine eigenen Ausführungen im vorigen Kapitel.

Nachdem ich mich hier mit der Sexualliteratur als solcher auseinandergesetzt habe, muß ich mich jetzt der speziellen Literatur zuwenden, welche das Gebiet der Prostitution behandelt. Das durch das aufgehäufte wissenschaftliche Material ungemein wertvolle Werk Iwan Blochs über die Prostitution leidet unter der tendenziösen Einstellung nach dem Gedankenkreis der Sexualreform, der ihn vorbeischießen läßt, wo das klar gesichtete Material aufhört. Iwan Bloch rühmt sich eine innere Geschichte der Prostitution geschrieben zu haben, aber er hat den wesentlichen Kern dessen, was die Prostitution ist, überhaupt nicht erfaßt. Es verlohnt sich nicht, da, wo ein logischer Aufbau und wissenschaftliches Beweismaterial die absolute Schlußkraft erwiesen haben, noch mit einer umfangreichen Polemik die Druckbogen zu füllen, und ich streife darum nur kurz die Irrtümer Blochs im Lichte meines Ideenkreises.

Die Hauptprinzipien und Ergebnisse des Blochschen Werkes sind nach seiner eigenen Zusammenstellung folgende:

  1. Die erstmalige kritische Neubearbeitung und neue Begrenzung des Begriffs Prostitution.
  2. Die Definition der Prostitution in sozialer Hinsicht als ein Überlebsel (survival) im Sinne Tylors.
  3. Der biologische Nachweis ihrer organischen Verknüpfung mit den verschiedenen Formen der religiösen und künstlerischen Ekstase.
  4. Der Nachweis der sekundären Struktur ihrer ökonomischen Beziehungen.
  5. Die Widerlegung der Anschauung, daß sie ein unausrottbares notwendiges Übel sei.
  6. Der Nachweis, daß die gesamte moderne Organisation und Differenzierung der Prostitution aus dem klassischen Altertum stammt.
  7. Der Nachweis, daß die ihr zugrunde liegende noch heute geltende antike Sexualethik das notwendige Produkt der Moral typischer Sklavenstaaten ist.

Gegenüber diesen angeblichen Neuentdeckungen ist zu bemerken: Das Wesen der Prostitution, das doch wohl in der sexuellen Eigenart des Verkehrs ohne Umwerbung beruht, ist überhaupt nicht erfaßt worden. Die Prostitution ist nicht ein Überlebsel im Sinne Tylors, sie ist vielmehr eine mögliche Lösung der sexuellen Beziehungen von Mann und Weib, eine der Möglichkeiten der Lösung, die sich auf Grund der physischen Veranlagung von Mann und Weib ergeben, und als solche ist sie zeitlos. Daß auch die gesamte Weltgeschichte nicht zu der Annahme berechtigt, daß die Prostitution im Absteigen begriffen sei, wird die historische Darstellung erweisen: Der biologische Nachweis von dem Zusammenhange der Prostitution mit den verschiedenen Formen der religiösen und künstlerischen Ekstase, läßt sich in der von Bloch behaupteten Weise nicht lösen. Die Beziehung zum Rausch besteht nur in der Weise, daß in ihnen ein Medium gesucht wird, um den Mann zu fangen; nicht gesucht wird dagegen die eigene religiöse oder künstlerische Ekstase der Dirne. Der Zweck der Prostitution ist die Ekstase beim Manne bei mangelnder Ekstase beim Weibe. Nicht aber ist diese Ekstase beim Weibe im Laufe der Entwicklung verloren gegangen; vielmehr ist der Mangel der Ekstase beim Weibe eine der notwendigen Kennzeichen, das uns überhaupt erst von Prostitution zu sprechen berechtigt.

Insofern lassen sich die ökonomischen Beziehungen – ökonomisch im weitesten Sinne des Wortes gebraucht – durchaus nicht als sekundäre bewerten; sondern sie sind primäre, wie sie ausschlaggebend sind für das gesamte System der Weiberknechtschaft, so sind sie die Voraussetzung für die Prostitution des Weibes in jeder Form.

Die Frage, ob die Prostitution ein unausrottbares notwendiges Übel sei, ist an sich zurückzuweisen, weil die Frage bereits ein Urteil enthält. Einer exakten medizinischen und wissenschaftlichen Untersuchung aber steht ein ethisches Urteil nicht, und eine Untersuchung auf der Grundlage einer nach ethischen Gesichtspunkten gewählte Problemstellung ist überhaupt nicht möglich. Die Knechtung, die Prostituierung des Weibes, ist die eine Möglichkeit, wie der Mann sich zum Weibe zu stellen hat. Die Prostitution ist ein männlicher Sexualcharakter und als solcher zeitlos. Ob die Prostitution im Sinne der Blochschen Definition ewig besteht, wird abhängig von der Entwicklung der ökonomischen Faktoren und der Entwicklung des gesamten gesellschaftlichen Lebens sein, die Ewigkeit der Prostitution als sexuellem Typus steht fest. In dem Auf und Ab der Wage, die das Plus oder Minus der Geschlechtsmacht in dem ewigen Kampfe bezeichnet, wird immer wieder im Wechsel der Erfolg bald auf seiten der Frauen, bald auf seiten der Männer sein. Die gesamte Kultur der Gegenwart basiert auf vaterrechtlichen Zuständen, und damit auf der sexuellen Herrschaft über das Weib. Ebenso wie die Entwicklung in den Bahnen des Vaterrechts nicht zu bleiben braucht, braucht auch die moderne Kultur nicht kontinuierlich die Prostitution beizubehalten, es ist möglich, daß einmal eine neue Weiberherrschaft sich in der Kulturwelt bildet, wie sie sich in verschiedensten Gegenden der Welt auf einem tiefen Kulturniveau gebildet hatte – auf erotischer Basis.

Eine große Bedeutung für die Richtung der Entwicklung wird vielleicht die Zukunft des Privateigentums besitzen. Bei einer Beseitigung des Privateigentums ist ein wesentlicher Faktor für die Knechtung des Weibes beseitigt, und überdies würde die im wirtschaftlichen Kampf absorbierte Kraft des Mannes entlastet werden.

Der Wunsch zur Abschaffung der Prostitution müßte, wenn er ehrlich sein wollte, begleitet sein von der Hoffnung auf eine Umwälzung der gesamten kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse, und diesen Wunsch hat bisher kein Sexualwissenschaftler klar ausgesprochen. Grund ihn klar auszusprechen, besitzt höchstens das Weib. Der Mann kann unter den gegebenen Verhältnissen sowohl seine horazische wie seine ovidische Veranlagung befriedigen; er kann das Weib knechten, und er kann ihr Sklave sein. Die Variationsmöglichkeit aller erotischen Verhältnisse ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen gegeben, aber die Wahl liegt beim Manne.

Das Wesentliche des Blochschen Gedankens: Das Schwinden der Prostitution durch die erbliche Entlastung hält einer kritischen Untersuchung nicht stand. Die Entwicklung weist nicht eine Tendenz zu der Befreiung des Weibes aus der erotischen Knechtschaft auf, und die bejubelten Erfolge der Frauenemanzipation sind kümmerliche Trinkgelder gegenüber der ungeheuren Machteinbuße der Frauen seit den Zuständen des Mutterrechts. Frauenmacht ist seitdem immer nur individuell geblieben, und die Stellung der Frau in der Öffentlichkeit zieht nur ganz geringe Nuancierungen einer fein gebogenen Wellenlinie in der Entwicklung, deren Richtung in der Gegenwart viel eher nach der Weiberknechtschaft verläuft als nach der Weiberherrschaft. Die Zeittendenz im einzelnen festzustellen, wird das Ziel der nachfolgenden historischen Untersuchung sein.

Es ist ebenso falsch, eine erbliche Entlastung anzunehmen, wie der Vergangenheit alles Gute in dem Märchen von der guten alten Zeit anzudichten; es besteht vielmehr ausschließlich eine Wellenlinie des erotischen Lebens, die ein ewiges Auf und Ab von schrankenlosem Liebesgenuß und Beschränkung des Liebeslebens darstellt. Diese Bewertung des Liebeslebens ist aber durchaus nicht auf ethische Grundprinzipien aufgebaut. Die Grundprinzipien sind nur vorgeschoben. Die Erscheinungsformen des sexuellen Lebens haben nichts mit der größeren oder geringeren ethischen Einsicht einer Zeit zu tun, oder sie werden zum mindesten nicht ausschließlich von dieser bestimmt; sie hängen vielmehr mit sämtlichen Faktoren des Lebens zusammen, und da diese auch die Ethik der Zeit bestimmen, läßt sich vielleicht eine gewisse Parallele zwischen Ethik und Sexualität feststellen, die zu dem Trugschluß von der ethischen Bestimmung des Sexuallebens geführt haben mag.

Das Sexualleben wird durch alle Faktoren des Lebens bestimmt, vornehmlich durch die wirtschaftlichen Verhältnisse. Zeiten einer wirtschaftlichen Baisse haben stets der Zeit einen Zug zur Askese gegeben, wie wir ihn im untergehenden Altertum und im beginnenden Mittelalter und bis zu einem gewissen Grade in Deutschland nach dem Dreißigjährigen Kriege beobachten können. Zeiten der wirtschaftlichen Hausse waren immer Zeiten der sogenannten Ausschweifung, so in dem alten Athen, in der römischen Blütezeit, der beginnenden römischen Kaiserzeit, in der in dem Weltreiche ungeheure Kapitalien sich akkumulierten, so in der beginnenden Renaissance und in der Zeit der französischen Ludwigs und last not least in der Zeit vor und während des Weltkrieges.

Daß auch das religiöse Leben einen starken Einfluß auf die Gestaltung der Sexualität hervorruft, hat viel Bestrickendes. Aber die Gestaltung der religiösen Verhältnisse ist ebenfalls durch wirtschaftliche Faktoren bestimmt, selbst die Kreuzzüge lassen wirtschaftliche Momente als bestimmendes Motiv zu, nur hatten sie eine religiöse Erscheinungsform angenommen. Überdies pflegen die Menschen nur zu beten, wenn es ihnen schlecht geht und eine wirtschaftliche Krise bewirkt in der Regel eine Bekehrung zu Gott und bringt gleichzeitig eine starke Depression des sexuellen Lebens.

Wie in dem gesamten erotischen Leben, in seiner Intensität eine Wellenlinie besteht, so zeigt sich auch eine Wellenlinie in der Bedeutung der Prostitution. Und zwar geht diese Wellenlinie in der Regel parallel der Wellenlinie, welche die Intensität der Erotik anzeigt. Der Grund für diese Parallelität liegt in dem Aufbau unserer Gesellschaftsordnung, die auf vaterrechtlichen Zuständen basiert. Das gehobene Selbstgefühl des Mannes in Zeiten einer wirtschaftlichen Hausse muß aber notgedrungen auf die Sexualität die Wirkung ausüben, daß er, den sein Selbstgefühl zum rücksichtslosen Egoisten gemacht hat, auch der Frau gegenüber seine knapp gemessene Zeit nicht verschwenden will. Zeiten einer wirtschaftlichen Hausse sind in der Regel Zeiten einer ökonomischen Verteilung der Zeit und einer Verschwendung des Geldes. Für den Liebesgenuß der Frau gehört aber ebenfalls eine Verschwendung der Zeit, wie Liebe in ihrem letzten Geheimnis Verschwendung in allem ist. So sind die Zeiten der wirtschaftlichen Hausse Zeiten der Prostituierung der Frau: das zeigen Athen und Rom in ihrer Blütezeit, die Renaissance und der Beginn des 20. Jahrhunderts.

Diese Gedanken ergeben, daß es eine Utopie ist, das Sexualleben und seine Erscheinungsformen reformieren zu wollen, denn die Erscheinungsformen des Sexuallebens wurzeln in der Tiefe des Kulturprozesses. Wollte man hier reformieren, so müßte man an die Wurzeln der Erscheinungen greifen, so müßte man nicht die sekundären Erscheinungsformen des Sexuallebens, sondern die ökonomischen Wurzeln verändern. Das ist aber nur möglich durch den Eintritt einer wirtschaftlichen Baisse oder durch die Abschaffung des Privateigentums. Umwälzungen von einer so gewaltigen Bedeutung können höchstens das Produkt einer aus den Lebensnotwendigkeiten der Menschheit stammenden Entwicklung sein, die sich möglicherweise aus einer maßlosen Steigerung des sozialen Gradients ergeben könnten. Ich möchte diese Gedankengänge zunächst einmal zur Diskussion stellen und werde hoffentlich bald Gelegenheit haben, die wissenschaftliche Begründung für meine Anschauungen zu geben.

Jedenfalls sind mit diesen Verhältnissen die Probleme der Sexualmoral eng verknüpft. Es ist völlig wertlos, mit ethischen Prinzipien gegen die alte Sexualordnung anzukämpfen, eben weil sie nicht auf einer ethischen, sondern einer Opportunitätsbasis ruht, kann man sie nur mit Opportunitätsgründen bekämpfen.

Die Vergewaltigung des Schwächeren, des kollektivistisch Schwächeren, liegt so sehr im Geiste unserer Zeit, daß der Mann das Weib eigentlich in jeder Form erotischen Beisammenlebens prostituiert, selbstverständlich auch wenn er sie heiratet.

»Die Gesellschaft soll in Gesetzen und Anschauungen die Sittlichkeitsgesetze verschieben,« sagt Helene Stöcker, »so daß sie nicht mit jener wunderlichen Gesetzlichkeit zusammenfällt, die jetzt durch die Trauung erreicht wird, sondern mit dem hohen und ernsten Verantwortlichkeitsgefühl für die Entwicklung der Kinder, eine Verantwortlichkeit, die Vater und Mutter mehr Pflichten auferlegt als nur die, die Kinder zu erhalten.« – Aber ein derartiges Verantwortlichkeitsgefühl ohne Ehe gehört zu den seltensten Ausnahmen. Es heißt in utopischer Weise um die wirklichen Verhältnisse herumreden, wenn man verkennt, daß die Hauptsache, das »Ideal«, das die jungen Leute unserer Zeit erstreben, der Gratiskoitus ist. Und daß Weibersterben kein Verderben ist, unterschreibt der Mann unserer Tage immer noch, wenigstens für die Weiber, die er geliebt hat. »Die neue Ethik«, sagt Frau Dr. Stöcker, »wird nicht in düsterer Lebensentsagung und -verneinung bestehen, ebensowenig natürlich in roher und genußsüchtiger Willkür, sondern in friedlicher Bejahung des Lebens und all seiner gesunden Kräfte und Antriebe. Was das für das sexuelle Problem bedeutet, ist klar genug.« Allerdings, Madame, es ist mir sehr klar. Wenn ich die Entwicklung des sexuellen Lebens ansehe, so sehe ich immer nur, daß es Menschen mit erotischem Talent und Menschen ohne erotisches Talent gibt. Menschen mit erotischem Talent gestalten sich ihr Liebesleben zu einem freudigen Genußleben, zu einer Erhöhung der Lebenswerte, und die Ethik der Gesellschaft hat für die Gestaltung dieses Lebens nur äußerst wenig zu bedeuten. Die Menschen ohne erotisches Talent aber prostituieren und werden prostituiert, sie sehen von ihrem Standpunkt mit Recht in dem Liebesleben eine Schweinerei und unterscheiden im Gegensatz zu ihm das höhere geistige Leben.

Ich finde es sehr ehrenwert von Frau Dr. Stöcker, daß sie das Liebesleben ändern will, denn der augenblickliche Zustand ist tatsächlich nicht besonders schön. Daß sie an einem ganz falschen Punkte einsetzt, glaube ich reichlich klar bewiesen zu haben. Sie müßte das sexuelle Empfindungsleben umgestalten, dann würde die sogenannte alte Ethik, d. h. die herrschende Ethik, von selber fallen, da sie nur der logische Schluß aus den herrschenden sexuellen Zuständen ist. Ohne die gegenwärtigen Verhältnisse umzugestalten, ohne die Menschen zu ändern, wird man aber niemals die Ethik ändern können.

Im allgemeinen stehe ich der Tätigkeit von Vereinen und Gesellschaften gerade auf diesem Gebiete sehr skeptisch gegenüber. Hier, wo alle Erfolge und alle Wirksamkeit im Einzelnen wohnen, liegt auch die Forschung in den Händen der Einzelpersönlichkeit, die durch Eigenerlebtes und psychologische Detailarbeit ihr System aufzubauen hat; aber gerade diese ist ungemein schwierig, weil der einzelne, abgeschreckt durch Neugier und übles Moralisieren, gerade dort schweigt, wo er allein die Wahrheit zu stützen vermag. Den Lesern wäre ich daher sehr dankbar, wenn sie mir Einzelheiten psychologischer Art zum Durchdenken übermitteln oder Anfragen an meine Adresse (Wolfgang Sorge, Berlin-Friedenau) richten würden.


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