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7. Das neunzehnte Jahrhundert und die Gegenwart.

Den Geist des bürgerlichen Zeitalters, in dessen letztem Ausläufer wir vielleicht leben, will ich mit der ausgezeichneten Schilderung aus der Sittengeschichte Eduard Fuchs' kennzeichnen. Ich versage mir es, an dieser Stelle selbst die Psychologie der Zeit zu geben, und ich wähle die Fuchs'schen Ausführungen sozusagen als grundlegendes Material:

»Das bürgerliche Zeitalter ist das Zeitalter des modernen Kapitalismus, der sich auf der im 18. Jahrhundert aufgekommenen Wirtschaftsweise der reinen Warenproduktion aufbaut. Der moderne Kapitalismus aber ist die kühnste Entfaltung der Institution des Privateigentums, die das Wesen unserer gesamten gesellschaftlichen und politischen Kultur bedingt. Die diesem neuen Zustande entsprechenden politischen und gesellschaftlichen Formen entstanden in England aus der Revolution von 1648, die ihren Abschluß erst 1688 fand, und auf dem europäischen Festlande durch die französische Revolution. Diese beiden epochalen Umwälzungen haben jene staatlichen und gesellschaftlichen Gebilde zertrümmert, die der neuen, historisch bedingten Produktionsweise hindernd im Wege standen und haben dafür jene politischen und sozialen Formen erstehen lassen, die das neue Wirtschaftsprinzip als Voraussetzung seiner Entwicklung bedurfte. Infolge dieser Konsequenzen waren die Revolutionen von 1648 und 1789 nicht bloß eine englische und französische, sondern »sie waren Revolutionen europäischen Stils«. Durch sie hatte die Geschichte der gesamten europäischen Menschheit wieder einmal eine völlig neue Taille bekommen: ›Sie waren nicht der Sieg einer bestimmten Klasse der Gesellschaft über die alte politische Ordnung, sie waren die Proklamation der politischen Ordnung für die neue europäische Gesellschaft. Die Bourgeoisie siegte in ihnen, aber der Sieg der Bourgeoisie war damals der Sieg der neuen Gesellschaftsordnung, der Sieg des bürgerlichen Eigentums über das Feudale, der Nationalität über den Provinzialismus, der Konkurrenz über die Zunft, der Teilung über das Majorat, der Herrschaft des Eigentümers des Bodens über die Beherrschung des Eigentümers über den Boden, der Aufklärung über den Aberglauben, der Familie über den Familiennamen, der Industrie über die heroische Faulheit, des bürgerlichen Rechtes über die mittelalterlichen Privilegien.‹ (Neue Rheinische Zeitung vom 15. Dezember 1848.)

Durch diesen Umwälzungsprozeß wurden jene Klassen, in die sich die Gesellschaft bishin gegliedert hatte, teils aufgelöst, teils völlig umgebildet, außerdem entstanden in der weiteren Entwicklung neue Klassen mit gänzlich neuen Bedürfnissen, die mitbestimmend in die Geschichte aller Länder eintraten. Auf diese Weise wurde allmählich das gesamte gesellschaftliche Sein der Menschen wiederum ein durchaus neues. Da aber einem veränderten gesellschaftlichen Sein der Menschen stets veränderte geschlechtliche Moralien entsprechen, so datiert von hier ab auch eine neue geschlechtliche Moral; völlig neue Gesetze der öffentlichen und privaten Sittlichkeit kamen auf und wurden herrschend.

Das Zeitalter des fürstlichen Absolutismus hatte einen schrankenlosen und raffinierten Kultus der Sinnlichkeit offen vor aller Welt als sein oberstes Gesetz proklamiert. Dieser Mut der Offenheit war jedoch kein Beweis, daß man in diesen Zeiten in geschlechtlichen Dingen freier und größer dachte als heute, sondern einzig der Zynismus des uneingeschränkten Absolutismus. Den damals herrschenden Klassen, dem Hofadel und der Finanzaristokratie, standen noch keine widerstandsfähigen Klassen gegenüber, deren korrigierende Kritik ihrer Herrschaft hätte gefährlich werden können. Also konnten sie ungehemmt ihren Trieben leben und deren schwelgerische Erfüllung zynisch als höchsten Zweck des Daseins aufstellen. In dem den Absolutismus ablösenden bürgerlichen Zeitalter waren jedoch die Machtverhältnisse der verschiedenen Klassen zueinander völlig andere geworden. Hier waren die mittleren und unteren Klassen in allen Ländern durch offene Kritik mehr oder weniger zu mitbestimmenden Faktoren in der Gesellschaft emporgestiegen, also mußten schon aus diesem Grunde und von diesem Zeitpunkt an die Gesetze der öffentlichen Sittlichkeit in einer geradezu entgegengesetzten Richtung formuliert werden, außerdem aber auch deshalb, weil der Inhalt des Lebens und die Bedürfnisse der neuen Zeit ebenfalls gänzlich anders geworden waren.

Der bürgerliche Staat hat überall, wo er verwirklicht wurde, den Untertan und Hörigen zum Staatsbürger gemacht, er hat ihm die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht verliehen und das gleiche Recht für alle proklamiert. Unter dem Feldgeschrei: ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!‹ schlug der dritte Stand seine Schlachten gegen das feudale Europa und erfocht seine unsterblichen Siege. Der bürgerliche Staat hat die Frau von dem Piedestal herabgeholt, auf dem sie nahezu anderthalb Jahrhunderte offiziell als höchste Gottheit gethront hatte. Die Solidarität vom Menschen zum Menschen sollte Hand und Fessel für alle sein. Dem menschlichen Schönheitsideal wurden die höchsten psychischen und physischen Zwecke des Daseins zum Vorbild und Maßstab dekretiert. In dieser Weise wurden alle Formen und Werte des Lebens, alle Künste, Philosophie, Recht, Sprache, Wissenschaft usw. vom bürgerlichen Zeitalter korrigiert und redigiert. Der moderne bürgerliche Staat wollte die Krönung der gesamten historischen Entwicklung in Familie, Staat und Gemeinde sein; ein Gebilde, das höchstens noch einige Schönheitsfehler haben konnte. Also wollte er auch förmlich die Inauguration einer »wahrhaft sittlichen Weltordnung« darstellen.

Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß schon dadurch ungeheure sittliche Triebkräfte in die europäische Geschichte eingeschaltet worden sind, und daß diese im Laufe der Zeit auch zu Resultaten der physischen und geistigen Höherhebung der Völker geführt haben, wie sie bis dahin keine Gesellschaftsform auch nur entfernt erreicht hat. Manche der politischen und gesellschaftlichen Ideale, die ehedem nur als verwegene Träume kühner Utopisten Gestalt gefunden hatten, sind schon dadurch greifbare Wirklichkeit geworden, daß sie den begeisterten Kämpfen von Millionen ständig als Standarten vorangetragen wurden und werden. Jeder Tag führt in den Wissenschaften und den Künsten zu neuen und immer kühneren Konsequenzen. Die Revolution ist auf allen Geistesgebieten in Permanenz.

Gleichwohl ist alles dies, was den Begriff einer wahrhaft sittlichen Weltordnung ausmachen könnte, höchstens die Ideologie des bürgerlichen Staates, nur sein künstlicher Schein und nicht seine absolute Wirklichkeit. Es ist die Gloriole, die er sich in seiner Jugend Maientagen selbst ums Haupt wob, als mit ihm die neue Zeit mit ehernen Schritten über die Erde stürmte und alles revolutionierte, alle alten Formen zerbrach und mit neuem Inhalt erfüllte und, was nicht zu bestreiten ist, als er sich wirklich in ehrlichem Glauben als die ideale Erfüllung aller Dinge wähnte. Der reale Inhalt dieser Ideologie zerbrach jedoch alsbald und aufs grausamste an der prinzipiellen Unvereinbarkeit der Idee mit der reellen wirtschaftlichen Basis der Zeit, deren letztes und hauptsächlichstes Ziel immer die Steigerung der Profitrate ist; das immanente Gesetz der kapitalistischen Warenproduktion. Die Ideale des bürgerlichen Zeitalters konnten gar nicht Wirklichkeit werden, weil die Befreiung des Menschen durch den bürgerlichen Staat niemals Selbstzweck war, sondern nur das Mittel zum Zweck. Der Mensch als Masse mußte befreit werden, weil nur dadurch die Kräfte entstanden und die Arme verwendbar wurden, deren das neue Wirtschaftsprinzip in immer umfangreicherem Maße zu seiner Welteroberung bedurfte. Im Interesse dieser letzten und einschneidenden kapitalistischen Bedürfnisse mußten also die sämtlichen offiziellen Ideale des bürgerlichen Staates ständig korrigiert werden. Je einschneidender und widersprechender zur der als Standarte gehißten Idee diese Korrektur von der bürgerlichen Gesellschaft im Interesse ihrer Geldbeutel und ihrer Herrschaft geschah, und je mehr dadurch der wahre Inhalt der Dinge mit ihrer ideologischen Hülle kontrastierte, um so näher hielt sie jedoch an dieser fest – sie wollte die verwirklichte sittliche Weltordnung, über die es kein Hinaus mehr gab, nicht nur sein und bleiben, sondern sie mußte dies auch, sie hätte sich denn in der Idee selbst aufgegeben, und das wäre einem selbst gefällten Todesurteil gleichgekommen.

Der ungeheuerste innere Widerspruch zwischen Schein und Sein, den es jemals in der Geschichte gab, ist das schließliche Ergebnis dieser Entwicklung und damit auch das charakteristische Wesensmerkmal des modernen bürgerlichen Zeitalters geworden. Den unentbehrlichen Ausgleich für diese historische Situation bot die Heuchelei als verbergende Hülle für den klaffenden Widerspruch in den Dingen und Ideen. Was ehedem immer nur Charakteristikum einiger Schichten der Gesellschaft war, ist im Zeitalter der Bourgeoisie Eigenschaft der Gesamtheit geworden. Der bloße Schein trat offiziell an die Stelle der Wirklichkeit. Es entstand das diktatorische Gesetz: »Du mußt unter allen Umständen sittlich scheinen.« Speziell auf dem Gebiete der geschlechtlichen Moral erstand die Moralheuchelei als Geschlechtsideologie, in unzähligen Fällen gesteigert bis zur schamlosen Prüderie. Geachtet und angesehen ist der, der diesen Schein durch alle Fährnisse des Lebens zu wahren versteht. Geächtet dagegen sogar jener, der bei aller persönlichen Unantastbarkeit auf diesen Schein verzichtet. Das ist natürlich nicht die bürgerliche Moral im Längsschnitt angesehen, sondern in ihrem Querschnitt. Jener besteht in dem ganzen Auf und Ab dieser Entwicklung.

Das bürgerliche Zeitalter verlieh allen Menschen das Selbstbestimmungsrecht. Das Recht der Selbstbestimmung bedingt aber als Ausgleich auch das Bewußtsein der Selbstverantwortlichkeit. Zum Recht gesellt sich die Pflicht. Es soll fortan für alle Menschen ohne Ausnahme heißen: »Du sollst.« Dieses Gesetz diktierte auch der Liebe ihren spezifischen Zweck. Die durch die echte Leidenschaft geläuterte individuelle Geschlechtsliebe sollte ihre höchste Stufe in der Ehe erklimmen; das wird als ihr erster und letzter Zweck proklamiert. Ein Liebesverhältnis kann und soll nur Vorstufe der darauf folgenden Ehe sein. Eine Harmonie der Körper und der Seelen für das ganze Leben. Der Ehe höchster Zweck wiederum sollen die Kinder sein. Die Erfüllung des Geschlechtstriebes sollte nicht bloß Lusthandlung bedeuten, sondern geheiligt und erhoben zum Zweckgedanken durch den Wunsch Kinder zu zeugen. Das Kind wird zum Zweck der Ehe. Aber nicht bloß als Erbe des Besitzers und des Namens, sondern als Fortsetzer des Begriffs der Menschheit, in deren Rahmen und Dienst jeder stehen soll. Die Ehe ist deshalb zugleich Pflicht für jeden. Durch diese Wichtigkeit der Ehe für den Staat wird sie zum sittlichen Institut, oder vielmehr die einzige Form, die den beiderseitigen Geschlechtsverkehr legalisiert. Daraus folgt als nächste Konsequenz die strenge Forderung der vorehelichen Keuschheit und der unbedingten gegenseitigen Treue. Die beiden Gatten lieben und leben nur sich und ihren Kindern. Weiter folgt daraus, daß jeder illegitime Geschlechtsverkehr für alle Beteiligten zur Schande und Scham gereicht. Koketterie und Flirt mit Dritten entheiligt die Ehe; Ehebruch ist nicht nur ein gegenüber einer Person begangenes Verbrechen, sondern sogar ein Verbrechen am Staat. Der Genuß käuflicher Liebe ist auf Grund derselben Logik das Verächtlichste, was es geben kann. Die Dirne ist nicht mehr die pikante Meisterin der Liebe, sondern ein Pfuhl der Verworfenheit. Indem die Ehe auf diese Weise zum einzigen sittlichen Institut der Liebesgemeinschaft zwischen den beiden Geschlechtern gestempelt wird, wurde sie damit förmlich zum Palladium des sittlichen Staates überhaupt erhoben. Die Ehe ist deshalb auch eine Würde, die ohne weiteres die Verheirateten über die Unverheirateten erhöht. Aus dieser Verklärung der Ehe in der bürgerlichen Ideologie ergeben sich natürlich auch dementsprechende Konsequenzen auf allen Gebieten des gegenseitigen Liebeswerbens, die zahlreichen Forderungen des sogenannten öffentlichen und privaten Anstandes in Sprache, Gebärden, Benehmen, Mode, Gesellschaft usw.

Ebenso wie die politischen Ideale des Bürgertums, so sind selbstverständlich auch dessen geschlechtliche Ideale aus seinen besonderen Bedürfnissen erwachsen: dieses sind die Wurzeln. Nur im Rahmen eines geordneten Familienhaushaltes ist die volle Sicherheit der bürgerlichen Existenz verbürgt, wobei auch zu beachten ist, daß es in erster Linie das Kleinbürgertum war, das die Vormachtkämpfe für das bürgerliche Zeitalter lieferte. Revolutionäre Kleinbürger haben die große englische und die große französische Revolution gemacht. Aus den Reihen von Gevatter Schneider und Handschuhmacher setzte Cromwell sein Regiment der Eisenrippen zusammen, und aus ihnen rekrutierten sich in Frankreich die Jakobinerklubs. Das Proletariat als selbständige Klasse ging ja erst aus der allmählich sich vollziehenden industriellen Revolution hervor, und die damals schon existierenden Kapitalbesitzer propagierten naturgemäß eine epikuräische Lebensphilosophie, wie ja überhaupt der üppige Hofadel in seinen Allüren im letzten Grunde nur der Kostgänger der damaligen Kapitalmagnaten war. Es handelte sich also um eine in der Hauptsache kleinbürgerliche Ideologie, mit der das eingeleitet wurde.

Und noch ein zweiter Umstand darf nicht übersehen werden: daß nämlich die bürgerliche Ideologie im Kampfe gegen den fürstlichen Absolutismus entstanden ist. Die herrschenden Gewalten sollten deshalb vor allem in ihrer Unsittlichkeit gebrandmarkt werden, indem man demonstrativ die eigene höhere Sittlichkeit daneben stellte. Diese Kampfstellungen bedingte die äußeren Formen der neuen Ideale, ihre spezifische Formulierung. Eine Kampfmoral ist stets demonstrativ. Die Liebe ist im Ancien Régime ein bloßes Amüsement, ein Getändel, ein Spiel, das man unter Umständen mit Dutzenden spielt, und bei dem jedenfalls ständig die Person wechselt, dem stellt man ostentativ die tiefe, unvergängliche, auf eine einzige Person gerichtete Leidenschaft entgegen. Die Ehe ist im Ancien Régime bei den herrschenden Klassen aufs tiefste zerrüttet, also stellt man dieser Tatsache die Reinheit der Ehe gegenüber. Das Kind ist im Ancien Régime ein höchst unbequemer Ballast der Ehe, den man sich so rasch wie möglich wieder vom Halse schafft, indem man seine Pflege einem anderen anvertraut. Demgegenüber erhebt die bürgerliche Ideologie die Aufzucht der Kinder durch die Eltern zur höchsten sittlichen Pflicht. Eine Mutter, die ihr Kind nicht selbst nährt, begeht ein Verbrechen. Die Dirne in ihrer vielfachen Gestalt ist im Ancien Régime die oberste Gottheit, der alle Welt auf den Knien opfert; also wird sie von der bürgerlichen Ideologie zum Ausbund alles Gemeinen und Verächtlichen degradiert. Und so weiter.

Aus der Idee leitet das erwachende Bürgertum seine Menschenrechte her, in der Idee, also in einer höheren Sittlichkeit mußte darum auch dieses Recht begründet sein. Diese höhere Sittlichkeit zu dokumentieren, war daher die Aufgabe, die von ihrer Ideologie auf die geschilderte Weise erfüllt wurde.

Die völlige Umkehrung der Idee in ihr Gegenteil ist wie in der Politik und Wirtschaft, so auch im Geschlechtlichen die Logik der modernen kapitalistischen Entwicklung geworden. Das Gegenteil, zu dem die Entwicklung der Dinge sehr rasch auf der ganzen Linie geführt hat, lautet kurz und bündig: Es gibt keine Form der Ausschweifung, kein geschlechtliches Laster, dem man im bürgerlichen Zeitalter nicht begegnet. Man kann die spezifischen Formen der Ausschweifung noch so schwarz malen, und man wird sie niemals zu schwarz malen. Das gilt für beide Pole der Gesellschaft, für oben und für unten. Freilich muß man andererseits ohne weiteres zugeben, daß die kapitalistische Entwicklung keines der scheußlichen Laster und Verbrechen, die es auf dem Gebiete der Geschlechtssphäre gibt, erst aus sich herausgewickelt hat. Es gibt im bürgerlichen Zeitalter wohl kaum eine Form der Ausschweifung, die nicht schon das Ancien Régime mit allem Raffinement fruktifiziert hätte. Aber die kapitalistische Entwicklung hat etwas anderes zuwege gebracht. Sie hat die Dinge zu einer Massenerscheinung gesteigert, die skrupellose Ausschweifung sowohl, die der Überfluß ermöglicht, als auch die sittliche Verworfenheit, in die das Elend den Menschen hinabführt. Die kapitalistische Entwicklung – um mit der ersten Erscheinung zu beginnen – der sehr umfangreichen und immer reicher werdenden Klasse der Kapitalbesitzenden hat die Möglichkeit geschaffen, sich alle jene kostspieligen Vergnügungen zu leisten, die sich ehedem außer den Spitzen der Finanzaristokratie und dem reichsten Hofadel nur die machtbegabten Despoten zu verschaffen vermochten und darum auch nur diese sich verschafft haben. Das heißt nichts anders als: heute steht Zehntausenden zu Gebote, was im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus einigen Dutzenden, im Höchstfalle ein paar Hunderten zu Gebote stand. Und Zehntausende fruktifizieren denn auch heute diese besonders kostbaren erotischen Delikatessen. Mit der Möglichkeit, sich alles leisten zu können, ist nämlich gleichzeitig auch bei vielen Tausenden in jenem Land das Bedürfnis entstanden und entsteht täglich von neuem, den raffiniertesten erotischen Ausschweifungen zu frönen. Dieses Bedürfnis ist natürlich das Entscheidende. Die ungeheure geistige Inanspruchnahme, welche die rasende Hetzjagd nach den Millionen bei den meisten bedingt, fordert die stärksten Narkotika als Auslösung. Harmlose Schäferidylle vermögen die zerwühlten Nerven weder zu beruhigen und abzulenken, noch neu zu stimulieren. Das vermag nur ein im höchsten Grade kaprizierter Genuß. Der Massenbedarf an raffinierten Liebesmahlzeiten hat ganz naturgemäß auch auf diesem Gebiete zu einem großkapitalistisch organisierten Betriebe geführt, der selbst den weitestgehenden Ansprüchen zu genügen vermag. Die Erlangung der besonderen erotischen Genüsse soll für den betreffenden mit keinerlei Schwierigkeiten mehr verknüpft sein, das war außerdem das ebenso wichtige Bedürfnis. Man will jederzeit verlangen können und nur zu verlangen brauchen, ein bestimmtes Vergnügen in einer Woche, in zwei Tagen, unter Umständen auch schon ein paar Stunden in der bequemsten Form und mit aller Eleganz präsentiert zu bekommen. Und so handelt man denn seit langem in Liebe genau so wie in Baumwolle und liefert ebenso prompt wie in dieser. Nur höhere Naturgewalten, beileibe aber keine Menschengewalten, vermögen das korrekte Funktionieren dieses Betriebes zu stören.

Auch für die Lösung dieses Problems war die Voraussetzung notwendig, daß die kapitalistische Entwicklung alle Beziehungen von Mensch zu Mensch systematisch ihres idealen Schimmers entkleidete und sie auf ihren Geldwert reduziert hat. Jede Frau mußte im gewissen Sinne ihren Preis bekommen und ebenso jede Kaprize, und wäre sie noch so verrucht. Und alles hat denn auch »seinen Preis«. Gewiß mitunter einen sehr hohen. Die Realisierung einer bestimmten Begierde ist infolgedessen nur eine Frage der Höhe der Summe, die zur Verfügung steht: das ist die letzte Konsequenz.

Da aber Tausenden zur Befriedigung ihrer Launen heute jede Summe zur Verfügung steht, so ist jede Laune zu erfüllen. Beispiele mögen dies erhärten. Ein Krösus sieht auf dem Pariser Boulevard, dem Bois de Boulogne oder sonstwo eine elegante Dame, die seine Begierde reizt, und die er darum zu besitzen wünscht. Nicht um sie zu heiraten, sondern nur für ein elegantes Schäferstündchen. Und er wird die betreffende Dame in den meisten Fällen auch besitzen. Trotzdem sie vermutlich verheiratet und jedenfalls sehr vornehm ist, denn sie hat eben ihren Preis. Alles, was der Interessent zu tun braucht, besteht darin, ein Petit Bleu an die Adresse eines der großen Maison de Rendezvous zu schicken, deren es in Paris gegenwärtig zwischen neunzig und hundert gibt, und darin der Leiterin seinen Wunsch mitzuteilen und wieviel er bereit ist, es sich kosten zu lassen. Die beauftragte Dame des betreffenden Maison de Rendezvous regelt dann alles weitere in der denkbar kürzesten Zeit. Daß dies leider kein Phantasiegebilde ist, dafür haben wir authentische Dokumente zur Hand. Eine umfassende Studie, die der französische Schriftsteller Maurice Talmeyr auf Anregung und mit Unterstützung des vor einigen Jahren gestorbenen Chefs des Pariser Recherchendienstes, Paubaraud, über diese Institute machte und vor kurzem publizierte, orientiert uns eingehend sowohl über die Methoden dieser Vermittlerinnen wie über deren Erfolge.

Von einem höheren Polizeibeamten begleitet, der dafür zu sorgen hatte, daß die betreffenden Leiterinnen dieser Institute dem Interviewer die geforderten Auskünfte in zuverlässiger Weise gaben, besuchte Maurice Talmeyr eine Reihe der angesehensten unter diesen Firmen. Hier zwei Beispiele, die beide belegen, daß mit einer bestimmten Summe »jeder Auftrag zu effektuieren« ist.

Die Leiterin eines der vornehmsten Maison de Rendezvous gab die folgende Auskunft. »Kürzlich wollte ein Herr eine bestimmte Dame kennen lernen und kam zu mir, um mir zu sagen, daß er, wenn es sein müßte, bis zu vierzehntausend Franken geben würde. Ich suchte also die Dame auf und ließ ihr meine Karte überreichen. Sie kommt und ist sehr ungemütlich. ›Madame, wer sind Sie?‹ ›Ja, Madame, Sie haben ja meinen Namen gelesen.‹ ›Gewiß, Madame, aber Ihr Name sagt mir gar nichts.‹ ›Nun wohl, Madame, ich habe einen Freund, der sich sehr nach Ihrer Bekanntschaft sehnt und sehr generös ist.‹ ›Madame, ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen, und ich verstehe absolut nicht, was Sie bei mir suchen.‹ ›Dann bitte ich um Entschuldigung, Madame … Meine Adresse haben Sie?‹ ›Die habe ich.‹ ›Gestatten Sie mir sie Ihnen zurückzulassen … Sie können mir schreiben, wenn es Ihnen paßt … Bonjour, Madame.‹ ›Bonjour, Madame.‹ Acht Tage später bestellt mich ein Briefchen in den Leseraum des Warenhauses da gegenüber … Ich komme dorthin, und die Dame sieht mich kaum, als sie recht impertinent zu mir sagt: ›Hören Sie, Madame, Sie sind da eines Tages bei mir, gewesen und haben mir da von einer großartigen Generosität zu erzählen gewußt … Ich weiß absolut nicht, was Sie damit sagen wollten. Wollen Sie mir das nicht einmal näher erklären?‹ ›Nun, Madame, ich habe einen Freund, der vierzehntausend Franken zur Verfügung stellt.‹ ›Gut, Madame, ich werde es mir überlegen … Bonjour, Madame.‹ ›Bonjour, Madame.‹ Acht Tage später wieder ein Brief, der mich an denselben Ort bestellt. Ich komme hin und frage: ›Nun, Madame, haben Sie sich's überlegt?‹ Darauf antwortet sie ganz gleichgültig: ›Ja, Madame, und ich glaube, es ist nicht genug.‹ – ›Schön, Madame, ich werde mit meinem Freund sprechen.‹ Und die Sache ist mit zwanzigtausend Franken zustande gekommen.«

Den ersten und unerreichbaren Anreiz zu geschlechtlicher Ausschweifung der in der Industrie beschäftigten Massen bot das Zusammenarbeiten der beiden Geschlechter und der verschiedenen Alter in engen und überhitzten Räumen, was in der ersten Periode der industriellen Entwicklung so ziemlich überall die Regel war. Teils wegen der Hitze, teils um sich ungehindert bewegen zu können, sind die Frauen fast aller Industrien meist nur notdürftig bekleidet, in manchen, wie zum Beispiel beim Bergbau, sind Mann und Frau tatsächlich halb nackt. Bei den Männern besteht die ganze Bekleidung aus den Schuhen und der Hose, bei den Weibern im Hemd und kurzem Rock, der die Bewegung nicht hindert. Eine solche Situation zwingt unbarmherzig zur gegenseitigen Verführung, um so mehr, wenn man erwägt, daß es sich stets um eine Anhäufung von Leuten handelt, denen vom Leben weder die intellektuelle noch eine sittliche Erziehung gegeben worden ist. Die Sprache und die sämtlichen Umgangsformen können in einer solchen Atmosphäre nicht anders als roh und gemein sein. Wo aber die geistige und seelische Keuschheit jeden Augenblick neuen Gefahren ausgesetzt ist und mit Gewalt gestört wird, kann auch von physischer Keuschheit keine Rede sein. Beide Geschlechter verlieren diese daher fast ohne Ausnahme, sowie sie mannbar werden. Der Geschlechtsverkehr vollzieht sich aus demselben Grunde nicht auf der Basis der Liebe, sondern fast durchweg auf dem der Unzucht. Nicht bloß alle Männer, sondern auch unzählige Mädchen und Frauen haben im Laufe ihrer Jugend mit einer ganzen Reihe Individuen des anderen Geschlechts geschlechtlich zu tun gehabt, und viele unterhalten zur gleichen Zeit Beziehungen mit mehreren zugleich. Der Liebesgenuß ist nur eine Sache der Gelegenheit. Deshalb bildete die Nachtarbeit in solchen Betrieben, wo beide Geschlechter vereint arbeiten, eine weitere Verstärkung der sittlichen Gefahren. Denn bei der Nachtarbeit wird die Verführung der Frauen in den meisten Fällen schon innerhalb der Fabrik zur leichten Möglichkeit.

Ungenügende Wohnungsverhältnisse führen dagegen ebenso rasch und ganz systematisch zu einer allgemeinen Demoralisation. Wo das Wohnen der Massen überhaupt nur noch ein Kampieren ist, wie dies bis in die siebziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts überall der Fall war, da konnte das geschlechtliche Gebaren der Massen sich nur in den widerlichsten Formen abspielen. Und das ist auch das charakteristische Merkmal. Die Liebe war fast nur Unzucht. Man konnte einander nicht ausweichen, also hatte das Schamgefühl hier keine Stätte. Bei den Kindern konnte es sich niemals entwickeln, und bei den Erwachsenen, die es vielleicht früher besessen hatten, geht es sehr bald in die Brüche. Not kennt auch hier kein Gebot. Wo Kinder und Erwachsene gezwungen sind, im engen Raume zusammen zu schlafen, so daß Lagerstätte an Lagerstätte grenzt, sind die Kinder stets lange schon vor der wirklichen geschlechtlichen Reife in alle Praktiken des Geschlechtslebens eingeweiht. Der Geschlechtstrieb wird in einer Zeit geweckt, wo er noch Jahre schlummern sollte, und der Nachahmungstrieb allein führt unerwachsene Kinder dazu, das wenigstens zu versuchen, was sie Vater und Mutter oder ältere verheiratete Geschwister, die Bett an Bett mit ihnen liegen, mit ihren Gatten tun sehen. Schwangere Mädchen im Alter von zwölf Jahren und noch jünger, waren damals geradezu etwas Alltägliches. Und da es die Geschwister meist zuerst unter sich versuchten, so war das Verbrechen der Blutschande nie so häufig wie in jenen Jahrzehnten. Die Mutter ging vom eigenen Sohne, die Tochter vom eigenen Vater schwanger. Am widerwärtigsten waren die sittlichen Zustände, wo die einzige Stube auch noch mit Schlafburschen geteilt werden mußte. Die müde und abgerackert auf ihr Lager gesunkene Arbeiterin, die schlaftrunken den nächtlichen Besucher gewähren läßt, wußte in unzähligen Fällen gar nicht, ob es der Gatte, der Bruder oder der Schlafbursche war.

Von ihnen heben sich die besitzenden Klassen ab durch ihre Moralideologie. Ganz folgerichtig werden aufs mitleidloseste alle die verfemt, die gegen diese Gebote des Anstandes verstoßen, indem sie offen und ehrlich sich gebärden oder, die äußeren Formen nicht achtend, einer heißen Leidenschaft nachgeben. Ein Mädchen oder eine Frau, die einen anderen Mann als ihren offiziell Verlobten küßt, hat damit ohne weiteres ihre Ehre verloren. Ein junges Mädchen, daß schon von einem anderen Mann geküßt worden ist, kann ein anständiger Mann überhaupt nicht mehr heiraten, auch wenn das Mädchen mit dem betreffenden damals regelrecht verlobt war. Jeder voreheliche Geschlechtsverkehr der Frau gilt als Unzucht. Wird ein Mädchen aber gar schwanger, so hat sie damit für alle Zeiten die Achtung der anständigen Leute verscherzt, alle Türen schließen sich vor ihr, sie ist eine Ausgestoßene, auf die man verächtlich mit den Fingern deutet. Mit unsäglicher Verachtung schaut alle Welt aber nicht nur auf die uneheliche Mutter als auf die Verworfene, sondern selbst dem unehelichen Kind haftet zeitlebens ein Makel an. Wenn aber eine Frau sogar so weit geht, daß sie offen »der freien Liebe« huldigt, wird sie der Dirne gleichgestellt, für die die Gesellschaft nur Ekel und Abscheu übrig hat …

Der Kaufmann:, und zwar vornehmlich in der Funktion des Fabrikanten, ist der Herr der Welt im modernen kapitalistischen Zeitalter. Und er wurde dies binnen kurzem und in immer steigendem Maße. Der Kaufmann ist nun alles eher, denn ein Held. Er hat nicht das allergeringste Bedürfnis, sein Leben mutig in die Schanze zu schlagen und es gar für andere aufzuopfern. Im Gegenteil: er will so viel als möglich auf Kosten anderer leben. Er will im größten Stil Geld verdienen. Und sein persönliches Ich erscheint ihm als der wichtigste Faktor in aller Erscheinungen Flucht. Er ist ebensowenig der Gipfel der menschlichen Vollkommenheit, denn gerade in einer absolut einseitigen Konzentration seiner Interessen besteht seine Kapazität und ergeben sich seine Erfolge. Und dieses Einseitige ist das Rechnerische. Alles nicht Geschäftliche, alles was keine materiellen Verdienstchancen für ihn darstellt, rubriziert er unter Vergnügungen, denen er höchstens einen Teil der Mußestunden zuwendet. Das sind in gleicher Weise gesellschaftliches Leben, Wissenschaft, Kunst, Politik, Körperkultur usw. In der Tat gab es niemals in der Geschichte eine derartig einseitige menschliche Physiognomie wie diese. Der Typ des Kaufmanns aber wurde gewissermaßen das allgemeine männliche Idealbild im Bourgeoisiestaat. Dieser Typ bildete sich immer deutlicher und zugleich immer prägnanter heraus und wurde immer mehr herrschend. Bis er heute überall alleinherrschend wurde; denn er hat in gleicher Weise jeden anderen Typ in den Hintergrund gedrängt. Es wird z. B. heute keinem Menschen mehr einfallen, sofern er Land und Leute kennt, Deutschland durch die Typen des Dichters und Denkers zu charakterisieren. Diese konnten als das männliche Idealbild nur für jene Zeit gelten, in denen der bürgerliche Staat erst in der Idee existierte. Als dieser aber eine reale Tatsache wurde, mußte dessen Träger, und das ist der Kaufmann, auch seine ideale Verkörperung abgeben.

Das Fehlen jedes geschlechtlichen und animalischen Zuges charakterisiert dies Ideal in markanter Weise. Der Kaufmann ist scheinbar eine reine Komposition von Logik, zäher Energie und regster Tätigkeit ins Körperliche übertragen. Eine Maschine selbst im Maschinenzeitalter, und selbstverständlich eine, die stets im Betriebe ist, andernfalls kapitalisiert sie sich ja nicht. Und das wäre ein mit der ökonomischen Grundlage des Lebens unvereinbarer Mangel. Aber so einseitig infolge von alledem dieser Typ ist, so reich ist er gleichwohl; er ist nichts weniger als dürftig, sondern im hohen Grade differenziert und kompliziert. Nun, eine gut funktionierende Rechenmaschine ist ja trotz aller Einfachheit bekanntlich auch eine der kompliziertesten Maschinen, die es gibt. Und darum immerhin das Ideal einer Maschine.

Bei dem Kaufmann steht natürlich auch die Liebe unter ökonomischen Gesetzen, und er rechnete bei seinem Amouren vornehmlich mit dem größten Wertfaktor, mit der Zeit. So macht sich auch hier wie in allen Branchen ein entwickelter Zwischenhandel breit, der zwar die Preise verteuert, aber allein die Bequemlichkeit und Sicherheit des Warenumsatzes gewährleistet. Dieser Zwischenhandel hat, die alten Formen des sexuellen Lebens übernehmend, viele Typen ausgebildet. So ist in vielen Großstädten das Bordell mehr und mehr dem Maison de Rendezvous gewichen.

Diese Maison de Rendezvous befinden sich meist in der Nähe von großen Kaufhäusern. Auf diese Weise kann jede Frau unbemerkt dahin gelangen. Sie besucht offiziell das Kaufhaus und verläßt es bald auf der entgegengesetzten Seite. Das betreffende Haus selbst ist äußerlich absolut unauffällig, und in ebenso unauffälliger Weise ist der größere Verkehr dort ermöglicht. Der Polizeibericht sagt darüber: »Keinerlei Kennzeichen eines schandbaren Gewerbes an der Fassade des Hauses, das ebensowenig durch sein Aufsehen auffällt. Es ist ein Haus wie jedes andere, wo jeder Mann oder Frau eintreten kann; ohne sich zu kompromittieren, nach der Meinung der Behörde. Bürgerlich und elegant und meistens in einer hübschen Gegend und in einer vornehmen Straße, sieht solch ein Haus wie ein besseres Mietshaus oder wie ein Privathotel aus. Man wird niemals in schlechter Umgebung hausen, ohne dessen bald inne zu werden. Aber man kann zehn Jahre Tür an Tür mit einer Maison de Rendezvous wohnen, ohne eine Ahnung davon zu haben. Es geht dort stiller als bei einem selbst zu. Die Versendung dieser Photographiemappen gilt jetzt als ein abgedroschenes Mittel, und die Vorsteherin einer guten Maison de Rendezvous bedient sich heute nicht mehr so plumper Zweideutigkeiten. Eine solche schickt ihnen, ohne sie zu kennen, sehr viel einfachere Einladungen zu: ›Mme. Z…, an dem und dem Tage, … zu der und der Stunde, … auf eine Tasse Tee.‹ Sie gibt sogar Soiréen, zu denen alles, was es an Männern in Amt und Würden, ehemaligen Präfekten und Generalen a. D. gibt, feierlichst eingeladen wird. Sie verfährt auch einige Male etwas öffentlicher, um das Feld ihrer geschlechtlichen Tätigkeit nicht allzusehr zu begrenzen, aber sie wird sie dann bitten, ›ihre Salons mit ihrer Anwesenheit zu beehren‹ und wird sich bemühen, den Ton leidlich zu wahren, oder sie wählt einen höflich geschäftlichen Stil.«

Auch die Leiterinnen dieser Liebesbetriebe präsentieren sich durchaus vertrauenerweckend, so daß kein Mensch Grund hat, an ihnen Anstoß zu nehmen. Die moderne Kupplerin dieses Schlages ist stets eine elegante Dame, deren Umgang weder die Männer noch die Frauen, die ihre Dienste in Anspruch nehmen, kompromittiert. Talmeyr entwirft von der Leiterin eines solchen Instituts das folgende Porträt: Wir sind bei der J. J … Sie ist eine immer noch sehr hübsche Frau mit braunem Teint, etwas üppig und ganz in Spitzen gehüllt. Sie befindet sich in einem kleinen Salon, der überreich mit Portieren, Teppichen, Diwans und Libertykissen ausgestattet ist, und in dem geschmackvoll verteilte Lämpchen ein mattes Licht verbreiten, und ich bin im ersten Augenblick überrascht von der sicheren Gewandtheit, mit der sie meinen Führer und mich empfängt … Ich sehe eine Frau, der die Beobachtung der guten Formen nicht die geringste Mühe zu machen scheint. Sie zeigt sich weder unterwürfig noch vulgär; nichts an ihr wirkt abstoßend. Mit einer Handbewegung lädt sie uns ein Platz zu nehmen und läßt sich selbst in einen Fauteuil sinken. Ich hatte trotz allem, was man mir gesagt hatte, erwartet, eine durch mein Vorhaben immerhin in Verwirrung gebrachte Person anzutreffen, aber nichts von alledem. Sie zeigte sich nicht im mindesten erstaunt, und aus ihrer Mine konnte ich fast entnehmen, daß ich nicht der erste war, der ein soziologisches Interesse an dem Betriebe ihres Hauses an den Tag legte. Über die durchschnittliche Zahl der verheirateten Frauen, die diese Häuser benutzen, orientierten die beiden folgenden Auskünfte: »Verheiratete Frauen? … Aber gewiß, viele sogar! Ich habe ungefähr fünfzig, und darunter befinden sich etwa fünfzehn Damen der Gesellschaft. …«

Noch bezeichnender ist diese Antwort:

»O verheiratete Frauen! … Zu viele, zu viele …« »Wie, zu viele?« »Ja, zu viele,« und indem sie sich an Mme. A… wandte, die soeben eingetreten war, sagte sie: »Nicht wahr, Mme. A…, wir haben zu viele davon? …«

»O ja,« lächelte diese, »o die verheirateten Frauen!« »Ja, aber in welchem Verhältnis stehen sie denn zu den übrigen?« »In welchem Verhältnis? … Mehr als ein Viertel aller übrigen …«

»Ich verbringe meine Zeit damit, Frauen aus anständigen Kreisen abzuweisen, die absolut Geschäfte machen wollen. Sie haben alle gegenwärtig die Neigung, die Kokotte zu spielen, ebenso wie sie alle die Salonkomödie spielen …«

Über den starken Prozentsatz von Damen der besseren und besten Gesellschaft gab der Leiter des Pariser Recherchendienstes die folgende Auskunft:

»Sie sprachen vorhin von polizeilichen Recherchen, und ich könnte Ihnen von einer erzählen, in einem Hause, das nicht einmal ersten Ranges war, und wo der Kommissar die Gattin eines Konsuls fand. Man kann sich die Verblüffung einfach nicht vorstellen, die das Publikum erfassen würde, wenn es erführe, was die Träger mancher Namen, auf denen nicht der Schatten eines Verdachtes ruht, auf dem Kerbholz haben. Glücklicherweise werden diese Namen ja immer geheim gehalten werden, aber man kann sich keinen Begriff davon machen, was man zu hören bekommen würde, wenn eines Tages zufällig der Schleier gelüftet würde …«

Immer und immer wieder wird bestätigt, daß die verheirateten Frauen in erster Linie kommen, um Geld zu verdienen.

Sie teilte uns mit, daß diese verheirateten Frauen nur eine Vorliebe hätten, unter Ausschluß jedes anderen Sentiments, das Geld, und daß von ihrem Personal gute Manieren, eine dezente Haltung und eine gewisse Fähigkeit, Konversation zu machen, verlangt würde.

Für die sittengeschichtliche Beurteilung ist auch die Frage von großer Wichtigkeit, wer so viele Frauen diese Häuser leicht finden läßt? Und zwar vor allem jene Frauen, die täglich ihre Liebesdienste anbieten? Selbstverständlich ist es nicht der Zufall. Zahlreiche Frauen suchen nach einem derartigen Weg, und da finden sie denn eine Reihe hilfsbereiter Kräfte. Meistens ist es eine gute Freundin, von der man diese Adresse erfahren hat. Aber nicht nur die Freundin rät diesen Ausweg aus der Geldklemme und gibt die Adresse, sondern sehr häufig sind es auch männliche Freunde der eigenen Kreise, die die Adressen dieser Maison de Rendezvous kennen, weil sie selbst zur Kundschaft dieser Etablissements gehören. Weiter sind es aufopferungsfähige Liebhaber, die entweder der großen Geldopfer ihrer Liebelei über sind, oder die der geliebten Frau gerne dauernd aus der ewigen Geldverlegenheit helfen möchten, wozu sie leider selbst nicht in der Lage sind. Aber damit ist die Zahl der Hilfsbereiten immer noch nicht erschöpft, nicht nur die Freundin, nicht nur der wohlwollende Freund und nicht nur der aufopferungsfähige Liebhaber ist es, sondern mitunter sogar der eigene Gatte selbst, der seine junge hübsche Frau schickt, sofern er sie nicht gar selbst hinführt! Man höre als Beweis die folgende Auskunft: »Aber was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzähle, daß ich im Augenblick eine habe, die von ihrem Gatten geschickt worden ist? …« »Also ein verheirateter Zuhälter?« »Aber nicht doch … keine Spur, oder wenigstens nicht in diesem Sinne … Der verheiratete Zuhälter geht auf Erpressungen aus und lebt davon. Der hier denkt nicht daran. Er nimmt selbst eine ansehnliche Stellung ein.« – »Aber was treibt er denn?« – »Er ist Architekt. Und ein Architekt, der wirklich tätig ist. Er ist selbständig, hat sein Bureau, Aufträge, Kundschaft und Personal. Er ist tatsächlich Architekt. Und doch schickt er seine Frau hierher. Er ist ganz einfach ein duldsamer Gatte, dem die Duldsamkeit etwas einbringt, und der, statt sich mit Liebhabern abfinden zu müssen, die Maison de Rendezvous vorzieht. Mit einem Wort, die Maison de Rendezvous ist für den Mann das Pendant zu der Etappe, die die Frau bereits erreicht hat. Die Frau, die früher einen oder mehrere Liebhaber hatte, hat diese jetzt mit der Maison de Rendezvous vertauscht. Und ebenso der Mann. Anstatt dem Liebhaber oder den Liebhabern gegenüber nachsichtig sein zu müssen, ist er es den »Geschäften« gegenüber, und es gibt, wenn ich recht unterrichtet bin, mehr von solchen Ehemännern, als man sich träumen läßt … Was früher als ungehörig galt, ist heutzutage eben erlaubt. Das nennt man Evolution.«

Daß dies in der Tat keine vereinzelte Ausnahme ist, belegt wiederum die folgende Auskunft, die von einer anderen Firma auf die Frage nach der männlichen Kundschaft dieser Häuser gegeben wurde. Diese Auskunft läßt die Dinge sogar noch viel ungeheuerlicher erscheinen. Ich fragte sie, was für Leute ihre männlichen Besucher wären, und sie antwortete mir:

»Junge Leute von Familie und viel Ausländer. In England hat man vor kurzem die Maison de Rendezvous geschlossen, und viele Engländer aus der Aristokratie, Lords und Mitglieder des Parlaments kommen jetzt seit jenem Verbot zu mir. Sie machen selbst die Reise ausschließlich zu diesem Zwecke. Was die jungen Leute anbetrifft, so wollen sie Maitressen von mir, aber einige von ihnen gehen mich selbst um Frauen an, weil ihre Familie ruiniert ist.« »Frauen, um sie zu heiraten!« »Ja, um sie zu heiraten!« »Aber zu welchem Zwecke denn?« »Um sich Einkünfte zu verschaffen.« »Das ist wirklich wahr?« »Durchaus wahr.« »Und kommt das häufig vor?« »Nicht gerade häufig, aber doch dann und wann.«

Dies sind durchweg Dokumente aus dem modernen Paris, und zurzeit lassen sich auch aus keinem anderen Lande ähnliche erschöpfende und gravierende Dokumente beitreiben. Aber es wäre im hohen Grade fehlerhaft, wenn man daraus den Schluß ziehen würde, daß es eben in anderen modernen Staaten keine solche Kuppelinstitute gäbe. Inkognito gibt es heute in jeder Großstadt zahlreiche derartige Institute. Und überall herrschen die gleichen Methoden und Formen. Ältere würdige Damen leiten eine Pension. Die einfachste und beste Kaschierung, oder haben einen Salon, indem die Freunde des Hauses jederzeit die Gelegenheit finden, die Bekanntschaft junger hübscher Bürgerfrauen zu machen, mit denen man sich auf die angenehmste und freieste Weise von der Welt unterhalten kann. Es sind stets Frauen, die momentan in großer Geldverlegenheit sind und darum notgedrungen einen »Menschenfreund« suchen müssen, der ihnen rasch aus der Patsche hilft. Und die männlichen Besucher sind stets solche Menschenfreunde. Vielfach verbergen sich derartige Betriebe auch unter der Maske der Heiratsvermittlung. Dann sind es eben angeblich junge Witwen, deren Bekanntschaft vermittelt wird. Die Polizeiakten aller größeren Städte enthalten über derartige Betriebe mehr oder weniger reiches Material. Zum Einschreiten der Behörden kommt es aber gleichwohl nur in den seltensten Fällen. Schon deshalb nicht, weil, wenn auch die Polizei Kunde von einer solchen Gelegenheitsmacherin bekommt, es in den allermeisten Fällen überhaupt schwer wäre, der alten Dame das Delikt der Kuppelei und ihren jungen hübschen Besucherinnen, die wöchentlich ein- oder zweimal bei ihr vorsprechen, die gewerbsmäßige Unzucht nachzuweisen. Andererseits fühlt die Polizei niemals und nirgends den Drang, gewisse vermögende oder angesehene Leute der Gesellschaft öffentlich zu kompromittieren. Die Prozesse, zu denen es trotzdem hin und wieder kommt, sind meist nur dadurch verschuldet, daß ein öffentlicher Skandal entstanden ist. Aber bei allen diesen Prozessen ist stets das meiste vorher oder nebenher vertauscht worden. Manchmal gewiß gegen den Willen der Behörden, aber auch unter deren stillschweigender Bewilligung. Es liegt kein öffentliches Interesse vor, in dem zur Anzeige gebrachten Fall einzuschreiten, lautet die ungefähre Formel in den verschiedensten Sprachen, mit der einlaufende Anzeigen abgelehnt oder bereits eingeleitete Untersuchungen wieder niedergeschlagen werden.

Eine der abgefeimtesten und teuflischsten Arten des Fanges besteht darin, daß man ein Weib, das als barmherzige Schwester gekleidet ist, zum Köder benutzt. Dies wird, wie mir in dem Geschäfte wohl bewanderte Frauenzimmer versichert haben, bei den Armen mit großem Erfolge angewandt. Das irische katholische Mädchen wird bei ihrer Ankunft von irgendeiner barmherzigen Schwester angesprochen. Man sagt, daß die Oberin sie gesandt habe, um armen katholischen Mädchen gute Logis zu verschaffen, von wo sie sich nach einer Stelle umsehen kann. Das Mädchen folgt selbstverständlich ihrer Führung, und nach einer schnellen Fahrt in geschlossener Droschke langt sie in einem verrufenen Hause an. Das Mädchen hat keine Idee, wo sie ist, jedermann ist gut gegen sie. Die Kupplerin gewinnt ihr Vertrauen. Vielleicht findet sich eine Stelle in einem anderen Hause, das demselben Geschäfte gehört, denn einige Bordellbesitzerinnen haben verschiedene Häuser. Getränk steht fortwährend zur Verfügung; sie wird mit ins Theater und zum Ball genommen. In einer Nacht wird dann plötzlich, wenn sie müde und halb betrunken ist, ihr Schlafzimmer geöffnet, denn die Türen können, von innen verschlossen, durch Druck von außen geöffnet werden, und ihr Verderben ist vollendet.

Auf welche Weise es verhindert wird, daß die Lüstlinge bei ihrem Treiben irgendwie gestört werden können, erläutern die folgenden Konstatierungen Talmeyrs.

»Aus diesem Punkte meiner Untersuchungen fragte ich, wie es möglich sei, daß diese Schändungen unentdeckt stattfinden könnten. Die Hebamme, welche ich befragte, erklärte, daß keine Gefahr vorhanden sei. Einige Häuser seien mit Kellerzimmern ausgestattet, aus dem kein Laut hervordringen könne, und de facto sei noch niemand entdeckt worden. Die Wahrheit betreffs des unterirdischen Raumes ist schwer festzustellen.

In meinem Hause, sagte mir eine sehr respektable Dame, Besitzerin einer Villa im westlichen London, können Sie das Geschrei der Mädchen anhören, und Sie können sicher sein, daß kein anderer außer Ihnen das hört. Aber um das Geschrei eines unreifen Kindes ungestört zu hören, braucht man kein gepolstertes Zimmer, kein Zimmer mit doppelten Türen oder eine unterirdische Kammer zu haben. Hier, sagte mir die Aufseherin einer angesehenen Villa, indem sie ihren Besuch durch die nobel ausgestatteten Zimmer führte, hier, wo in früheren Zeiten ein Prinz von Geblüt seine zahlreichen Maitressen verwahrt haben soll, hier ist ein Zimmer, wo sie ganz sicher sind. Die Mauern sind stark, und auf dem Flur ist ein doppelter Teppich. Das einzige Fenster, welches auf den Garten geht, ist doppelt gesichert, einmal mit Fensterläden und dann mit schweren Vorhängen. Man verschließt die Tür und kann dann anfangen, was einem gefällt. Das Mädchen mag Zetermordio schreien, man hört keinen Ton. Die Diener pflegen im entgegengesetzten Teile des Schlosses zu sein. Ich allein werde dafür sorgen, daß alles ruhig ist. Welche Möglichkeit ist dann, daß der schwache, furchtsame Schrei des verlockten Kindes durch die geschlossenen, mit Vorhängen versehenen Fenster dringt oder an das Ohr des bestechlichen Wächters schlägt. Man hat Mittel den Schrei zu unterdrücken – ein Kissen, ein Betttuch, oder einfach ein Taschentuch – kurz, da ist gar keine Gefahr. Für einige Leute jedoch ist der Angstschrei die Hauptwollust, und sie würden durch kein Zeichen den Schrei hindern, dem sie zuhören.«

Was im 17. und 18. Jahrhundert nur für die Klein- und Mittelstädte galt, daß die auf der Straße ihrem Erwerb nachgehenden Dirnen sich in das unauffällige Gewand der Ehrbarkeit kleiden mußten, was ihnen in der Renaissance streng verboten war, wurde im bürgerlichen Zeitalter auch die kategorische Bedingung für sämtliche Großstädte. Weil die Moralheuchelei den offiziellen Verkehr mit der Prostituierten verfehmt, muß diese die Formen der anständigen Dame annehmen. Wenigstens muß für den oberflächlichen Blick ihre Erwerbstätigkeit kaschiert werden. Von dem, wovon sich die Dirnen im Äußeren gleichwohl von der wirklichen honetten Tugend noch unterscheiden, bleibt schließlich nur noch die etwas auffälligere Machart der jeweiligen Mode übrig, die provozierende Art, wie sie die Röcke zu schürzen verstehen, die animierenden Blicke und die bei passender Gelegenheit angewandten mehr oder minder lauten Aufforderungen oder Anerbietungen zur Begleitung. Diese Umwälzung trat, wie die meisten ähnlichen Erscheinungen, nur allmählich ein, und auch erst mit dem offiziellen Beginn der Ära der Moralheuchelei.

Während des ganzen Verlaufs der großen französischen Revolution, z. B. also in den Jugendtagen der französischen Bourgeoisie, dominierte die Dirne im Straßenbild von Paris nicht nur in derselben ungeheuerlichen Weise wie im Ancien Régime, sondern in diesen turbulenten Zeiten erlebte der Zynismus ihres öffentlichen Auftretens vielleicht sogar seine höchste Entfaltung. Kaum daß die Tage des Direktoriums angebrochen waren, wurden die Hauptverkehrszentren in Paris zu einem einzigen ewig hin und her flirtenden Hurenkorso, auf dem überhaupt nur die Dirne den Ton angab. Und zwar den frechesten und schamlosesten, den man sich denken kann. Obszöne Zurufe klangen damals gleichlaut von Männer- wie von Frauenlippen. Die Oberkleider so tief als nur möglich ausgeschnitten, und die Gewänder möglichst über die Knie emporgerafft, repräsentierten sich die Liebespriesterinnen bis in die Nacht hinein aller Welt.

In den zwanziger und dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts war dieser wilde Trubel ziemlich verebbt. Aber er setzte sehr bald wieder von neuem ein, und zwar am stärksten in den Zeiten des französischen Kaiserreiches, also in den sechziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts. Damals entstand die Physiognomie der Straßen- und damit des vagierenden Dirnentums, wie sie im Wesen auch heute noch fast allen größeren Städten eigentümlich ist.

In allen Ländern gibt es heute noch in zahlreichen größeren Städten Bordelle. Und zwar zählen diese nicht selten nach Dutzenden, ja mitunter sogar nach Hunderten. Madrid zählte um 1895 rund 500 Bordelle; in einem einzigen Jahre hatten sich 127 neue eintragen lassen. In Deutschland zählten zu den Hochburgen des Bordellbetriebes: Köln, Hamburg, Frankfurt a. M., Lübeck, Kiel, Dortmund, Essen, Bremen, Mannheim und Nürnberg. Von den deutschen Universitäten sind vor allem Greifswald, das katholische Freiburg und Leipzig zu nennen. In mehreren dieser Städte sind ganze Bordellstraßen, z. B. in Frankfurt, Bremen, und vor allem in Hamburg. Jedem Fremden werden diese Straßen von den Hotelportiers als besondere Sehenswürdigkeiten genannt. Macht der Reisende einen besonders wohlhabenden Eindruck, so wird ihm in Hamburg die Ulrikusgasse genannt, ist er Geschäftsreisender oder gehört er dem mittleren Bürgertum an, so nennt man ihm die Klefeckergasse, und wer eine wüste Hetze sehen will, der wird nach St. Pauli geschickt. Gerade in St. Pauli ist jedoch in den letzten Jahren äußerlich viel gesäubert worden.

An dem Leben und Treiben innerhalb der Bordelle hat sich im Wesen gegen früher nichts geändert, außer daß eben auch hier die Betriebe rationeller geworden sind und geschäftsmäßiger als früher; in den mittleren, das heißt den meisten Bordellen, ist heute alles auf Massenabfertigung eingerichtet. Man macht sich gemeinhin kaum eine Ahnung, welche Anforderungen dabei an die einzelnen Mädchen gestellt werden. In einem gut besuchten Bordell ist es die Regel, daß jedes der Mädchen tagaus, tagein zwischen zehn und zwanzig Männer zu empfangen und deren Sexualbedürfnisse zu stillen hat. Bei Volks- und Sängerfesten verdoppelt und verdreifacht sich sogar die Zahl. So hat z. B. Professor Lande, der Bürgermeister von Bordeaux, festgestellt, daß eine einzige Prostituierte bis zu zweiundachtzig Männer an einem Tage empfangen mußte. In Kiel bilden solche Tage die Kieler Woche, in Köln und sonstigen katholischen Städten die Katholikentage.

In welch brutalgeschäftsmäßigen Formen sich bei einer solchen Massenabfertigung der Geschlechtsverkehr im einzelnen vollzieht, daß hier keine einzige feinere Linie, auch nicht eine Spur von Werbung und Verführung in Frage kommen kann, liegt ohne weiteres auf der Hand. Dagegen kommt es um so häufiger zu den wüstesten Szenen. So gehört es in jedem Bordell zu den Alltäglichkeiten, daß gleich eine ganze Gruppe von Männern ein einzelnes Mädchen in Beschlag nimmt und insgesamt auf deren Zimmer zieht, wo diese dann der Reihe nach jedem in Gegenwart der anderen zu willen sein muß. In den besseren Bordells, wo die Preise höhere sind und immer nur mit wenigen zahlungsfähigen Besuchern gerechnet wird und darum auch höhere Ansprüche von den Männern gestellt werden, sind die Formen des Verkehrs natürlich umständlicher. Hier herrscht zumeist der Brauch, daß sich die sämtlichen Mädchen, die momentan unbeschäftigt sind, in dem sogenannten Salon jedem Gaste vorstellen, mit diesem schäkern, ihre Reize zur Geltung bringen, so daß der Besucher mit Muße seine Wahl treffen kann. In Ungarn und Frankreich sind die Mädchen bei dieser Gelegenheit nur mit Strümpfen, Pantöffelchen und einem vorne offenen Spitzenhemd bekleidet, das sie nach dem Grad der Koketterie mehr oder weniger zusammenhalten oder vor den Blicken des Gastes, um dessen Gunst zu buhlen, auseinanderfalten. Die Durchschnittsbordelle sind meist sehr primitiv eingerichtet, höchstens daß die Wände des Empfangsraumes und der Zimmer mit galanten oder erotischen Reproduktionen geziert sind. In diesen mittleren Bordellen ist auch stets ein Wirtschaftsbetrieb mit dem Bordellbetrieb verknüpft, so daß die Besucher sich darauf beschränken können, gegen teures Geld eine Flasche Wein, Bier oder Liköre in Gesellschaft der Mädchen zu trinken und mit diesen handgreiflich zu schäkern und zu zoten, ohne aber sich schließlich mit einem Mädchen auf dessen Zimmer begeben zu müssen. In den meisten deutschen Bordellen herrscht dieser Brauch.

Die vornehmen Bordells sind nicht selten auf das Luxuriöseste eingerichtet. Mit kostbarem, wenn auch geschmacklosem Prunk, Spiegelwänden, bequemen Polstermöbeln, Bibelos, eleganten Toiletten, teurem Eßgeschirr, und an den Wänden mit großen erotischen Gemälden, die hin und wieder sogar von der Hand tüchtiger Künstler stammen. In Paris und London gibt es derartige Häuser, wo von geschickten Künstlern in Form von lebensgroßen Gemälden alle möglichen Stellungen des Geschlechtsverkehrs als Wandgemälde angebracht sind. Die Bekleidung der Mädchen ist in diesen Häusern natürlich ebenfalls sehr elegant. In diesen feineren Bordells ist auch allen Sonderwünschen Rechnung getragen. Die natürliche Form der Geschlechtsausübung wird selten gefordert: »Dazu geht man nicht ins Bordell,« erklären die alten Bordellgäste. In London kann man um den Preis von einem Pfund aufwärts jede gewünschte Verkehrsform sofort befriedigt bekommen.

Eine unzertrennbare Folge von alledem ist, daß speziell das Los der Bordelldirnen das traurigste und elendste ist, das sich nur denken läßt. Sie sind unendlich schlechter daran als die Straßendirnen. Die Bordelldirne ist in neunzig von hundert Fällen der absolute Sklave des Bordellhalters. Vom Mädchenhändler an diesen verschachert oder auf sonstige Weise ins Bordell verschlagen, steckt sie vom ersten Tag an beim Bordellwirt tief in Schulden. Dieser übernimmt gewöhnlich ihre früheren Schulden und liefert ihr außerdem die nötige Toilette, die sie für die wirkungsvolle Ausübung ihres Gewerbes bedarf. Da all diese Dinge, ebenso wie Wohnung und Beköstigung, der Dirne mit geradezu ungeheuerlichen Summen angekreidet werden, so bleiben die Mädchen trotz des mitunter hohen Verdienstes ständig in den Klauen dieser Vampyre.

Die Zahl der Bordelle ist allerdings in der letzten Zeit im Abnehmen begriffen. 1841 hatte Paris bei 1,2 Millionen Einwohnern 235 Bordelle mit 1450 reglementierten Prostituierten, 1900 bei 3,6 Mill. Einwohnern 48 Bordelle mit 504 Prostituierten. Die Zahl der Bordelle in Petersburg ist von 1870-1888 von 206 auf 65 zurückgegangen, in Hamburg von 1850-1867 von 124 auf 96.

Für das notwendige Korrelat der Bordelle hält man den Mädchenhandel, der dem Bordell erst die volle Besetzung sichert. Über den Mädchenhandel ist ja in letzter Zeit eine ganze Literatur erschienen, die eine Art großer Aktien-Gesellschaft entdeckt hat mit Büros in allen Weltstädten zwecks Mädchenaustauschs auf internationaler Basis. Diese Sorte Literatur gehört natürlich in das Gebiet der Romane. Es gibt keinen organisierten Mädchenhandel, und das Ganze ist nichts als ein Gelegenheitsgeschäft. Das geradezu sprichwörtliche Verschleppen in argentinische Bordelle ließe sich als großzügiges Unternehmen deswegen überhaupt nicht durchführen, weil es sich nicht rentieren würde. Man kann auf viel ungefährlichere Weise in Deutschland mit einer deutschen Jungfer bessere Geschäfte machen. Der Erfolg ist Amüsement und Deckung der Unkosten, nicht mehr und nicht weniger.

Etwas großzügiger wird die Sache wohl an der galizischen Grenze betrieben, aber auch dort kann von Gewaltsamkeit und Verführung nicht die Rede sein. Die Mädchen, galizische Jüdinnen und Zigeunerinnen, gehen ohne bedeutenden Widerstand ins Bordell und empfinden das Leben dort auch gar nicht in der Weise als Schmach, wie es mit Vorliebe dargestellt wird. Übrigens ist auch da, soviel ich glaube, immer nur von einem Gelegenheitskauf die Rede, irgendwelche Organisation muß den Unternehmungen abgesprochen werden.

Die jüngste Vergangenheit hat ferner eine genaue Durchforschung der Prostitution gebracht, wie sie sich in der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und der Diskussion über das Problem der Prostitutionshaltung darstellt. Am umstrittensten ist die Frage, ob die Prostitution reglementiert, d. h. in Listen eingeschrieben und zwangsweise untersucht werden soll oder ob man ihrer Entwicklung völlige Freiheit lassen soll. Die Entscheidung über dieses Problem richtet sich nach dem Für und Wider in der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Über die Verbreitung der venerischen Leiden kann man zurzeit insofern besser urteilen, als man darüber eine Statistik besitzt, die immerhin nicht ganz abzulehnen ist.

Die Verteilung der Geschlechtskrankheiten nach den einzelnen Berufsschichten gestaltete sich in Berlin vor dem Kriege folgendermaßen:

Soldaten 4-5 % (Zahlen der Berliner Garnison),
Arbeiter 8 % (Filiale der Zentral-Krankenkasse der Tischler),
Kellnerinnen:
    a) 13,5 % (aus den Büchern der Ortskrankenkasse der Gastwirte),
    b) 30 % (Angabe der Berliner Polizei über aufgegriffene, der Prostitution verdächtige Kellnerinnen),
Kaufleute 16,5 % (Berliner Zahlstelle des Verbandes deutscher Handlungsgehilfen),
Studenten 25 % (Studentische Krankenkasse).

Für Preußen stellen sich die Krankheitsziffern folgendermaßen:

In ganz Preußen ist pro Mille der männlichen Bevölkerung am 30. April 1900 als venerisch erkrankt befunden: In Städten unter 30 000 Einwohnern 45 pro Mille, in Städten über 30 000 Einwohnern 58 pro Mille, in Städten über 100 000 Einwohnern 100 pro Mille, in Berlin 142 pro Mille.

Für die einzelnen Städte stellt sich die Prozentzahl der Mitglieder von Krankenkassen, die wegen Geschlechtskrankheiten einen Arzt konsultiert haben, folgendermaßen dar:

Königsberg 13,5 % Gumbinnen 14,7 %
Tilsit 12,8 % Posen 19,7 %
Deutsch-Eylau 28,5 % Breslau 27,8 %
Allenstein 23,8 % Ratibor 12,4 %
Berlin 16,4 % Hannover 10,5 %
Kottbus 14,9 % Dortmund 7,4 %
Stettin 12,4 % Elberfeld 2 %
Hamburg 11,7 % Frankfurt a. M. 7 %
Bremen 8,4 % Wiesbaden 6,9 %
Halberstadt 15,9 % Karlsruhe 9,6 %
Magdeburg 13,3 % Mannheim 8,7 %
Nürnberg 3,9 % (?) Freiburg 7 %
Halle 11,9 % Straßburg 5,4 %
Leipzig 10,8 % Stuttgart 9,4 %
Kassel 14,6 % München 7,8 % (?)

Einige Angaben über die Zahl der eingeschriebenen Prostituierten und der abgefaßten geheimen möchte ich hier noch machen. Es ist dabei im großen und ganzen nach der tabellarischen Übersicht von dem Jahre 1903 bis 1907 die Erfahrung zu machen, daß die Zahl der Kontrolldirnen fällt, während die Zahl der eingelieferten, nicht einer reglementierenden Kontrolle unterstellten Dirnen im Wachsen begriffen ist. Danach fällt die Zahl der Kontrolldirnen in den Jahren 1903-1907 in Berlin von 3709 auf 3692, nachdem sie 1905 einen Tiefstand von 3135 hatte. Die Zahl der eingelieferten Dirnen wuchs von 1898 auf 2658. In Hamburg fällt die Zahl der Kontrolldirnen sukzessiv von 1266 auf 920, die der eingelieferten steigt von 1298 auf 1388, nachdem sie 1905 den Höchststand auf 1818 erreicht hatte. In München fällt die Zahl der Kontrolldirnen von 248 auf 175. In Dresden schwankt sie zwischen 250 und 400, dafür ist dort die Zahl der eingelieferten, nicht reglementierten jährlich gesunken im ganzen von 1168 auf 603. Köln hat ungefähr gleich viel reglementierte und nicht reglementierte eingelieferte, und die Jahreszahlen schwanken um 1100. In Frankfurt a. O. schwankt die Zahl der Kontrolldirnen um 500, die der eingelieferten ist von 1091 auf 680 heruntergegangen. In Hannover bleibt die Zahl der Kontrolldirnen um 220 herum annähernd konstant, die Zahl der eingelieferten zeigt eine Tendenz zum Wachsen. Halle hat ca. 100 Kontrolldirnen, und 100 oder darüber wurden eingeliefert. In Elberfeld stehen ungefähr 200 Mädchen unter Kontrolle; die Zahl der eingelieferten sank von 239 auf 140. Karlsruhe hat auch ungefähr 200 Kontrolldirnen; die Zahl der eingelieferten ist hier jedoch im Steigen begriffen; sie wuchs von 100 auf 300. In einigen Städten dominiert die geheime Prostitution sehr bedeutend über die kontrollierte, was sich in der Statistik bei einzelnen dadurch ausdrückt, daß die Zahl der eingelieferten Dirnen ganz unverhältnismäßig die Zahl der kontrollierten übersteigt. In Charlottenburg sind diese Zahlen 122 und 524, in Chemnitz 70 und 300. In Mannheim schwanken die Zahlen der Kontrollierten zwischen 70 und 200, die der Eingelieferten zwischen 600 und 800. Ganz besonders liegen die Verhältnisse jedoch in Mainz. Hier steigt die Zahl der Kontrolldirnen von 34 auf 70 und eingeliefert werden jährlich 400. Ein großer Unterschied besteht jedoch zwischen der Mainzer Statistik und der aller anderen Städte. Von den eingelieferten Mädchen ist nur 1 % oder darunter geschlechtskrank befunden worden, während diese Zahlen in allen Städten zwischen 30 und 90 % schwanken. Hier liefert die Statistik in ihrer Art einen Beweis für die außerordentlich gründliche Tätigkeit der durch Sensationsprozesse bekannten Polizeiagentin Frau Dr. Schapiro, deren gekränktes Herz in der Öffentlichkeit noch nicht alle Sympathien verloren haben dürfte. Die Verseuchung der Kontrolldirnen ist dagegen in Mainz ungeheuer. 1907 beträgt die Zahl der Dirnen 34; geschlechtlich erkrankt sind in dem gleichen Jahre 79, so daß auf jede Dirne jährlich über zwei Krankheitsfälle kommen; in anderen Jahren stellt sich das Verhältnis etwas besser, aber stets kommt auf eine Dirne über ein Krankheitsfall. Eigenartig liegen die Verhältnisse auch in Stuttgart, wo die Zahl der Kontrolldirnen zwischen 16 und 32 schwankt, die auch jährlich mindestens einen Krankheitsfall sich zuziehen, die Zahl der geheimen Dirnen dagegen zwischen 500 und 700, von denen 30 bis 40 % geschlechtskrank sind. Dadurch hat die Stadt für die zwangsweise Behandlung der Geschlechtskrankheiten beinahe ebenso viel auszugeben wie Hamburg.

Der Kampf gegen die geschlechtliche Durchseuchung wurde für die Gegenwart die Hauptaufgabe für die Sittenpolizei; gemäß dem Gesetz vom Interesse der Auftraggeber sollen vor allem die männlichen Nutznießer der Prostitution vor den gesundheitlichen Gefahren des Verkehrs mit der Prostitution geschützt werden. Dem entspricht das Einregistrieren der Dirnen, das Unterkontrollestellen, die regelmäßige polizeiärztliche Untersuchung, ihre Kasernierung in Bordelle oder in bestimmte Viertel, das Verbot des Promenierens auf bestimmten Straßen, die Razzien auf die vagabundierenden Dirnen usw. Die soziale Stellung der Dirnen ist durch alles dies natürlich aufs tiefste herabgedrückt worden, und trotz aller Verordnungen, die angeblich auch in ihrem Interesse erlassen werden, stand die behördlich abgestempelte Dirne sozial niemals so tief wie im modernen sozialen Zeitalter. Eduard Fuchs meint: »Mit der vollständigen Vernichtung der Menschenwürde beginnt stets die polizeiliche Abstempelung zur Dirne, und zwar durch den Zwang einer ärztlichen Untersuchung. Damit wird die Dirne zur willenlosen Sache. Und in Form einer förmlichen Vergewaltigung vollzieht sich obendrein dieser erste Akt in zahlreichen Ländern. Die Frau, die in den Verdacht der ›gewerbsmäßigen Unzucht‹ kommt und auf der Polizei vorgeführt wird, wird gewöhnlich einer infamen körperlichen Untersuchung durch den Polizeiarzt unterworfen. Sehr häufig ohne ihren Willen und ohne daß erst ein richterliches Urteil dazu Voraussetzung ist. Das Zeugnis oder die Anzeige eines Schutzmannes genügt, um dahin zu führen und damit die Seele so vieler Frauen für immer mit einem unauslöschlichen Schatten zu verdüstern. Die polizeiärztliche Untersuchung ist es übrigens auch, was sehr vielen Dirnen ständig Schauder einflößt, daß sie gerade dafür niemals »abgebrüht« werden, und zwar gilt dies selbst von solchen Dirnen, die sonst jeder erotischen Laune gefällig sind; daß sie hier eben aufhören Mensch zu sein und zur völligen willenlosen Sache werden, das ist es, was ihnen nirgends so sehr zum Bewußtsein kommt. Das Tragische an der ganzen Institution ist jedoch, daß der gewollte Zweck, die gesundheitliche Sicherstellung der Nutznießer der Prostitution, obendrein auf diese Weise gar nicht erreicht wird. Heute weiß man, daß die Infektionsgefahr bei den derart kontrollierten Dirnen genau so groß ist, wie bei den nicht kontrollierten. Denn es gibt keinen wirksamen Schutz gegen Infektionen, sofern nicht auch jeder Mann einer ärztlichen Untersuchung unterworfen wird, bevor ihm von einer Dirne der Geschlechtsverkehr gestattet wird.«

Dieser letzte Punkt ist eben der viel umstrittene in dem Problem der Reglementierung, die ebenso begeisterte Freunde wie Feinde hat. Die Anhänger der Reglementierung berufen sich vor allem darauf, daß die genaue ärztliche Untersuchung kranke Elemente ausscheiden muß.

Die Vorschriften für die Reglementierung schreiben eine genaue Inspektion mit dem Spekulum und eine genaue Untersuchung der Mundhöhle vor. Die Untersuchung des ganzen Körpers wird nicht in allen Städten von der sittenpolizeilichen Kontrolle durchgeführt, obwohl sie im Frühstadium der Syphilis zu Entdeckungen führen würde. Die medizinische Erfahrung, daß die Diagnose der Gonorrhöe nur mit Zuhilfenahme der mikroskopischen Sekretuntersuchung möglich ist, wird bis jetzt noch nicht überall in die Praxis übersetzt. Doch ist in einigen Städten seit Jahren mikroskopische Untersuchung vorgeschrieben.

Hier setzt nun die leidenschaftliche Kontroverse ein. Ein Kieler Professor sucht vom ärztlichen Standpunkt aus zu begründen, daß die Reglementierung nutzlos sei, denn die regelmäßige Untersuchung der Prostituierten habe keinen Wert, weil trotz mikroskopischer Präparate doch oft Krankheiten vorhanden sein können, die der Arzt nicht entdeckt. Diese geistreiche Argumentation bleibt allerdings dem Kieler Professor vorbehalten.

Man darf sich doch darüber nicht täuschen, daß der Kern der Reglementierungsfrage nicht rein medizinischer Art ist, und daß man die Prostituierte und die männliche Kundschaft doch nicht ohne weiteres gleichsetzen darf, wie es Eduard Fuchs getan – nach dem Beispiel des Bundes für Mutterschutz.

Die Reglementierung der Prostitution läßt sich als ein Zwang infolge der Gewerbsmäßigkeit auffassen. Den Mann kann man dann logischerweise nicht reglementieren, weil er nicht gewerbsmäßig mit Dirnen verkehrt. Man versucht auch in der ganzen Reglementierungsfrage mit allgemeinen Humanitätsgründen zu fechten und über den Kern der Dinge hinwegzugehen. Ehe und Prostitution sind, wie eine abgebrauchte Redensart sagt, die einzigen Formen staatlich anerkannter Geschlechtsbetätigung. Bei Iwan Bloch habe ich diesen Satz in einigen geringen Variationen glaube ich 30 mal gefunden, aber niemals werden daraus die Konsequenzen gezogen; ja weil sie eben staatlich anerkannte Geschlechtsbetätigungen sind, werden sie reglementiert, denn auch die Ehe wird ja »reglementiert« durch das Standesamt, wo ebenfalls eine Eintragung sogar wesentlich komplizierterer Art stattfindet. Die Untersuchung fehlt natürlich, weil in der Ehe die Ansteckung »ausgeschlossen« ist.

Es ist dagegen für die Unlogik gewisser Kreise sehr bezeichnend, daß dieselben Forscher, die für die Abschaffung der ärztlichen Kontrolle bei der Prostitution eintreten, eine genaue Untersuchung vor der Ehe fordern, obwohl dagegen nicht nur Humanitätsgründe sprechen.

Es besteht bekanntlich in unserer Zeit auf seiten der Männer aus Gründen, die ich an anderem Orte erklären werde und die nicht ohne weiteres ignoriert werden können, eine sehr starke Neigung für die sogenannte psychische Virginität. Es bedeutet dies für sie ein erotisches Plus, das zweifellos durch die voreheliche Untersuchung gefährdet würde. Die Psychologie der Herren Sexualreformer ist wahrscheinlich schon zu der Kenntnis vorgedrungen, daß die ärztliche Untersuchung für die Prostituierte wesentlich unangenehmer ist, als für die Jungfer, die nichts zu verbergen hat. Die humane Rücksicht auf die Dirne durfte also in dem Reglementierungsstreit nur ziemlich geringes Gewicht haben, und der Streit der Parteien spitzt sich damit auf das Problem zu, ob die Reglementierung die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten befördere oder zu ihrer Verhinderung beitrage – oder keines von beiden.

Es operiert da die eine Partei mit einer Gleichung von zwei Unbekannten und die andere mit einer Gleichung mit Vier Unbekannten. Man argumentiert nämlich bei den Freunden der Reglementierung so: X Prostituierte sind geschlechtskrank, Y Prostituierte werden bei der Untersuchung ausgesondert, so verhält sich die Ansteckungsmöglichkeit ohne Reglementierung zu der bei Reglementierung wie X: X – Y. »Nein,« sagen die Gegner der Reglementierung, »man hat noch eine dritte Unbekannte zu bewerten Z. Z sind nämlich die jungen Leute, die nur mit Prostituierten verkehren, weil Prostituierte reglementiert sind, und weil sie infolgedessen den Verkehr für gefahrlos halten, und die sich bei dem Verkehr anstecken. Zu Z gehören dann auch wohl die jungen Leute, die aus denselben Gründen ohne Schutzmaßregeln mit Dirnen kohabitieren. Bezeichnen wir nun die Zahl der jungen Leute, die mit Prostituierten auch dann verkehren würden, wenn diese nicht reglementiert wären mit U, so besteht nach Ansicht der Reglementierungsgegner das Größenverhältnis (X – Y) × (U   Z) größer als X × U. Ich bitte den Leser, sich in diese arithmetische Deduktion recht scharf hineinzudenken, damit er ihre exakte Schlußkraft besser versteht als ich. Ich vermag nach diesen Tatsachen durchaus nicht zu entscheiden, was vom Standpunkte der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten aus praktischer ist: Reglementierung oder Nichtreglementierung. Bemerken möchte ich zu den Größen Y und Z nur folgendes. Beide Größen sind herzlich klein. Eine Dirne wird meist nicht mehr zur Untersuchung kommen, wenn sie gemerkt hat, daß sie krank ist, da es für sie kein besonderes Vergnügen darstellt, sich als Ausgestoßene der Gesellschaft im Krankenhaus wie ein Schmarotzer kujonieren zu lassen. Z ist auch sehr klein, denn Jugend hat keine Tugend, und Jugend hat in der Regel auch keine Angst vor Gefahren, die sie noch nicht kennen gelernt hat, und der Leichtsinn, den unsere jungen Leute auf diesem Gebiete zeigen, bis sie reingefallen sind, ist bekanntlich ebenso groß, wie ihre Wut nachher; sie werden sich darum wohl sehr wenig überlegen, ob reglementiert oder nicht; ebenso wie sie nach dem Reinfall vorsichtig sein werden, ob reglementiert oder nicht.

Allerdings glaube ich auch, daß man die Geschlechtskrankheiten praktischer bekämpfen kann als durch Reglementierung. Ich möchte aber vorher ausdrücklich bemerken, was ich schon angedeutet habe, daß Reglementierung nicht identisch ist mit der zur Bekämpfung vorgenommenen Untersuchung, sondern eine der standesamtlichen Eintragung analoge Maßnahme und Wahrung eines »Staatshoheitsrechtes« ist. In wirksamerer Weise ließen sich, wie ich glaube, die Geschlechtskrankheiten durch eine Gratisbehandlung bekämpfen, und zwar durch eine anständige Behandlung. Wenn man diese Zeit für die Prostituierten zu einer angenehmen Erholungszeit gestaltet, in der sie sich für die weitere Ausübung ihres Berufes in jeder Hinsicht regenerieren können, in dem man so eine Art Sanatoriumsbehandlung anwendet, würde man jede der Damen, die in ihrem Genitalschlauch Gonokokken vermutet, zu einer recht gründlichen Gratiskur bewegen. Die Sache wäre vielleicht etwas teuer, aber die schon so oft in drastischen Bildern geschilderte Entnervung durch die Geschlechtskrankheiten kann man sich ja ruhig etwas kosten lassen.

Nicht minder geistreich als ich hat sich übrigens zur Reglementierung Cervantes ausgesprochen. Er ist für eine obrigkeitliche Regelung der Prostitution und glaubt, daß die Aufseher und Leiter der öffentlichen Unzucht weit entfernt, Strafe zu verdienen, eine besonders ehrenhafte Stellung haben müßten, und daß tüchtige Leute heranzuziehen seien, wodurch viel Übel verhindert werde.

Man fürchtete eben damals noch das Überhandnehmen der geheimen Prostitution, die in der Gegenwart im Begriff steht, auf der ganzen Linie die offizielle Prostitution zu verdrängen, in der Halbwelt, im Maison des Rendezvous, auf der Straße und im Bordell. Diese geheimen Bordelle suchen sich oft unter der Form von Schneiderateliers zu verbergen. Durch die vorgeschobene Näharbeit wissen sie sich der Kontrolle der Polizei zu entziehen. In Turin sollen mehrere derartige Schneiderateliers mit 20 bis 30 Arbeiterinnen bestanden haben, wo tatsächlich nebenbei genäht wurde und man auf diese Weise den Hauptzweck zu verdecken verstand. Die Enthüllungen der Pall Mall Gazette haben auch in England eine große Zahl solcher Geheimbordelle aufgedeckt. Alle Arten von Stellenvermittlern sind überdies in gleicher Weise als Kuppler tätig. Die vielen Sekretärinnen, Gesellschafterinnen und Reisebegleiterinnen dienen ja gleichzeitig meist diesen Zwecken, besonders wenn ein erhöhtes Gehalt vorliegt.

Ich drucke hier die Antwort einer Stellenvermittlerin auf die Bewerbung eines jungen Mädchens ab: »Teilen Sie mir Näheres über Ihren Busen und Ihre sonstigen Formen mit. Wenn Sie einen schönen und vor allem festen Busen haben, kann ich Ihnen sofort mehrere höchst angenehme Stellen zu durchweg distinguierten Herren vermitteln. Auch möchte ich wissen, ob Sie einen Scherz verstehen und entsprechend zu erwidern imstande sind.«

Angebote zur Prostitution sind: ein großer Teil der Bilder in mondänen Zeitschriften, denn die Bilder eleganter Damen sind dort meist nichts anderes als illustrierte Inserate im redaktionellen Teil. Im Inseratenteil kann man sich nicht offen zum Kauf ausbieten, also fand man diesen Umweg, der überdies vielversprechender ist. Denn der Interessent ahnt ja nicht, wenn er auf diesen raffinierten Trick hereinfällt, daß auf ihn und seinesgleichen direkt spekuliert wurde. Er glaubt der Werbende zu sein und ist darum mit der Bezahlung nobler. Besonders die kleineren Zeitschriftverleger sehen in diesen Illustrationen nichts anderes als Inserate. Sie lassen sich allerdings nur die Klischekosten bezahlen, aber wer die Praktiken der Herstellungsverleger kennt, weiß, was man unter diesen Vergütungen versteht, wo der Verleger von der Rechnungsablegung über die Selbstkosten ausdrücklich entbunden ist. In der letzten Zeit, wo der Rummel ziemlich allgemein durchschaut worden ist, nehmen die Verleger auch direkte Aufträge mit entsprechenden Bezahlungen auf und zitierten die Abgebildeten mit lobenden Beiworten. Die »charmante Schauspielerin«, »eine der elegantesten Erscheinungen der exklusiven Berliner Gesellschaft«, »die fesche Sportlady« usw. Das Angenehme und zugleich das Reizvolle an dieser Art von Inseraten besteht eben darin, daß hier der Zweck tatsächlich auch für die Eingeweihten nicht ohne weiteres zu erkennen ist. Niemand kann äußerlich wissen, was bezahlt und was unbezahlt ist. Und »so wird das öffentliche Bekanntwerden eines solchen Inseratenauftrages höchstens auf das Konto verzeihlicher Eitelkeit verbucht.«

Amtliche Dokumente bestätigen, daß sich die Prostitution durch eine zahlreiche Gelegenheitsprostitution aus den Kreisen der arbeitenden Klassen ergänzt. In den Gutachten der preußischen Gewerberäte über die Ergebnisse der von den Bundesregierungen angestellten Ermittlungen über die Lohnverhältnisse der Arbeiterinnen in den Wäschefabriken und der Konfektionsbranche sind im Jahre 1887 folgende Fakta niedergelegt. Der Gewerberat über Berlin berichtet: »Häufiger kommt es vor, daß Arbeiterinnen in der Wäschefabrikation, welche ungeschickt, leichtsinnig und putzsüchtig sind und keine Angehörigen haben, sich freiwillig der Prostitution zuwenden, oder gezwungen dann, wenn in geschäftslosen Perioden die Gelegenheit zur Arbeit und zum Verdienst fehlt. Die Verhältnisse der Arbeiterinnen in der Konfektionsbranche sind im ganzen noch schlechter zu nennen als die der Wäscherinnen. Der Verdienst vermindert sich durch Zwischenunternehmer so sehr, daß eine sehr geschickte Arbeiterin mehr als acht bis neun Mark wöchentlich nicht verdienen kann, und daß es eine ungeübte nur auf vier bis fünf Mark bringt. Es kommt dazu, daß die Periode der Mäntelanfertigung nur vier bis fünf Monate im Jahre dauert. Von manchen Seiten wird behauptet, daß die Arbeiterinnen für Konfektionsgeschäfte häufiger unter die Zahl der Prostituierten gerieten als andere. Es mag dies richtig sein, der hier herrschende große Mangel mag manche zwingen, sich einen Verdienst zu suchen, den sie anfangs verabscheuten.«

Der Gewerberat für Düsseldorf-Neuß erklärt, daß die Berliner Hausindustrie der Konfektionsbranche seines Bezirks arge Konkurrenz machte, weil dieselbe unter anderem ihre Arbeiterinnen vielfach aus den Reihen der Prostituierten ergänzt.

Im Bericht des Regierungspräsidenten von Erfurt heißt es über die Lage der daselbst in der Wäschefabrikation und Konfektionsbranche tätigen Arbeiterinnen:

Wenn hiernach sieben Zehntel bei vollständiger Tagesarbeit nicht ausschließlich vom Verdienst ihrer Hände zu leben brauchen (wegen Anhalt in der Familie), sondern denselben nur als einen mehr oder weniger wesentlichen Beitrag zur Bestreitung der Tagesausgaben anzusehen gewohnt sind, liegt die Gefahr für die überschießenden, von keinen Verwandten unterstützten drei Zehntel überaus nahe, sich Nebenerwerb durch unsittlichen Lebenswandel zu verschaffen.

In welchem Umfange dies geschieht, wird sich kaum ermitteln lassen. Soweit die Näherinnen einen unsittlichen Lebenswandel führen, dürften sie hierzu vornehmlich durch ihren geringen Verdienst veranlaßt werden. Anderweitige Umstände, welche dazu führen könnten, sind im allgemeinen nicht vorhanden.

Der Gewerberat für Düsseldorf, Neuß, Barmen, Elberfeld, M.-Gladbach sagt: »Dagegen scheint es unmöglich, daß alleinstehende jüngere Arbeiterinnen der in Vorstehendem angeführten Betriebsformen mit ihrem Erwerb auskommen. Sie sind vielmehr durch die Geringfügigkeit der Wochenlöhne genötigt, einen Nebenerwerb zu suchen, immer freilich, wenn sie nicht Dienstmädchen oder Privatnäherinnen werden, unter Verlust ihrer Ehre und ihres guten Namens.«

Für Frankfurt a. M. und Wiesbaden berichtet der Gewerberat: »In Frankfurt waren zu Ende des vorigen Monats unter 226 daselbst unter sittenpolizeilicher Kontrolle (!) stehenden Personen 98 Arbeiterinnen, die teils in Wäsche-, teils in Konfektionsgeschäften tätig waren. Da für einen notdürftigen Unterhalt täglich mindestens 1,25 Mark gerechnet werden muß, so reicht der bei Anfertigung gewöhnlicher Artikel zu erzielende Verdienst von 1,50 Mark bis 1,80 Mark in der Tat kaum aus, um alle Bedürfnisse zu bestreiten; es wird daher der geringe Lohn nicht ganz ohne Einfluß in der vorliegenden Frage sein.«

Während auf der einen Seite die Prostitution immer breitere Kreise mit Beschlag belegt, suchen sich jetzt scheinbar auch die Prostituierten organisatorisch zusammenzuschließen. Im Januar 1914 wurde der Versuch gemacht, einen Verband der Prostituierten ins Leben zu rufen, und es wurden unter den Dirnen gedruckte Handzettel verteilt, die folgenden Wortlaut hatten:

 

Achtung! Achtung!

Wichtig für Prostituierte!

Der Verband der Prostituierten befindet sich Berlin O. 34, E…straße, Schankwirt … Der Verband zahlt allen Prostituierten, die Mitglieder sind, von Anfang an eine Unterstützung in jeder Notlage bis zu 20 Mark pro Woche. Eintrittsgeld 1,50 Mark, Beitrag 1 Mark pro Woche. Das Büro ist ständig geöffnet. Eintritt und Besuch erwünscht.

Der Geschäftsführer Rudolf Kindt.

 

Dieser Organisationsversuch, der kurz vor dem Weltkriege unternommen wurde, hat der offiziellen Prostitution wenig genützt.

In allen kriegführenden Ländern hat das Treiben der Prostitution mit dem Kriegsausbruch eine starke Veränderung erlitten, und in den fünf Kriegsjahren ist das Niveau der öffentlichen reglementierten Prostitution tief gesunken. Der Grund für diesen Abstieg der Prostitution liegt in der allgemeinen Lockerung der Sitten in den bürgerlichen Kreisen. Die Kriegerfrau, die nur wenige Wochen dem allgemeinen Vergnügungsfieber widerstehen kann, ist eine allbekannte Erscheinung. Die geradezu krankhafte Steigerung der Vergnügungssucht, die zu einer psychopathischen Furcht vor dem Alleinsein ausartet, ist merkwürdigerweise sogar in den neutralen Ländern beobachtet worden – obwohl dort natürlich, wie alle Rückwirkungen des Krieges, mit geringerer Stärke.

Der Krieg war eine Zeit, wo die Schleier der Heuchelei auf sexuellem Gebiete fielen. Der Charakterpöbel aller Schattierungen ließ seine sonst streng gewahrten Vorurteile fallen. Die Zahl der Frauen, die man »verführen« konnte, wuchs gewaltig, und die berufsmäßige Prostitution hatte naturgemäß das Nachsehen. Die Unsicherheit der allgemeinen Zustände befördert das Leben für den Augenblick – große Kapitalien werden verdient und zerrinnen – und die eine Seite im Charakter der Frau, welche sich vom Augenblick faszinieren läßt, gewinnt die Macht über den ganzen Menschen.

Die Verhältnisse werden wie in allem, auch in dieser Psychose auf den Kopf gestellt, und die Frau begann den Mann zu verführen – ja zu vergewaltigen. So hat trotz des ungeheuer vermehrten Bedarfs an außerehelichem Geschlechtsverkehr während des Krieges die legalisierte Prostitution nicht gewonnen. Dagegen blühte die Gelegenheitsprostitution in jeder Form auf.

Eine bekannte Type außer der Kriegerfrau ist die barmherzige Schwester, die das Lazarett dem Soldaten zum häuslichen Herde macht – und sehr wenig Rücksicht auf die Gesundheit des Gepflegten nimmt.

Die Teuerung des Lebensunterhalts und die schlechte Ernährung in den Ländern Europas läßt die Frauen vieles für ein Souper opfern.

Wir können jene Entwicklung der Sexualität und der Sitten, wie sie der Krieg gebracht hat, heute noch nicht in ihrer historischen Bedeutung einschätzen. Die Frage: Wie wird die Entwicklung weitergehen? – ist ein Problem für sich, das mit den allgemeinen Schicksalen des Menschengeschlechts aufs engste verknüpft ist und im Schluß des Werkes besonders behandelt werden wird. Der Gesamtkomplex der »Sitten des Weltkriegs« ist Gegenstand eines besonderen Werkes, das sich ebenfalls bereits in Vorbereitung befindet.

Der Abstieg der professionellen Prostitution wurde durch die wirtschaftliche Entwicklung begünstigt. Während die Preise der Prostitution, an den Lebenskosten gemessen, fielen, wuchs die Möglichkeit anderweitigen Verdienstes. Die Kriegsindustrie der kriegführenden und neutralen Länder hatte einen unersättlichen Hunger nach Arbeitskräften. Sie stellte jede Frau ein und fragte nicht viel woher. Und man zahlte hohe Löhne. Durch diese Entwicklung fanden viele Prostituierten den Weg zur Arbeit zurück – ganz ohne die Sexualreformer, einfach unter dem Druck der wirtschaftlichen Verhältnisse.

Und ferner: Die schillernde Märchenpracht des großstädtischen Nachtlebens wurde in allen europäischen Ländern während des Krieges verschüttet. Meistens war es der Kohlenmangel, der teils in Wahrheit, teils als Vorwand zu einem früheren Schluß der Restaurants und Vergnügungslokale zwang – gerade jener öffentlichen Vergnügungslokale, welche der Sammelpunkt der öffentlichen Dirnen sind.

Am extremsten war die Entwicklung natürlich in den Ländern, die den Krieg verloren haben. Und heute kann man sich Berlin und Wien schon fast ohne legalisierte Prostitution denken. Vor allem aber hat die Erfahrung jetzt meine Theorie bestätigt, die ich schon längst vor dem Kriege aufstellte und die Iwan Blochs tendenziöser Arbeit den Stich ins Herz gibt.

Nämlich: Die Abschaffung der Prostitution hat nichts zu tun mit der Förderung individueller Liebesformen. Sie wird beeinflußt von dem großen historischen Geschehen, nicht von einzelnen Reformatoren. Die Beseitigung der offiziellen Prostitution bedeutet nur eine Verwässerung, eine Ausbreitung der Prostituierung des Weibes als einer Gelegenheitsfrage im Einzelfalle, und sie ist in jedem Falle schädlich für die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.

Wenn die Sexualreformer und Syphilisbekämpfer von ihrem theoretischen Standpunkt die Zustände des Krieges betrachten, müßte eigentlich ihr Herz höher schlagen: eine Vermehrung der freien Liebe und eine Verminderung der legalisierten Prostitution. Und was ist das tatsächliche Ergebnis? Fehlen aller individuellen Beziehungen und Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten.

Ich werde später das Nachtleben der einzelnen Städte noch so schildern, wie es vor dem Kriege war und nur kurz anknüpfen, wie die Entwicklung während des Krieges gegangen ist. Der Neubau Europas hat noch nicht begonnen, und man kann nicht wissen, wieviel von dem alten Europa wieder auferstehen wird.

Vor dem Kriege haben die abolitinistischen Ideen sehr viel Staub aufgewirbelt, aus den Erfahrungen des Krieges erkennt man ihre Irrtümer, die hier schon vor 1914 klargelegt wurden.

Ich möchte mich also darauf beschränken, ganz kurz in Erinnerung zu bringen, auf welchem Wege die abolitionistische Bewegung einsetzte. Da waren zunächst die Brüsseler Konferenzen zur Bekämpfung der Prostitution und des Mädchenhandels, dann die Gründungsepoche der internationalen und nationalen Gesellschaften zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Diese Gründungen bilden eine neue Epoche, da die Kämpfer aus Theologen zu Medizinern werden. Auch die Literatur – das Wort möge es entschuldigen – erlebt eine Wandlung. Nach dem Dogma, daß der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten gleichbedeutend ist mit dem Kampf gegen die Prostitution, wird in periodischen und unperiodischen Druckschriften der Nachweis der gesundheitlichen Gefahren der Prostitution zur Hauptaufgabe. Nun hat das Dogma gewiß einen richtigen Kern, da die Prostitution als freieste und schrankenloseste Form des Geschlechtsverkehrs einen Hauptansteckungsherd bildet. Es gibt aber sehr wohl noch andere Arten ungebundenen Geschlechtsverkehrs, die sicherlich nur zurzeit unter dem System der Weiberknechtschaft und dem allgemeinen Warencharakter der Liebe zurückgetreten sind und die in den Vordergrund treten würden, wenn eine allgemeine Umwandlung der Grundprinzipien der Zeit die Nachfrage nach der Prostitution geringer gestaltet. Wenn die Frau nicht mehr, in geknechteter Lage gefangen, den Hauptwert auf ökonomische Ausnützung des Mannes legt, sondern der ungebundene Geschlechtsverkehr ein neues steigerndes Moment wird, so könnte eine ganz andre Form des Verkehrs, die heute an öffentlicher Bedeutung zurückgetreten ist, der Hauptträger geschlechtlicher Ansteckung werden. Der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten ist also nicht identisch mit dem Kampf gegen die Prostitution – Gott sei Dank – da dies Dogma über alle Bemühungen das Todesurteil spräche. Der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten muß sich vielmehr auf das medizinische Gebiet beschränken und tut gut, alle Übergriffe zu sozialer Betätigung denen zu überlassen, die entweder Träger der öffentlichen Macht sind oder die tiefer in die Zusammenhänge der menschlichen Vergesellschaftung eindrangen. Die Verführung, vornehmlich über das zu reden, wovon man nichts versteht, hat leider auch die Arbeiten der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten gehemmt. Die Gesellschaft wurde 1901 gegründet und suchte seitdem in Deutschland auf Kongressen und durch eine umfangreiche Publizistik ihre Gedanken zu verbreiten. Man neigt leider dazu, zu vergessen, daß die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten die Aufgabe des Mediziners, und zwar des Mediziners als Arzt, ist. Die zielbewußte, rein medizinische Forschung wird hier die Hauptarbeit zu leisten haben. Bedauerlich genug ist demgegenüber die Bankrotterklärung jener medizinischen Gruppe gegenüber den Geschlechtskrankheiten, die ihre Hauptarbeit in der Forderung gesetzlicher und sozialer Neuerungen sucht. So teilt auch die Geschichte der Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten das traurige Los der meisten Vereine: ein Arbeitseffekt läßt sich nicht feststellen. Freilich, die Persönlichkeiten als einzelne werden auf ihrem Gebiete als Ärzte viel Gutes durch Heilungen geschaffen haben, sind doch Mediziner wie Blaschko, Lesser und Neißer an ihrer Spitze. Aber als Verein hat sie herzlich wenig geleistet, besonders wohl deswegen, weil sie sich vom medizinischen Gebiet abwandte, um auf das sehr diskutable soziale überzusiedeln. So gruppieren sich die Kämpfe der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten nicht um den direkten Kampf gegen den Feind: Spirochaete und Gonokokkus, sondern um einen indirekten Kampf mit den Schlagworten: Prostitution, Reglementierung, sexuelle Aufklärung, Sexualreform, vorehelicher Geschlechtsverkehr – und was es sonst noch auf diesem Gebiet gibt. Die Prostitution wird bestehen, unabhängig von der Polemik dieser Herren; ob die Reglementierung schädlich oder nützlich ist, versucht man aus Gleichungen mit lauter Unbekannten zu berechnen, die ungeheuer einleuchten. Die sexuelle Aufklärung hat mit der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten herzlich wenig zu tun, denn die Jugend wird auch, wenn sie die Gefahren kennt, den vorehelichen Geschlechtsverkehr nicht meiden; der Versuch einer Sexualreform ist, weil unpsychologisch, einfach grober Unfug, und die Frage der Schädlichkeit der sexuellen Abstinenz ist nicht so leicht, wie die Mediziner sich das denken.

Man kann sagen, es gibt gar keine sexuelle Abstinenz, denn der Koitus ist ja nur eine von vielen gleichwertigen Formen der Detumeszenz. Und ein starker Geschlechtstrieb, der nicht im Koitus detumesziert, sucht sich nach psychologischem Gesetz andere Bahnen. Das Problem ist nur das, wie der Mensch sich aus der geschlechtlichen Detumeszenz eine Glücksmöglichkeit zu schaffen vermag. Und das ist Sache des Einzelfalles. So ist auch die Geschichte der Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten keine besonders erfreuliche, und abgesehen von dem Wert der Materialsammlungen, die sich in ihrer Zeitschrift befinden, ist an Bleibendem vielleicht recht wenig erreicht. Die urologischen Gesellschaften haben in dem gleichen Zeitraum ungleich mehr erarbeitet. Die Tätigkeit des Bundes für Mutterschutz, dessen soziale Bedeutung allerdings die höchste Anerkennung verdient, steht an wissenschaftlichem Werte zweifellos tief unter der Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Auch der Bund für Mutterschutz kämpft den Kampf gegen die Prostitution, und zwar hat man hier als Universalheilmittel sich die Sexualreform erdacht, die auf die Gegenwart paßt wie die Faust aufs Auge.

Ich habe keinen Appetit mehr auf Polemik. Mit der so hochgerühmten abolitionistischen Bewegung der Gegenwart steht es ziemlich schlecht, und der Erfolg, der zwar niemals ein Urteil über den psychologischen Wert der Persönlichkeit gestattet, vermag doch zu zeigen, ob das eingeschlagene System richtig ist. Falls die Entwicklung der Welt, die zur Verknechtung des Weibes führt, ist damit auch die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten gegeben, und nur die Kunst der Mediziner kann diese Verseuchung hindern. Auf sozialem Gebiet ist hier nichts zu leisten, denn jede Zeit muss das Schicksal tragen, das sie sich selbst bereitet. Der Mediziner möge also bei seinem Serum bleiben. Und auch der Gesetzgeber tut am besten, zu schweigen.

Schon die wahllose Verschiedenheit, mit der sich die einzelnen Nationalitäten zum Sittengesetz stellen, nimmt wenig für die Ausdehnung der Rechtssphäre auf dieses Gebiet ein. Das deutsche Strafgesetzbuch verbietet bekanntlich die Kuppelei apodiktisch, und nichtsdestoweniger ist in der Mehrzahl der deutschen Städte ein entwickelter Bordellbetrieb. Die Paedicatio wird mit mehreren Jahren Zuchthaus bedroht, und in Berlin und allen Großstädten besteht eine homosexuelle Prostitution, offiziös und in einem Umfange, der der weiblichen beinahe gleichkommt. Bis zum 14. Jahre werden die Mädchen gesetzlich gegen den Geschlechtsverkehr geschützt. All dies sind Bestimmungen, die eine mittlere Linie unter den Strafgesetzbüchern der germanischen Länder einnehmen. Der Staat New York marschiert in der Strenge voran: »Wer das scheußliche und verabscheuenswürdige Verbrechen wider die Natur begeht – ich empfehle dem Gesetzgeber die Lektüre der Anthropophyteia – wird mit Einsperrung von fünf bis zwanzig Jahren bestraft.« Bordellbetrieb und Kuppelei sind strafgesetzlich verboten; durch strenge Gesetze wird die Unschuld der Mädchen unter zehn Jahren geschützt und in gleicher Weise der Mädchen, »die über geschlechtliche Vorgänge nicht orientiert sind«. Finnland beurteilt die Homosexualität schon leichter und bedroht sie mit zwei Jahren Gefängnis, desgleichen die Bestialität, aber auch Formen gegenseitiger weiblicher Befriedigung werden unter Strafe gesetzt. Auf Kuppelei steht Zuchthaus bis zu drei Jahren, auf Prostitution Gefängnis bis zu zwei Jahren. Die Übertragung venerischer Krankheiten wird mit Zuchthaus oder Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft.

Die Schweiz setzt auf Kuppelei und Zuhälterei Gefängnis von drei Monaten bis Zuchthaus von drei Jahren, bei gewerbsmäßiger Ausübung bis zu sechs Jahren und eine Geldstrafe bis zu 20 000 Francs.

Norwegen staffelt den geschlechtlichen Schutz Minderjähriger nach den Altersgrenzen dreizehn, sechzehn und achtzehn und bedroht ihn, teils nur auf Antrag, mit Gefängnis von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Kuppelei wird mit Gefängnis bis zu vier Jahren, Übertragung von Geschlechtskrankheiten mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft. Wer vor jungen Damen Zoten erzählt, muß sich darauf gefaßt machen, daß er ein Jahr ins Kittchen wandern muß; wer seine Verlobte schwängert und sie ein Jahr nach der Geburt des Kindes noch nicht geheiratet hat, wird vier Monate eingesponnen. In Dänemark werden Kinder nach der Staffel zwölf und sechzehn Jahre geschützt, und die angedrohte Strafe schwankt zwischen zwei Monaten Gefängnis und acht Jahren Strafarbeit. Der Päderast kommt ausgerechnet ins Besserungshaus. Liebesverhältnisse, die öffentliches Ärgernis erregen, können von der Polizei aufgelöst werden, auf Prostitution steht Gefängnis, Kuppelei wird mit Besserungshaus oder Gefängnis bei Wasser und Brot geahndet.

Die Niederlande stehen in ihrer Gesetzgebung bekanntlich Frankreich viel näher. Kinder werden nach der Staffel zwölf und sechzehn Jahre geschützt, im zweiten Falle nur auf Antrag. Die Gefängniszeit geht bis acht und zwölf Jahre. Der gleichgeschlechtliche Verkehr findet im Niederländischen Strafgesetzbuch keine Erwähnung; der Bordellbetrieb ist gestattet und nur polizeilicher Regelung unterworfen.

Die romanischen Länder gehen von recht andersartigen sexuellen Auffassungen aus. Italien bedroht den Geschlechtsverkehr mit dem Mädchen unter zwölf Jahren mit Einschließung von einem bis zu zehn Jahren. Die Schändung eines zwölf- bis sechzehnjährigen Mädchens (zur Schändung gehört der Begriff der listigen Erschleichung) mit Einschließung bis zu dreißig Monaten. (Verfolgung nur auf Antrag.) Kuppelei wird nur bei Erregung von Ärgernis bestraft, sexuelle Akte zwischen Gleichgeschlechtlichen bleiben straffrei.

Spanien bedroht heute die Unzucht mit Kindern unter fünfzehn Jahren mit Zwangsarbeit. Früher schützte man die Kinder nur bis elf Jahre und setzte als Strafe Gefängnis fest. Die Verführung zur Prostitution wird mit Gefängnis von einem Monat bis zu einem Jahre bestraft, Kuppelei, Prostitution und Päderastie unterliegen nicht strafgesetzlichen Verboten. In Portugal wird die Unzucht mit einem Kinde unter zwölf Jahren mit vier Jahren Zuchthaus und acht Jahren Verbannung bedroht oder wahlweise mit Verbannung bis zu fünfzehn Jahren. Die Schändung eines zwölf- bis achtzehnjährigen Mädchens wird ebenfalls mit Zuchthaus und Verbannung bedroht, doch in niedrigen Sätzen. In Mexiko staffelt man die Schutzfrist nach den Jahren zehn und vierzehn und bedroht besonders die »Angriffe gegen das Schamgefühl von Frauen«. Prostitution, Kuppelei und Päderastie bleiben straflos. Chile bedroht die Sodomie mit Zuchthaus II und ebenfalls die Schändung eines zwölf- bis zwanzigjährigen Mädchens mit Zuchthaus II, die Prostitution unterliegt sittenpolizeilicher Regelung.

Rußland staffelt die Schutzfrist nach den Jahren vierzehn und sechzehn in ähnlicher Weise wie Deutschland, bestraft die Päderastie mit Gefängnis über drei Monaten und unterwirft Bordelle und Prostitution staatlicher Regelung.

Bulgarien schützt die Kinder nach der Staffel dreizehn Jahre und sechzehn Jahre (bis sechzehn nur bei Verführung). Auf Päderastie steht Gefängnis über sechs Monate. Bordelle und Reglementierung sind Bulgarien bekannt. Serbien läßt die Päderastie straffrei, bedroht dagegen die Übertragung von Geschlechtskrankheiten.

Japan schützt die Kinder bis zum zwölften Lebensjahre. Päderastie, Prostitution und Bordell verstoßen nicht gegen das Strafgesetzbuch. Besondere Sorgfalt wendet der Gesetzgeber in Japan auf den Schutz der Familienehre.

Man sieht, der Lebemann auf der Weltreise muß sich seine Genüsse ortsüblich zu verteilen verstehen, damit ihm nirgends nichts passiere.

Das psychologisch Interessante an dem Vergleich der Strafgesetzbücher ist eben das eine: Sie deuten auf durchaus verschiedene sexuelle Auffassungen und sexuelles Leben in den einzelnen Ländern. Und der Verschiedenheit der sexuellen Verhältnisse entspricht auch die Verschiedenheit der Bedingungen, unter denen die Prostitution lebt.

Allerdings muß man, wenn man von der Prostitution eines Landes spricht, zunächst die Hafenstädte ausscheiden, weil hier die Prostitution international ist. International in dem Sinne, daß sie sich aus Mädchen aller Nationen zusammensetzt und international, weil die Weiber in ihrer »Aufmachung« des nationalen Sexualkolorits ermangeln. Als solche Hafenstädte scheiden aus: Lissabon, Marseille, Barcelona, Hamburg, London und bis zu einem gewissen Grade Kopenhagen und St. Petersburg. Es ist bezeichnend, daß man gerade die erstgenannten Städte immer mit Vorliebe zur Deduzierung der Eigenschaften der Prostitution heranzieht. Man zieht sie heran, teils weil diese Städte besonders bereist werden, teils weil sie die sehr bequeme Fabel von der internationalen Physiognomie der Prostitution bestätigen.

In einer Hafenstadt dominiert in der Regel das Bordellwesen. In London gibt es bekanntlich, abgesehen von den Kokotten der höchsten Kreise, überhaupt nur Bordellprostitution. Die Straßenprostitution ist gänzlich verboten und auch nur in ganz geringem Umfange vorhanden. Der Fremde, der in die Hafenstadt kommt, will eben sein Amüsement möglichst bequem und möglichst gefahrlos haben, er vermag zunächst gar nicht die Prostituierten herauszuerkennen, er kann eine Dame beleidigen, weil er sie für eine Dirne hält und mit einer Dirne »unnütze Umstände« machen und nachher erst recht von ihr geschröpft werden – nach der alten Erfahrung, daß ein Mann, der sich erst einmal verausgabt hat, nachher nicht mehr knausert. Für den ungewandten Reisenden hat die Straßenprostitution außerdem auch den Nachteil, daß er das Gefühl einer gewissen Gefahr nicht los wird, er befindet sich in einer fremden Stadt, wird durch enge, winklige Gassen geführt, nie wieder könnte er den rechten Weg finden; er ist sich der Gefahr stets vollauf bewußt. So stellt für den Fremden das Bordell die schlechthin ideale Form des Prostitutionsverkehrs dar. Sie gestaltet den Verkehr gefahrlos and rasch. Und nie hat man bekanntlich so wenig Zeit wie auf der Reise. Vor allem ist die Sache aber solide, und jeder Hotelportier kann einem Bescheid sagen.

Die Straßenprostitution hat gerade in einer Hafenstadt, wo sich Gesindel aller Art herumtreibt, sehr ihre zwei Seiten. Es handelt sich meist um alte Städte, die in ihrer Anlage unübersichtlich und unsauber sind, und man kann nie wissen, in welchen Schlupfwinkel man gerät. Ich habe in London und in den Hafenstädten des Mittelmeeres vielfach so Ecken und Eckchen gesehen, in die ich meine Kritiker gewünscht habe.

In den Binnenstädten sieht es dagegen in den einzelnen Ländern recht verschieden aus. Man kann vielleicht unter gewissem Vorbehalt sagen: Je weiter man von Westen nach Osten kommt, um so gemeiner wird das Niveau der Dirne. In Spanien spielt die Prostitution nur eine untergeordnete Rolle. In Madrid ist für den Fremden, den Ausländer, sozusagen nichts zu machen, und wenn, so kann es Kopf und Kragen kosten. Der Spanier ist der Prostitution wenig geneigt, er hat seine Geliebte, die er meist nach einigen Jahren heiratet, und er ist eifersüchtig. Der Begriff der Treue ist hier noch nicht imaginär geworden, und der stolze Spanier hält die Ehre seines Mädchens ebenso rein wie seines Dolches Schneide.

In Italien liegen die Verhältnisse etwas anders. Auch der Italiener ist der Prostitution wenig geneigt, auch bei ihm spielt der freie Liebesverkehr eine bedeutende Rolle, auch er wirbt um die Frau, aber er kann resignieren. Die Italienreisenden wissen bekanntlich Bände von italienischen Liebesabenteuern zu erzählen, von den schönen Weibern, die ihnen angeboten sind, von dem Lustknaben, zu dem ihn ein Mann lockte, der ihm auf der Straße etwas zuflüsterte und – last not least – von den Ziegen, die in Italien so außerordentlich brauchbar sind. Davon erzählen die Fremden! Der Italiener mag solchen Komfort im Liebesleben nicht. Italien, das Land des Fremdenverkehrs, ist eben auf alle Arten von Ausländern eingerichtet. Auch die italienischen Geliebten sind anders als die Spanierinnen und bei anständiger Bezahlung durchaus nicht spröde.

Die Pariser Bordelle sind bereits Gegenstand so vieler literarischer Federübungen gewesen, daß jedes junge Mädchen in ihnen besser Bescheid weiß als in ihrem Pompadour. Über dieser zugkräftigen Bordell-Literatur vergißt man allerdings mit Vorliebe, daß das Kolorit der Pariser Prostitution nicht durch die Bordelle bestimmt wird, wie der Fremde glaubt, weil die Straßenprostitution nicht auf der Straße liegt. Der Pariserin oder besser dem Pariser widerstrebt die Kaufliebe in der eleganten Form, wie sie zu den Berliner Eigenheiten gehört. Die freie Pariser Prostitution sitzt in den Cafés; hier spinnen sich die lustigen Tischunterhaltungen an, die später im Séparé oder in der Wohnung fortgesetzt werden. Das hat noch etwas von jener absichtslosen Selbstverständlichkeit, die zur Erotik gehören sollte. Der Pariser Mann degoutiert alles, was das Sexuelle vom Erotischen zum Animalischen herabsinken läßt, und die Dirne hat ihm gegenüber gar nicht nötig, das Erwerbsmäßige so sehr in den Vordergrund zu rücken, um ja nicht verkannt zu werden; in Paris sind, wie man mir vielfach bestätigt hat, die Drückeberger selten. Die Physiognomie der Pariser Halbwelt empfängt eine eigenartige Nüance durch die vornehme Kokotte, die nur in Paris in genügender Zahl vorhanden ist, um das Gesellschaftsbild zu schattieren. Ich meine die Kokotte mit einer schloßartigen Villa, mit Lakaien und Automobilen, die Dame, der man überall nachsieht, wo sie hinkommt. Die »femme entretenue« der ganz reichen Gesellschaft, diese finden wir als Spezies nur in Paris. In Berlin muß es schon ein Regierender sein, der so viel Kultur und so viel Geld besitzt, sich diesen Luxus zu leisten.

Der Krieg hat die Pracht der Pariser Nächte sofort weggewischt. Die großen französischen Niederlagen in den ersten Kriegsmonaten führten zu einem drakonischen Polizeiregiment. Die Cafés schlossen schon am frühen Nachmittag, und nur am Montmartre irrten ein paar verkommene Dirnen durch die winkligen Gassen. Das war im August und September, als ganz Paris sich auf der Flucht befand. Von diesem Schlage hat sich das Pariser Nachtleben nie wieder erholt. Die Polizei hat stets auf frühen Schluß der Restaurants gesehen, das Tanzverbot ruinierte die lustigsten Vergnügungsstätten, und die Flucht der Ausländer, verbunden mit der den Franzosen eigentümlichen gesellschaftlichen Ächtung alles Nichtuniformierten, gab dem Nachtleben die monotone Aufgabe, die Soldaten zu befriedigen, die sich auf der Durchreise von einem Frontabschnitt nach dem andern befanden.

Frankreich hat eine sexuelle Erscheinung aufzuweisen, welche ihm seit dem Kriege eigentümlich ist: Die Liebe des ganz jugendlichen Mannes zu der älteren gereiften Frau. Es ist, als ob diese französische Jugend, die so unendlich viel leiden mußte, schon über ihre Jahre hinaus gealtert wäre, und als ob all das schreckliche Erlebnis sie so erfüllte, daß sie nicht mehr um das Weib werben will, nicht mehr die Geduld hat, bis eine spröde Mädchenknospe sich öffnet, sondern das reife Weib sucht, bei dem sie vergessen kann. Täglich las man während der Kriegsjahre in den Zeitungen Anzeigen, daß der Leutnant Dupont sich verlobte mit Mme. Dutour, die sich vor vierzehn Tagen scheiden ließ. Die ovidischen Instinkte in den französischen Männern sind einstweilen erstickt. Daß dies einen Aufschwung für die Prostitution bedeutet, erscheint gegeben. Ohnehin hat Paris als Stadt der Friedenskonferenz dafür die besten Voraussetzungen.

Über Holland läßt sich wenig Besonderes sagen, weil es fast ausschließlich Hafenstädte besitzt, die bekanntlich in eroticis alle nach einem Schema arbeiten. Natürlich gibt es auch lokale Sehenswürdigkeiten, wie die Bordelle in der Kalverstraat in Amsterdam, wo vor den Türen Bordelljungen den Vorübergehenden die Bier- und Weinpreise ihres »Etablissements« in die Ohren schreien und die Tür mit einem langen Strick aufreißen, so daß man in einer magischen Beleuchtung in rauchiger Atmosphäre üppige Weiber sieht, kurz, alles viel orientalischer als im Orient.

Von einer holländischen Eigentümlichkeit berichtet Rugers 1906 in der Zeitschrift zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Danach soll es in einigen Städten Herren und Damen geben, die sich nackt (?) an die Tür der Bordelle stellen und auf jeden Besucher aufs eindringlichste einreden, er möchte sich in diesem Augenblicke noch beraten. »Was denn mancher auch wirklich tut.« Mich selber hat man bei meinen verschiedenen Aufenthalten in Holland leider nicht zu retten versucht.

In Deutschland ist das Nachtleben in den einzelnen Städten ganz verschieden. Der Bordelltypus spielt, abgesehen von den Hafenstädten, in fast allen mitteldeutschen Städten eine integrierende Rolle, wie in Magdeburg, Frankfurt a. M., Halle, Dresden, Leipzig. Ja, selbst kleine thüringische Städte, wie Eisleben, haben Bordelle, neben denen die Straßenprostitution kaum aufkommt. In Frankfurt spielt sich ein spärliches Nachtleben eigentlich nur auf der Zeile ab. Die Bordelle liegen meistens zusammen in einzelnen Bordellstraßen, in den größeren Städten drei, vier Straßen, die das offizielle Auskunftsbüro, der Gepäckträger oder am besten der Schutzmann jedem Interessenten mitteilt, natürlich mit amtlicher Angabe der Preise. Außerhalb dieser Bordellstraßen liegen immer noch in der feinen Gegend vereinzelt, von außen kaum erkennbar, einzelne Bordelle, und das sind die richtigen. Das sind die Bordelle, die von der jeunesse dorée ausschließlich besucht werden.

Einen besonderen Charakter hat das Münchner Nachtleben. München hat keine Halbwelt. Jeder Mensch, der in München war, spricht erstaunt darüber, und sicherlich ist im Kern die Ansicht richtig; denn die paar Mädchen, die abends und nachts in der Bayerstraße und der Lindwurmstraße umherlaufen, bestimmen nicht das Münchener Nachtbild. Das Münchener Nachtleben wird beherrscht von jenen frischen und feschen Mädels, die abends, wenn sie aus dem Geschäft kommen, die Neuhauserstraße entlang bummeln, um sich noch ein paar Schaufenster anzusehen, aber auch in der stillen Absicht, nicht allein zu bleiben. Von jenen Mädchen, die noch eine Freude daran haben, einmal gut zu essen und gut zu trinken, die ein sehr offenes Herz haben und den, der sie nett behandelt, sehr bald und sehr entschieden gern haben. Man spricht mit Vorliebe von der außerordentlich geringen Zahl von reglementierten Dirnen in München. 1910 betrug die Zahl der reglementierten 197, von denen 100 ledig, die übrigen verwitwet oder geschieden waren. 75 % waren ehelicher Abkunft. 44 standen zwischen dem 21. und 30. Lebensjahre, 49 zwischen dem 30. und 40., 14 waren über 40 Jahre alt. Aus München stammten 59, aus Bayern 36, aus den übrigen deutschen Bundesstaaten 8, aus dem Ausland 4. Aus Handel und Gewerbe stammten 62, aus dem Arbeiterstande 20, aus dem Beamtenstande 9, aus dem Bauernstande 7, 27 waren früher Dienstmädchen, 27 Fabrikarbeiterinnen, 27 Kellnerinnen, 8 Näherinnen, 5 Verkäuferinnen, 4 Modelle, 3 Sängerinnen, 2 Blumenmacherinnen, 2 Strickerinnen, 2 Plätterinnen. Von diesen 107 Prostituierten waren im Jahre 1908 ganze 19 geschlechtskrank, was auf die außerordentliche Gründlichkeit der Münchner Kontrolle deutet. Die Zahl der nichteingeschrieben Aufgegriffenen war in den Monaten Februar, März und April 1909 allein gleich 971, von denen 6 unter 16 Jahren alt waren, 53 zwischen 16 und 18, die meisten zwischen 21 und 30, und 76 waren über 40 Jahre alt. 62 waren gegenwärtig verheiratet. Kellnerinnen und Dienstmädchen stellten auch hier das Hauptkontingent. Auch zwei Buchhalterinnen und eine Klavierlehrerin waren darunter. 35 % waren geschlechtskrank.

In Nürnberg lebt die Prostitution fast ausschließlich in Bordellen. Eine sonstige Reglementierung der Dirnen gibt es nicht. Was abends auf der Straße herumläuft, sind meist Geschäftsmädchen, die sich natürlich auch ansprechen lassen, aber durchaus nicht zur Prostitution zählen. Es ist derselbe Typus oder beinahe derselbe Typus, den man in München so zahlreich findet. Nürnberg hat verschiedene sehr gute Bordelle, und im allgemeinen erhebt sich das Mädchenmaterial, das hier festgelegt ist, weit über das Durchschnittsmaß der übrigen deutschen Bordelle. Es sind in der Regel oberbayrische Mädchen, aber auch verschiedene andere süddeutsche und nur sehr wenig norddeutsche. Die Preise schwankten vor dem Kriege hier zwischen drei bis zehn Mark.

In Dresden findet man die Prostitution in schillernder Mannigfaltigkeit vertreten. Im Zuge der Prager und Seestraße, auf dem Altmarkt und in der Wettinerstraße spielte sich bis zwei Uhr nachts ein reges Nachtleben ab. Dann wurden die Cafés geschlossen und die Straßen wurden stiller, nur noch wenige Prostituierte sind anzutreffen. Daneben gibt es in Dresden Bordelle, besonders in einer Querstraße in der Nähe des Altmarkts liegen die alten, gleichförmig gebauten Häuser, die unten eine Klingel haben und die ganze Nacht Einlaß gewähren. Nur in der Zeit des Krieges waren auch sie an die Polizeistunden gebunden. Diese Bordelle sind jedoch billig und schlecht, ebenso wie die Straßenprostitution. Die bessere Halbwelt ist in Dresden nicht auf der Straße zu sehen. Man lernt sie in den Likörkellern oder nachmittags im Café kennen. Im großen ganzen ist das Leben reichlich kleinstädtisch, und die Auswahl ist recht bescheiden, ganz im Gegensatz zu Leipzig, wo sich in früheren Abendstunden vor dem Hauptbahnhof ein Leben abspielt, das wirklich großstädtisch ist. Auch in Leipzig findet man freie Dirnen neben den in Bordellen. Die Bordelle befinden sich besonders in der Gegend der Großen Fleischergasse beim alten Theaterplatz. Das Leipziger Bordell ist ein Mittelding zwischen einer Animierkneipe und einem eigentlichen Bordell. Mir fiel in Leipzig der ungeheure Umfang der homosexuellen Prostitution auf und die ungeheure Dreistigkeit, mit der hier Erpresser vorgehen. Ich habe es verschiedentlich beobachtet, wie in dem Gewühl des Bahnhofs Homosexuelle mit dort herumlaufenden jungen Leuten Bekanntschaften schlossen und dann gleich in ein kleines gegenüberliegendes Lokal sich begaben und dort eine Zeitlang verweilten. Ich selbst habe gehört und beobachtet, wie sofort nach dem Verlassen des Hauses hier die dreistesten Erpressungsversuche vorgenommen wurden, fast immer mit Erfolg.

Von den deutschen Provinzstädten möchte ich hier das Nachtleben einiger Städte, in denen besondere Verhältnisse obwalten, auch besonders charakterisieren. In Bremen herrschte keineswegs die Reglementierung in ihrer krassesten Form, es gibt keine Zwangseinschreibungen, kein »unter Sitte stellen«, auch keine Bordelle im eigentlichen Sinne. Sondern es gibt nur eine Kontrollstraße, in der 75 Prostituierte wohnen, die sich freiwillig gemeldet haben und sich zweiwöchig ärztlich untersuchen lassen müssen. Die übrigen Prostituierten, deren Zahl zwischen 500 und 1000 schwankt, und unter denen sich viele junge Anfängerinnen befinden, sind größtenteils der Sittenpolizei bekannt. Wenn sie sich obdachlos umhertreiben oder auf der Tat ertappt werden, greift man sie auf, und sie bekommen erstenfalls drei Tage Haft. Jedes Mädchen, das man ins Gefängnis einliefert, wird der Untersuchung unterworfen, ob sie geschlechtskrank ist oder nicht. Diese Ordnung der Prostitutionsverhältnisse ist 1865 durchgeführt. Weil damals nach dem Urteil der namhaftesten Ärzte der Stadt die Geschlechtskrankheiten in bedenkenerregender Weise zugenommen hatten. Die Mädchen wohnten zuerst zerstreut zur Miete. Nach Einführung der Reglementierung waren die Krankenhäuser zuerst überfüllt. 1869 war die Zeit der Kranken jedoch schon auf einen Normalstand gesunken.

In den Kreisen der biederen Bürgerschaft war man sehr wenig damit zufrieden, daß die Prostituierten mitten unter der arbeitenden Bevölkerung wohnten, und man setzte es schließlich durch, daß die Stadt mit einem Bauunternehmer sich in Verbindung setzte, der ein besonderes Quartier für die Prostituierten schaffen sollte. In dem Vertrage verpflichtete sich der Unternehmer, die ihm gehörende Helenenstraße der Polizei für die Kasernierung der Prostituierten zur Verfügung zu stellen und andere Personen nicht darin wohnen zu lassen, während die Polizei die Verpflichtung übernahm, alle gewerbsmäßige Unzucht treibenden Frauenzimmer dorthin zur »Wohnungnahme« zu überweisen. Am 1. Oktober 1878 trat diese Bestimmung in Kraft. Die Helenenstraße liegt in der östlichen Vorstadt und zweigt sich von einer lebhaften Verkehrsstraße, der Straße vor dem Steintor ab; sie ist eine Sackgasse und wird an ihrem Ende durch eine fast vier Meter hohe Steinmauer abgeschlossen. Am Eingange befindet sich das Lokal für polizeiliche Vernehmung der Mädchen. Die Wohnungen sind sämtlich mit Polstermöbeln eingerichtet, der Mietspreis pro Tag beträgt für die Untergeschoßwohnung vier Mark, für die Wohnung im Erdgeschoß sechs Mark, und im ersten Geschoß vier Mark. Die Wohnungen im Erdgeschoß bestehen aus drei Zimmern und besitzen eine mit Holz abgedeckte Veranda. Im Keller befinden sich ebenfalls drei Zimmer, im ersten Stock vier Zimmer. Kanalisation und Wasserleitung sind vorhanden. Mädchen unter 18 Jahren und Ehefrauen werden nicht unter Kontrolle gestellt. Der Gesundheitszustand war 1902 sehr schlecht. Bei einem Durchschnittsbestande von 47 Mädchen und bei 4193 Einzeluntersuchungen kamen 77 Krankheitsfälle vor, und zwar bei 43 Prostituierten. Von denen 23 einmal krank waren, 12 zweimal, 2 viermal und 2 fünfmal. Für 1903 ist der Bericht noch unbefriedigender: es erkrankten 71 Mädchen (1902 nur 61) an Tripper, 14 (15) an Syphilis, 4 (1) an weichem Schanker und eine an Herpes.

1905 machte man auch in Hannover den Versuch, die Prostitution zu kasernieren. Ende 1904 wurden in der Seidlitzstraße mehrere Häuser von einer Gesellschaft gekauft und als Prostituiertenwohnungen eingerichtet. Die Anwohner reichten sofort Beschwerde ein und hatten damit den Erfolg, daß den Unternehmern die Fortsetzung untersagt wurde. Ein Grundstück mußte binnen zehn Tagen geräumt werden, die übrigen innerhalb eines Vierteljahres. Seitdem ist man in Hannover hauptsächlich bei dem System der einfachen Reglementierung geblieben, und ganz ähnlich wie man es in Berlin hat.

Das Kasernierungssystem ist ferner in Dortmund eingeführt. Bis April 1902 lagen die Wohnungen in der Marschallstraße, später wählte man eine mehr an der Peripherie gelegene Straße, die Mozartstraße. Auch hier setzten die Beschwerden der Nachbarschaft ein, und ebenfalls machten sich Unstimmigkeiten durch allerhand Ausschreitungen in der Straße selbst bemerkbar. Immerhin wird das System dort noch heute beibehalten.

Das System der Kasernierung ist 1907 auch in Essen eingeführt, und zwar hat man die Heilige Geiststraße gewählt, die zwischen der Borbecker- und der Schulstraße, in der Nähe der Kruppschen Werke liegt. Im Frühjahr 1904 erhielten alle Essener Prostituierten die Anweisung in der Heiligen Geiststraße Wohnung zu nehmen, nicht ohne daß man ihr vorher einen anderen Namen gegeben hatte und sie eben so kurz wie unzweideutig in Kurzestraße umgetauft hatte. Fast gleichzeitig stieg in dieser Straße der Mietszins für Häuser und leere Wohnungen um ein Vierfaches, eine Ausbeutung, der die Prostituierten wehrlos gegenüberstanden. Gegen einen täglichen Pensionspreis von zehn bis fünfzehn Mark geben nun die Prostituierten, die hier für einen unverhältnismäßig hohen Preis ein Haus als Eigentum erworben haben, Zimmer an ihre Gefährtinnen ab. Die Zahl der Reglementierten schwankte von 1904 bis 1909 zwischen 110 und 140.

In Kiel ist die Kasernierung nicht durchgeführt. Hier hat man neben der freiwohnenden reglementierten Prostitution Bordelle. Die geheime Prostitution soll einen besonders großen Umfang angenommen haben.

Ziemlich kompliziert liegen die Prostitutionsverhältnisse in Köln. Der zahlreiche Fremdenverkehr, der Wohlstand und Luxus der Stadt gestaltet hier die Verhältnisse für die Prostitution besonders günstig. Unter Kontrolle stehen ungefähr 600 bis 700 Mädchen, doch können sich, weil sehr viele im Krankenhause, Gefängnis oder Arbeitshaus sind oder sich der Untersuchung entziehen, höchstens 300 der regelmäßigen Untersuchung stellen. In Köln gibt es keine Bordelle und keine Bordellstraßen, sondern die Dirnen wohnen hauptsächlich in der Altstadt, in der Regel zu zweien in Häusern, die die Tradition zu Dirnenwohnungen sozusagen gestempelt hat. Hauptsächlich liegen diese Wohnungen natürlich in den armen Vierteln, was auf die Kinder der armen Familie besonders erziehlich wirken dürfte.

Im ganzen läßt sich die Regelung der deutschen Prostitution folgendermaßen zusammenstellen: es bestehen Bordelle in Hamburg, Mainz, Magdeburg, Altona, Nürnberg, Bamberg, Braunschweig, Metz, Worms, Freiburg i. Br., Würzburg, Kiel, Leipzig, Regensburg und Dresden, kaserniert ist die Prostitution in Braunschweig, Altona, Bremen, Düsseldorf, Halle (Saale), Posen, Krefeld, Lübeck, Metz, Pforzheim, Hildesheim, Gera, Halberstadt, Karlsruhe und Straßburg (Elsaß). Natürlich steht namentlich in den Städten über 100 000 Einwohnern daneben immer noch eine geheime Prostitution, die sich der Reglementierung entzieht.

Berlin hat sich während des Krieges gewaltig verändert. Seine nächtliche Weltstadtphysiognomie ist zu einem Provinzstadtaussehen herabgesunken. Und alles, was früher Unternehmungsgeist, Aufblühen, und wenn auch parvenumäßig, so doch weltstadtmäßig modern war, ist jetzt Verfall und Ruin. Es gibt noch ein weltstädtisches Vergnügungsleben, aber das ist clandestin und nur den Eingeweihten zugängig.

Die Kräfte, die schon vor dem Kriege am Werke waren, das Nachtleben gesetzlich einzuschränken, hatten im Anfang des Krieges den Triumph, daß die Polizeistunde auf drei Uhr festgesetzt wurde; dann wurde es ein Uhr und dann immer früher. Die Polizei, unter dem Kriegszustande die Allmacht schlechthin, sperrte der nächtlichen Lebewelt immer eine Zufluchtsstätte nach der andern. Zuerst wurden die Speisewirtschaften, Wirtschaften ohne Ausschankrecht, die ursprünglich nicht der Polizeistunde unterworfen waren, um zehn Uhr geschlossen. Dort hatte sich in ihrer kurzen Blütezeit ein merkwürdiges Gemisch von Zuhältern, Dirnen und Verbrechern hingeflüchtet, und der Handel mit gestohlenen Sachen wurde geradezu börsenmäßig betrieben. Von dort flüchtete man in die Vereine, die allenthalben ihre Pforten öffneten und jeden aufnahmen, der für fünfzig Pfennige eine Mitgliedskarte löste. Bis auch sie dem Scharfsinn der Polizei nicht entgingen.

Dieser vorzeitige Schluß des öffentlichen Vergnügungslebens hat zur Verminderung des Dirnenbestandes beigetragen; hinzu kamen all jene wirtschaftlichen und psychologischen Momente, welche ich früher darstellte, und Berlin wurde des Nachts zu einer toten Stadt, wo nur noch unter abgeblendetem Licht das Leben pulsiert. Denn wohlgemerkt, es ist nicht abgestorben, es ist nur ein geheimes geworden und es hat an Umfang, nicht an Intensität verloren. Darum sind eben die nächtlichen Weinstuben und Bälle das Dorado der teuren Gelegenheitsprostitution, nicht der in die Verarmung versunkenen offiziellen Prostitution.

Einen gewissen Markstein in der Entwicklung bedeutet die Revolution, nach der das Vergnügungsleben wiederum gewaltig anschwoll. Die Tanzwut, eine Folgeerscheinung aller Revolutionen und wohl auch der Unterernährung, ergriff die von den schwersten Fesseln befreite Großstadt, man tanzte vom frühen Nachmittag bis zum nächsten Morgen, und auch dieser Zustand begünstigte die Gelegenheitsprostitution.

Jetzt erfreut sich die Prostitution schon wieder breiterer Öffentlichkeit. Es lohnt sich für die Frauen schon mehr, nachts in der Friedrichstraße zu warten. Denn die Zahl der Nachtschwärmer schwillt an. Immerhin bleibt es fraglich, ob das Berliner Nachtleben wieder jenen großstädtischen Tumult aufweisen wird, der ihm selbst in andern Weltstädten »Ruhm« verschafft hatte.

Was machte denn das Berliner Nachtleben so außerordentlich anziehend? Zunächst, daß man alles in Berlin so teuer und so billig genießen kann wie man will. Und dann die Mannigfaltigkeit und die Bequemlichkeit, mit der sich die Berlinerin behandeln läßt. Wie in allen Großstädten unserer Zeit wird das »Ansprechen« in Berlin den ganzen Tag betrieben und die ganze Nacht. Die Berlinerin, besonders die berufstätige, ist im allgemeinen der Straßenbekanntschaft nicht abgeneigt.

Die Mehrzahl dieser Mädchen läßt sich nicht bezahlen, wenigstens nicht in bar. Ein feines Abendbrot und eine Flasche Wein, eine elegante Autofahrt, kurz und gut der Hauch des großen Lebens ist ihr Entgelt genug. Diese Mädchen lassen sich auch nicht von jedem und auf jede Art ansprechen. In dem Spiel der Verführung liegt noch ein kümmerlicher Rest von dem, was faszinierender Liebe die Umwerbung ist. Und diesen Rest wollen sich die Mädchen nicht nehmen lassen. Denn darin liegt ja ihr bißchen Genuß, daß er zwischen Furcht und Hoffnung schwankt, damit sie sich umdichten kann mit dem Gefühl, daß des Mannes Verlangen nach ihr nicht nur der brutale Willen zum Koitus ist.

Ist dieser internationale Großstadttypus eine Dirne? Eine grobe Psychologie mag diese Unterschiede verdecken und in dem Glücksuchen des Mädchens schon den Keim der Erwerbsgier der Dirne suchen. Die Kluft ist tief genug: aber sie kann leicht überbrückt werden. Wie in den meisten Großstädten, setzt eine Hausse des Berliner Nachtlebens zu der Zeit ein, wo die Kinotheater geschlossen werden. Vor den Berliner Kinos steht stets eine große Zahl von jungen Leuten, die herauskommenden Besucherinnen musternd. Nachdem auch diese Zeit vorüber ist, nuanciert sich das Straßenleben wiederum bedeutend. Der Prozentsatz der Mädchen, die auf dem Heimwege sind, nimmt ab, und die Dirne aller Schattierungen beginnt zu dominieren, und es beginnt der eigentliche Weiberleiberhandel. Dann wird es stiller.

Die Berliner Prostitution ist ziemlich über die ganze Stadt ausgebreitet. Die Hauptschlagader des Verkehrs, die Friedrichstraße, ist natürlich auch hier der Hauptanknüpfungspunkt. Die Weiber der Friedrichstraße sind an Qualität, Preis und Niveau sehr verschieden. Die Gelegenheitsprostitution ist hier stark vertreten. Die ganz schlechte Ware kommt hierher nicht, weil die Konkurrenz zu groß ist. Der Preis schwankt zwischen zehn und zwanzig Mark im wesentlichen, und die meisten Bekanntschaften werden auf der Straße gemacht. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß es sich bei Preisangaben in diesem Werke stets um Minimepreise handelt. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen allerdings als Anknüpfungspunkte auch die Cafés und die großen Ballsäle. Der Hauptanknüpfungspunkt ist und bleibt in Berlin die Straße. Der Strich dehnt sich nach Norden bis in die Chausseestraße aus, nach Westen die Leipziger-, Potsdamer-, Bülow- und Motzstraße herunter. Die Motzstraße ist der Hauptverkehrspunkt der anders gearteten Prostitution des Westens. In der Prostitution des Westens spielt die Gelegenheitsprostituierte eine weit größere Rolle als im Innern der Stadt, und selbst der gründlichste Kenner kann sich hier irren, was für eine Kategorie von Mädchen er vor sich hat. Der Preis schwankt im Westen viel mehr, man kann billigere Mädchen haben als in der Friedrichstraße, aber es gibt auch unverhältnismäßig teurere, und schließlich dehnt sich das Nachtleben bis viel tiefer in die Nacht hinein aus. Im Kriege hat sich die Topographie der Prostitution verschoben. Und ein neuer Brennpunkt der Prostitution ist am Kurfürstendamm entstanden. Hier, wo schon am frühen Nachmittag die Luft ein Aroma von Irrenanstalt, Zuchthaus und Charité erfüllt, ist der Haupttreffpunkt aller großstädtischen Nichtstuer.

Um zwei Uhr war früher in der Friedrichstraße der Markt abgeschlossen. Das Nachtleben beschränkte sich dann auf die Lokale, besonders auf die Cafés, die größtenteils die ganze Nacht geöffnet waren. Kein einziges von diesen Cafés war zu dieser Zeit von Prostituierten frei, viele dienten sogar ausschließlich der Prostitution. Der Unterschied hing wohl hauptsächlich davon ab, ob der Wirt Damen ohne Herrenbegleitung in das Café ließ oder nicht. Eine besondere Erscheinung ist das Leben in den Vormittagsbars, die gegen sechs Uhr öffnen und ebenfalls den meisten Weltstädten gemeinsam sind. Hier sammelt sich Publikum von den großen Bällen, Dirnen nach der Arbeit, Kellner und geistige Nachtarbeiter, Zuhälter usw. Diese Verhältnisse sind im großen ganzen unverändert geblieben oder jetzt nach der Revolution wieder aufgelebt, nur daß es sich eben um sogenannte geheime Cafés handelt. Neu ist der Gegenwart dagegen die außerordentliche Geschäftigkeit, mit der die professionelle Prostitution am Tage arbeitet. Heute sind die Cafés der Friedrichstraße schon vom frühen Morgen an mit unternehmungslustigen Dirnen besetzt. Und die große Zahl der Nichtstuer bringt es mit sich, daß viele Dirnen jetzt am Tage zwischen 10 und 4 das beste Geschäft haben.

Die Topographie der Berliner Prostitution ist damit noch nicht vollendet. In den Nebenstraßen trifft man die Reglementierten aller Gruppen, für die der Hauptstrich verboten ist. Sie gehen in den Querstraßen der Friedrichstraße und Potsdamer Straße. Sie sind fast in allen Gegenden der Stadt, sie patrouillieren die Hauptzufuhrstraßen bis nach Steglitz, Neukölln, Westend, Lichtenberg usw. hinaus. In den nach dem Westen zu gelegenen Gegenden schwankt der Preis zwischen zwei und fünf Mark. Je weiter man in die Vorstädte kommt, um so schlechter gekleidet und älter sind die Frauen. Besonders abstoßende Bilder liefert der Berliner Norden. Ich empfehle den Besuch der Pappelallee, hier gehen die Damen ohne Hut umher. Der Preis beträgt in den späteren Nachtstunden fünfzig Pfennige; wer handelt, bekommt Nachlaß, denn die Masse muß es bringen. Darum lassen diese Damen auch den Hut fort, und sie sollen in der Wohnung die Bekleidung überhaupt nicht verändern, schon deswegen, weil erfahrungsgemäß sonst die erotische Individualspannung abzureagieren pflegt. Das Ganze spricht für die gesunde Potenz der Berliner. In der Gegend vom Humboldtshain und anderen ähnlichen Hainen findet sich die Dirne aus dem Massenquartier, die keinen zu sich nehmen kann und darum Mutter Grün bevorzugt. Für ihren Genuß muß man ungefähr so viel anlegen wie für eine mittlere Untergrundbahnfahrt in der zweiten Klasse. Sie ist ungefähr der Gegenpol zu der eleganten Halbwelt-Dame der Bars mit einer eigenen, gut möblierten Wohnung, die an Eleganz und Sauberkeit allen Ansprüchen genügt und wo die Besucher ihrer Freude am Lärm die Zügel schießen lassen können und ihr Tun überhaupt durchaus nicht in das Dunkel und die Stille des Geheimnisses zu bannen brauchen. Der Herr, der um acht Uhr morgens mit ihr die Bar verläßt, wird vor dem Hause der Dame ehrerbietig von dem Portier empfangen, der Haus- und Fahrstuhltür aufreißt, um sein Trinkgeld einzuheimsen. Von einer sozialen Ächtung der Prostitution ist hier nichts zu merken, ein Beweis, daß die soziale Ächtung des außerehelichen Verkehrs eine sehr wesentliche wirtschaftliche Wurzel hat. Die Prostituierte in dem dürftigen möblierten Zimmer mit der Chaiselongue kann sich natürlich keine Exzesse erlauben. Hinter ihr steht immer das drohende Gespenst, der expropriierende Wirt. Dunkelheit und Ruhe sind die Vorbedingungen; die nächtlich fungierende Tranfunzel läßt nur in schwachen Umrissen erscheinen, was genau zu erblicken keinem gelüsten sollte.

Das blaue Buch, das jede Berliner Prostituierte mit sich führt, enthält vornehmlich folgende Bestimmungen: Zunächst wird der Prostituierten Anweisung gegeben, wie sie sich gegen geschlechtliche Ansteckungen zu schützen hat, und es werden die hauptsächlichsten Geschlechtskrankheiten dargestellt, alsdann folgt die Anweisung, an welchen Tagen sie sich zur Untersuchung zu stellen hat und schließlich der Hinweis auf die besonderen Polizeivorschriften, die sie zu beachten hat, nämlich unauffälliges Benehmen auf der Straße, eine Aufzählung der Straßen und Gegenden, die sie zu meiden hat (in Berlin sämtliche Parkanlagen!!!). Am strengsten ist natürlich verboten, »zur Unzucht anzulocken«.

Da die Gelegenheitsprostitution in Berlin so verbreitet ist und auch die Berliner jungen Leute nicht immer »sturmfrei« wohnen, so schuf man für solche Paare Möglichkeiten. Da ich niemals indiskret bin, so schweige ich über das, was ich in Stadtbahnkupees und Rotunden gesehen habe. Ich erzähle nur von den Hotels, die für einzelne Nächte an Ehepaare ohne Gepäck vermieten. Bekanntlich nur an Ehepaare, und die geforderte Eintragung ins Fremdenbuch muß stets den Zusatz erhalten: mit Frau.

Die Berliner Bordelle sind ein heikles Thema, da es hier bekanntlich keine Bordelle geben darf. Man erzählt aber trotzdem, daß im Norden noch einige von diesen Lasterhöhlen verborgen sind, und auch im Westen soll es unmoralische Häuser geben. Man erzählt, daß zur Einführung persönliche Bekanntschaft unerläßlich ist, daß die Mädchen dort in bestem Gesundheitszustande sind und daß die Abende wie ein Familienfest verlaufen. Eine Gesellschaft von gleich viel Damen und Herren hält sich in den Gesellschaftszimmern auf, es sind in der Regel zehn Paare – bis schließlich ein Paar nach dem andern verschwindet, doch nie mehr als fünf. Madame sorgt stets dafür, daß die Form gewahrt bleibt.

Die Ball-Lokale der Friedrichstadt dienen vornehmlich der eleganten Demimonde, es sind die Stätten der Sektgelage, wo Ladenschwengel Portokassen verjubeln, wo aber auch interessante Profils von Künstlern und hohen Beamten erscheinen. Sie sind auch die Hauptattraktion für die Fremden, weil hier Leichtlebigkeit und Eleganz in gleicher Ausgelassenheit dominieren. In den Balllokalen der Friedrichstadt und des fashionablen Westens wird wirklich elegant getanzt, und das erotische Element des Tanzens ist mit dem ästhetischen verbunden. In den Vorstadtlokalen dominiert die Zote. Die Tänze sind nicht etwa erotischer, aber weil sie jeder Ästhetik entbehren, sind sie nichts als gemein. Wenn der Tanz seiner Bestimmung im erotischen Leben nach Vorlust und somit der ausgemachte Liebling der Frauen ist und in der Sexualität das der weiblichen Erotik entsprechende Motiv der Umwerbung symbolisiert, so ist er in jenen Lokalen nichts als eine vom Standpunkte der Ästhetik widerliche Form der Detumeszenz und ist jedenfalls eher mutuelle Onanie, als Umwerbung des Weibes.

Die Prostitution Jugendlicher blüht natürlich auch in Berlin, das »Tauentziengirl« hat ja eine sprichwörtliche Berühmtheit erlangt. Man erzählt bekanntlich Schauergeschichten von den Backfischbordellen des Westens, von den Absteigequartieren, die sich fünfzehnjährige Mädchen halten. Nun, so schlimm wird es im allgemeinen nicht sein, und die angeführten Fälle gehören wohl zu den Seltenheiten. Allerdings ist es richtig, daß der Backfisch besonders auf dem Strich der Nachmittagsstunden in der Tauentzienstraße, dem Kurfürstendamm und der Gegend vom Zoo einen integrierenden Bestandteil darstellt. Aber die Mehrzahl dieser Mädchen hat doch kein eigenes Absteigequartier, sondern ist auf die Unternehmungslust ihres Begleiters angewiesen. Und dann ist der Grundsatz des »tout exept ça«, hier außerordentlich verbreitet. Es ist also mehr Flirt als Geschlechtsverkehr und gewöhnlich überhaupt keine Prostitution, weil der Erwerb nur selten eine Rolle spielt und die Hauptsache die gesuchte Ungebundenheit des Verkehrs ist.

Es wäre jetzt noch einiges über die Homosexuellen in Berlin zu sagen. Die homosexuelle männliche Prostitution ist in Berlin eine Erscheinung des öffentlichen Lebens. Der Hauptstrich der Homosexuellen ist die Tiergartenstraße und die den Tiergarten umgrenzenden übrigen Straßen. Es kommt ferner als Hauptanknüpfungspunkt die Rotunde in Betracht, vor deren Besuch man die Homosexuellen nur ebenso warnen kann wie die Heterosexuellen, denn mit dem dort versammelten Erpressergesindel ist nicht gut Kirschen essen. Was sich dort tut, entzieht sich einer eingehenden Beschreibung. Es geschieht dort eben in brutaler Form alles, was in homosexuellen Kreisen in ästhetischem Gewande getrieben wird und was nach dem Strafgesetz verboten ist. Die streng homosexuellen Lokale, d. h. diejenigen, in denen nur Homosexuelle verkehren, sind in Berlin nicht allzu zahlreich. Das bekannteste liegt wohl in einer der Querstraßen der südlichen Friedrichstraße. Doch sind auch in verschiedenen Cafés der Potsdamerstraße die Homosexuellen in der Mehrzahl. Was sich auf der Straße und in den übrigen Lokalen anspinnt, sagt über die Bedeutung der Homosexualität für das Geschlechtsleben in Berlin genug. Auch hier dominiert eben genau so der Warencharakter und der Straßenbetrieb.

Die weibliche homosexuelle Prostitution meidet dagegen die Öffentlichkeit. Es gibt nur wenige Bars, in denen sich die sogenannten schwulen Weiber treffen, und auf der Straße kann man von einem eigentlichen Handel durchaus nichts merken. Die weibliche homosexuelle Prostitution existiert nur für die begüterten Kreise, sie wird dort als Masseuse eingeführt, unter allen möglichen Deckmäntelchen. Jedenfalls vertraut sich selten eine Dame einer der flüchtigen Straßenbekanntschaften an.

Zur Zeit der Revolution war eine kurze Zeit lang das Polizeipräsidium von Aufrührern besetzt, damit auch die Station der Sittenpolizei. Es war also die ärztliche Untersuchung der Prostitution unmöglich gemacht. Es ist nun sehr bezeichnend, daß sich über 80 % freiwillig zur Kontrolle einfanden, als im Polizeipräsidium wiederum Ordnung herrschte. Ein Zeichen, daß die professionellen Prostituierten die Besichtigung nicht als eine so schwere Vergewaltigung betrachten, wie die Sexualreformer es mit Vorliebe hinstellen.

Die Verhältnisse in Südost- und Osteuropa sind von Mitteleuropa wesentlich verschieden. Rumänien ist das einzige Land, in dem das Nachtleben einen westeuropäischen Anstrich besitzt. Aber dieser ist nur eine dünne Übertünchung.

Bukarest ist eine der lustigsten und belebtesten Städte Europas, ein wahrhaftes Klein-Paris, nur nicht mit der Tradition der Jahrhunderte belastet, eine aufstrebende, verdorbene Stadt, die Tage und Nächte feiert. Für Geld bekommt man in Bukarest alles. Die ersten Hotels sind in der wesentlichen Frage kaum von Bordellen unterschieden. Die eigentlichen Bordelle sind im Stile von Animierkneipen; Mädchen, Zigeunerinnen, Bulgarinnen, Griechinnen tanzen zwischen den Gästen. Die Mädchen sind sehr bescheiden gegenüber dem, der die Verhältnisse kennt, aber den Fremden suchen sie auszubeuten. Sie haben jenen hinterhältigen Charakter, dessen Freundlichkeit nur das Maß von Hinterlist bekundet. Auch die Straßenprostitution blüht in Bukarest bis in die frühen Morgenstunden, besonders auf den Hauptstraßen, dem Boulevard Elisabeta und der Calea Victorei. Bukarest, das sein Vergnügungsleben ganz den französischen Vorbildern angepaßt, kennt die Mannigfaltigkeit der französischen Demimonde und kennt sogar die vornehme Kokotte, deren Wagen auf dem Nachmittagskorso niemals fehlen.

Nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie haben die neugeborenen Staaten sich eifrigst bemüht, den überkommenen Verwaltungsapparat zu zertrümmern und unter dem Schlagwort der Entwienerung hat man in Südslawien, Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei die staatliche und gesellschaftliche Ordnung zu revolutionieren gesucht. Nur an einem hat man nicht gerührt: dem Nachtleben. Das ist alles noch nach Wiener Muster geblieben. Das Vorherrschen des Absteigequartiers, die Duldung der Bordelle und die Nachsichtigkeit gegen die geheime Prostitution.

In Prag konzentriert sich die niedere Prostitution um den Massarykbahnhof (früher Staatsbahnhof), in den Straßen, die von dort zur Moldau führen, liegen die billigsten Absteigequartiere, wo man im Frieden für 20 Heller einkehren konnte. Je mehr man den Graben herunter nach dem Wenzelplatz kommt, um so mehr verbessert sich die Halbwelt, und man lernt allmählich kennen, daß das Prager Mädchen einen eigenen Schick, etwas Pariserisches besitzt. Seitdem der tschechische Staat in das republikanisch-demokratische Fahrwasser eingelenkt ist, kennt er auch humane Bestrebungen gegenüber der Dirne. Man folgt dem Rezept anderer bürgerlicher Staaten, und eine der ersten Taten des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Tusar war die Schließung aller Freudenhäuser zum 15. September 1919. Es wäre der humanen Regierung nur noch die Festsetzung eines Minimalpreises zu empfehlen, falls der Regierung bekannt ist, daß in der Altstadt Preise von drei bis fünf Kronen keine Seltenheit sind.

In Wien hat man gewiß eine nicht minder freiheitliche Regierung, aber man behandelt dort die Lösung der Prostitutionsfrage mit der alten Wiener Gemütlichkeit, d.# h. man hat einstweilen gar nichts getan. In Wien hat sich eigentlich seit dem berüchtigten Kuppeleiprozeß Riehl, der zu einer Verschärfung der sittenpolizeilichen Kontrolle führte, trotz Krieg und Revolution nichts geändert. Unter der Maske eines Kleidersalons betrieb die mehrmals der Kuppelei angeklagte Regine Riehl unter den Augen und unter Mitwirkung der zur Aufsicht bestimmten Sittenpolizei ein Bordell, dessen Betrieb für eine gewisse Sorte geheimer Bordells allerdings recht charakteristisch ist, weswegen ich die Zustände, die dort herrschten, hier etwas genauer darstellen möchte: Madame Riehl brachte es fertig, zirka 20 Mädchen einfach gefangen zu halten, ohne daß es für die Prostituierten eine Möglichkeit des Entrinnens gab. Nach den nächtlichen Orgien wurden alle Mädchen in ihre Schlafgemächer gesperrt, die kaum zehn Kubikmeter Luft für die Person enthielten, und wo acht Mädchen in vier Betten schliefen. Die Fenster waren mit Vorlegeschlössern von außen verschlossen, so daß sie nicht geöffnet werden konnten. Mit der Polizei stand sich Frau Riehl so gut, daß alle Beamten reinen Mund hielten. Das Essen soll elend gewesen sein, doch allen Widerstand wußte die edle Kupplerin mit der Hundepeitsche auszutreiben. Ein unbescholtenes Mädchen wurde von der Portierfrau ins Haus gelockt und 14 Tage lang gefangen gehalten, bis sie eines Nachts gewaltsam an einen Herrn gebracht wurde. Der Salon Riehl hatte einen gestaffelten Tarif. Die Polizei zahlte überhaupt nichts. Steuerbeamte zahlten einen Gulden, Italiener (Schlepper, die andere Gäste mitbrachten) zwei Gulden, Ärzte des allgemeinen Krankenhauses drei Gulden, Stammgäste fünf Gulden, Gelegenheitsgäste 10 bis 20 Gulden. Frau Riehl hatte eine jährliche Einnahme von 35 000 Gulden. Die Polizei benahm sich ihr gegenüber so kulant, daß der Verteidiger der Riehl behaupten konnte, Frau Riehl sei durch zehn Jahre von der Polizei unbeanstandet gewesen und sei also zu der Annahme berechtigt, daß ihr behördlich konzessionierter Betrieb allen Anforderungen genüge. Auch im Krankenhaus blieb Frau Riehls Goldstrom nicht wirkungslos. Den Mädchen wurde nicht gestattet das Haus allein zu verlassen; man sagte ihnen, Frau Riehl hätte sie gebracht, und nur Frau Riehl dürfte sie wieder abholen, und Frau Riehl packte sie dann in einen geschlossenen Wagen, so daß ein Entrinnen unmöglich war. Freiheit gab es erst, wenn ein Geschöpf, das der Riehl jahrelang gedient hatte, auf die Straße gesetzt wurde, weil ihr Körper völlig verkommen war. Der Redakteur Emil Bader vom Wiener Extrablatt, der diese Zustände aufdeckte, wandte sich zunächst an die Polizei, um eine Verfolgung durchzusetzen; aber die Madame Riehl stand sich mit allen in Betracht kommenden Instanzen so ausgezeichnet, daß ein Einschreiten rundweg abgelehnt wurde. Erst als Bader in seinem Blatte die Zustände publizierte, ließ sich nichts mehr totschweigen.

Die ungeheure Korruption, die der ganze Prozeß aufdeckte, wirkte natürlich reinigend auf die Wiener Zustände. Es wurde tatsächlich bald darauf eine neue Reglementierung vorgenommen, die am 17. Juni 1907 noch modifiziert und ergänzt wurde. Danach wird die zwangsweise Stellung unter Kontrolle als unzulässig erklärt. Für die Kontrolle ist der Grundsatz maßgebend, daß sie eine sanitäre Maßnahme darstellt und nicht den Charakter einer behördlichen Lizenz zur Betreibung der Unzucht einschließe. Die unter Kontrolle stehenden Prostituierten sollen nicht strenger behandelt werden als die geheimen, und vor allem sollen Exzesse strenger bestraft werden als bloße Ordnungswidrigkeiten. Um die Kontrolle auf möglichst viele Prostituierte auszudehnen, hat man ähnlich wie in Budapest auch die diskrete Kontrolle geschaffen. Diese wird nur großjährigen Prostituierten gegenüber unter drei Bedingungen in Anwendung gebracht: »daß die Prostituierte eine eigene, wenn auch nicht eine Jahreswohnung inne hat, die sie nicht mit anderen Prostituierten teilt, daß sie sich freiwillig den regelmäßigen polizeiärztlichen Untersuchungen unterwirft und auf die Ausübung jedes Gassenstrichs Verzicht leistet. Dafür wird ihr die Geheimhaltung der behördlichen Überwachung zugesagt.

Untersagt wird natürlich auch der Prostitution in Wien das Betreten von Lokalen und Hauptpromenaden und Verkehrsstraßen sowie jedes auffällige Benehmen. Trotzdem ist die Zahl der geheimen Prostituierten in den letzten Jahren immer gewachsen, auch noch nach dem 1. Oktober 1907, wo die neue Polizeiverordnung in Kraft trat. In den Jahren 1900 bis 1905 war die Zahl der unter Kontrolle stehenden Dirnen von 2500 auf 2200 gesunken. 10 % unter Kontrolle stehender Mädchen gehörten der diskreten Prostitution an. Das weitere Überhandnehmen der geheimen Prostitution führte 1912 zu einer neuen Reglementierung, einer Reform der Sitte. Direkt verboten blieb das gemeinsame Herumtreiben mehrerer Dirnen und das Aufenthaltgewähren an Zuhälter. Sonst sollen für sie nur die gleichen Anstandsregeln gelten wie für jedermann. Das bisherige Verbot für Prostituierte, sich vor Einbruch der Dunkelheit zu zeigen, fällt. Nur ganz ausnahmsweise können für Häuser, in denen mehrere Dirnen wohnen, Sondervorschriften erlassen werden, die sich aber aller kleinlichen und ins einzelne gehenden Beschränkungen zu enthalten haben. Bei erstmaliger Übertretung soll die Prostituierte nicht bestraft werden. Die Beziehungen der Prostituierten zu ihren Wohnungsgebern müssen sich auf das Mietsverhältnis beschränken, die Wohnungsgeber dürfen keinen Einfluß auf die Ausübung des Unzuchtsgewerbes nehmen. Eine weitergehende Verhinderung der schandvollen Ausbeutung der Dirne durch die Wohnungsgeber ist im Entwurf zum Strafgesetz geplant. Für Minderjährige soll an Stelle der Kontrolle ein nicht bureaukratisches Fürsorgeverfahren treten: auch soll die Verhängung der Kontrolle nur unter besonderen Bedingungen zulässig sein und familiäre Rücksichten nicht außer Acht lassen. Die Errichtung von Bordellen ist untersagt, die noch in Wien bestehenden wenigen Bordelle sollen streng beaufsichtigt werden.

Dies alles ist dank der Wiener Gemütlichkeit beim alten geblieben. Dagegen hat die Wiener Gemütlichkeit nicht verhindert, daß die Dirnenpreise stark in die Höhe schnellten. Darum kann man auch hier nicht die Verwahrlosung der Dirnen beobachten, die das Berliner Nachtleben so trostlos macht. Die zahllosen Prostituierten, die nach wie vor die Kärthner- und Rothenturm-Straße bevölkern, sind gut gekleidet und gut genährt und könnten sich in jeder Siege feiernden Hauptstadt sehen lassen.

Dabei haben sie mit ihrem jetzigen Preis von 30 bis 40 Kronen ihre Einnahme zwar absolut, doch nicht im Verhältnis zur Wiener Teuerung verbessert. Die Absteigequartiere dieser Straßenprostitution liegen immer noch von Volkswehr und Polizei unbehelligt im II. und IV. Bezirk, während die Hotels der inneren Stadt sich ihre Gäste auswählen.

Die bessere Halbwelt sammelt sich elegant und gepflegt in den wenigen Bars der inneren Stadt, und die Wiener Herren haben es schwer, die Konkurrenz der zahlungskräftigen Ausländer zu ertragen.

Das bewegteste Schicksal hat von Großstädten der ehemaligen Monarchie seit dem Kriege Budapest durchgemacht, und hier hat auch die Prostitution eine bewegte Geschichte.

Budapest war die echte Bordellstadt, und das Bordellwesen hatte hier eine geschäftsmäßige Organisation gefunden wie nirgends sonst. Es gab in Budapest sehr billige und sehr teure und gute Bordelle, in denen besonders noch junge Mädchen, vierzehn- bis fünfzehnjährige Zigeunerinnen, zu haben waren. Die Organisation eines derartigen vornehmen Hauses stellte wirklich den Begriff der Liebe auf den Kopf.

In diesen Bordells ist eine Art stiller Portier, in dem die Photographien der unbekleideten Mädchen statt der Namen stehen, die Bilder der »besetzten« Mädchen sind mit einer Klappe verdeckt. Man kann sich nun nach der Photographie das Mädchen aussuchen, das man haben will. Unter dem Bilde befindet sich ein elektrischer Knopf. Man klingelt, das Bild wird durch eine Klappe verdeckt und das Mädchen erscheint. Gesehen von mir anno 1912. in einem Zehngulden-Bordell in einer Querstraße der Andrassy-ut.

Der Hauptstrich war in Budapest die Andrassy-ut, wo die zahllosen Cafés liegen. Das Budapester Nachtleben hat sich stets bis in die frühen Morgenstunden ausgedehnt, es war von einer schillernden Lebhaftigkeit, die sich mit jeder Weltstadt messen konnte und übertraf durch die Grazie der Ungarinnen die meisten Großstädte an Reiz. Auch während des Krieges war es unmöglich, das Budapester Nachtleben zu unterbinden. Im Mai 1916 machte man einen schwachen Versuch, auch in der Donaustadt eine Polizeistunde einzuführen, aber dieses Unternehmen scheiterte kläglich, und bald ging der Betrieb auch öffentlich wieder die ganze Nacht.

Die Budapester Sittenpolizei liefert den Bordelldirnen und den gewöhnlichen Straßendirnen ein schwarzes Kontrollbuch, in dem sich außer den Maßregeln zur Verhütung ansteckender Geschlechtskrankheiten die von ihnen einzuhaltenden Vorschriften stehen. Die Dirne darf nur in einer solchen Wohnung wohnen, die ihr von der Polizei gestattet ist. Der Mietszins einschließlich Aufwartung und Bettwäsche wird von der Polizei bestimmt. Die Kündigungsfrist der Dirne beträgt drei Tage. Wenn die Dirne in der Miete rückständig ist, darf der Vermieter auf ihre Sachen kein Retentionsrecht ausüben. Die Dirnen dürfen in ihrer Wohnung Männern keine ständige Wohnung geben. Ihre Dienstmädchen dürfen nicht unter 40 Jahre alt sein. Es folgen die Angaben über das Aufführen auf den Straßen und an den Fenstern, die den Berliner durchaus entsprechen. In dem Reglement für die Bordelldirnen wird bestimmt, daß mindestens ein Viertel der Einnahmen der Dirne zu verbleiben hat, nachdem Wohnung, Heizung, Kleidung und Bettwäsche abgezogen sind. Das Abrechnungsbuch ist am Anfange jedes Monats der Oberstadthauptmannschaft vorzulegen, und der der Dirne zustehende Teil ist ihr in bar auszuzahlen. Beim Auszug der Dirne aus dem Bordell darf ihr unter keinen Umständen eine der ihr gehörigen Sachen zurückgehalten werden. Die Dirne darf selbständig und allein mindestens drei Stunden täglich spazieren gehen und außerdem in jeder Woche einen halben Tag außerhalb des Bordells verweilen. Die Dirne muß mindestens die Hälfte ihres Bordellaufenthalts im Hause selbst verbringen. Jede Dirne darf an den Feiertagen ihrer Konfessionen und überhaupt bei jeder sonstigen Gelegenheit den Gottesdienst besuchen und darf von der Bordellwirtin nicht daran gehindert werden. Die Bordellwirtin muß der Dirne einen verschließbaren Schrank zur Verfügung stellen, der ohne Wissen der Dirne nicht geöffnet werden darf.

Daneben besteht noch ein besonderes Reglement, die sogenannte diskrete Kontrolle für die Dirnen, die sich freiwillig unter Kontrolle gestellt haben und die in ihrer Wohnungswahl weniger beschränkt sind. Im September 1908 wurden alle Dirnen aufgefordert sich einschreiben zu lassen, und sie hatten ihren Antrag auf folgendem Formular zu stellen: »Die Endunterzeichnete bleibt trotz des vorgeschriebenen Vorhalts bei ihrem Entschluß, daß sie sich unter Kontrolle der Sittenpolizei stellen will, und versichert, daß sie dieses aus eigenem Antriebe und ohne Einwirkung dritter Personen tut.« Diese Prostituierten bekommen ein grünes Kontrollbuch.

An diesen verwaltungstechnischen Einrichtungen hat die Rätediktatur in Ungarn nichts geändert, aber sie hat für einige Zeit einen völlig veränderten Geisteszustand geschaffen, der über die Zusammenhänge von Sexualität und Wirtschaft allerdings sehr aufschlußreich ist.

Die soziale Revolution nahm dem ungarischen Manne mit einem Schlage die wirtschaftlichen Mittel, durch die er eine Frau zur Prostituierung zwingen konnte und stellte so das alte Wahlverhältnis zwischen den Geschlechtern nach Jahrtausenden als Gesamterscheinung wieder her. Die Frau wählte den Mann, der ihr Lust zu geben vermochte, und der Mann mußte um die Frau werben, um sich sexuell zu befriedigen. Scherzend sprach man in den Herrenklubs davon, daß ein Klub der Onanisten begründet werden müsse. Sofort in den ersten Tagen der Rätediktatur wurden in den früher vermögenden Kreisen die meisten Verlobungen gelöst. Die zarten Bande hielten die starke wirtschaftliche Belastungsprobe nicht aus. Nach den Verlobungen kam die Reihe an die Ehen. Die Räteregierung erließ ein neues Ehegesetz, welche Scheidung und Eheschließung in gleicher Weise erleichterte. Zur Eheschließung war nur die Eintragung beim Standesamte, die sofort ohne Formalitäten erfolgte, notwendig, zur Ehescheidung eine gleich schmerzlose Registrierung, wenn beide Teile zustimmten. Sonst mußte der Mann, wenn er Trennung wünschte, den Unterhalt von Frau und Kindern übernehmen, wollte die Frau ihre Freiheit zurück, so mußte sie das Joch der Kinderfürsorge tragen. Doch sollte die materielle Sorge für die Kinder bei der endgültigen Regelung der Staat übernehmen. Die Kinder gehören grundsätzlich zur Mutter (Mutterrecht). Theoretisch war es also möglich, sich sechsmal wöchentlich scheiden zu lassen und wiederzuverheiraten, da das Standesamt nur Sonntags geschlossen war. Doch lehrt die Statistik, daß der Rekord an Eheschließungsgeschwindigkeit von einem Hotelportier geschlagen wurde, der sich in einer Woche mit drei verschiedenen Frauen verheiratete. Die Statistik lehrt auch, daß die Wiederverheiratung besonders häufig war. Ein Pärchen heiratete und schied sich in einem Monat sechsmal, davon zweimal an einem Tage.

Derartige Vorkommnisse und Bestimmungen, die sie ermöglichen, sind natürlich aus dem Wirrwarr der Revolution geborene Entgleisungen. Aber sie zeigen doch die Richtlinie, daß der Kommunismus die Herrschaft der Frau nach sich zieht, und daß er in seinen letzten Folgerungen Zustände schafft, die den gynäkokratischen ähnlich sind, welche eine Folge ganz anders gearteter wirtschaftlicher Verhältnisse waren.

Die veränderten sexuellen Bedingungen gestalteten auch die moralischen und gesellschaftlichen Phänomene neu. In Ungarn hatte die Virginität des Mädchens praktisch eine größere Verbreitung als sonst in Mitteleuropa. Die Forderung, daß ein Mädchen unberührt in die Ehe tritt, ist ein Verlangen der extremen Paternität, und kann darum die Zeit der Männerherrschaft nicht überleben. In gesellschaftlichen Zuständen, wo Ehe und Scheidung so dicht aufeinander folgen, kann sie ohnehin nur eine geringe praktische Bedeutung haben. Denn 90 Prozent der Männer heiraten schließlich eine geschiedene Frau. Aber außerdem werden die moralischen Gesetze unter dem Kommunismus von der Frau diktiert. Und sie hat nur das Interesse selbst und souverän über ihre Hingabe zu entscheiden. Und tatsächlich haben sehr viele Frauen als Preis die Eheschließung verlangt. Aber gerade in den begüterten Kreisen, in denen die politische Opposition gegen die Regierung ihr Zentrum hatte, gewann das freie Verhältnis täglich an Boden. Es ist mir von vielen ungarischen Freunden erzählt, daß die Entjungferungszeit für die Demivierges jetzt begann. Die Unberührtheit der Heiratskandidatin, die im kapitalistischen Zeitalter ihren ziffernmäßigen Wert besitzt, verliert unter dem Kommunismus für die Frau an Bedeutung, weil die Frau jetzt diejenige ist, die wählt.

Dieser sexuelle Zustand muß letzten Endes die Ausschaltung der Prostitution bedeuten, und tatsächlich ist unmittelbar nach Verwirklichung der kommunistischen Ideen sowohl das Niveau wie die Zahl der Dirnen in Ungarn stark zurückgegangen. Die große Kokotte, die früher in Budapest immerhin eine gewisse Rolle spielte, die man in ihrem eleganten Kabriolett auf dem Nachmittagskorso der Andrassy-ut zu sehen pflegte, verschwand mit einem Schlage. Welcher Ungar konnte damals noch eine elegante Frau unterhalten? Er mußte zusehen, wie die Wohnung seiner Geliebten zu einem Zwangsquartier für kinderreiche Arbeiterfamilien wurde und wie sich die Nymphe von früher einem mehr oder weniger proletarischen Beruf zuwandte.

Die Straßenprostitution wurde durch die Polizeiverordnungen um den besten Teil ihrer Einnahme gebracht. Die Sperrstunde um 11 Uhr, die nachts alle nicht besonders legitimierten Personen von der Straße vertrieb, zwang die Dirnen, ihre Hauptarbeitszeit auf den Tag zu verlegen. Und von mittags um 12 Uhr an promenierten in der Rakoczi-ut die Dirnen niederster Sorte, die mit jedem Beliebigen für eine Viertelstunde die Absteigequartiere der Nebenstraßen besuchten. Das Gebaren dieser Frauen, die am hellen Tage mit hochgehobenen Röcken in den Rinnstein zu urinieren pflegen, kann einen westeuropäisch erzogenen Menschen kaum verlocken, seine galanten Balkanabenteuer auszupacken.

Sehr interessant sind die Preisschwankungen zur Bolschewistenzeit. Aus der Verminderung der Nachfrage infolge der zahlreichen freien Verhältnisse folgte ein Überangebot und notwendiges Herabsinken der Preise. Man zahlte damals – vier Wochen nach der Errichtung der Rätediktatur, im April und Mai 1919 – nur noch vier Kronen für den Koitus. Aber im Mai trat bereits der Umschwung ein.

Man kann nicht leugnen, daß der Kommunismus die Neigung der Frau zur Prostituierung vermindert. Da die männliche Nachfrage ein konstanter Faktor ist, bleibt diese Stellung der Frau entscheidend für den Umfang des Dirnentums. Die Frau findet andere Existenzmöglichkeiten und sie vergewaltigt nicht mehr ihre Natur. Insofern ist der Kommunismus die große Erlösung für die Frau.

Die Budapester Dirnen verheirateten sich oder sie fingen an zu arbeiten, und in zwei Wochen verminderte sich ihre Zahl auf einen verschwindenden Bruchteil; mit dem Erfolge, daß die Preise auf ein Vielfaches stiegen. Im Anfang Juni war in Budapest unter 30 Kronen keine Dirne mehr zu haben, und 50 bis 100 Kronen konnten als Durchschnittspreis gelten. Dabei waren die Absteigequartiere, von denen man überdies die meisten geschlossen hatte, nur schwach besetzt. Die großen und eleganten Bordelle waren schon zu Beginn der Bolschewistenherrschaft gesperrt worden und zu Wohnzwecken mit Beschlag belegt. Die Auflehnung der Männer gegen diesen prostitutionslosen Zustand hat zweifellos auch an verschiedenen Stellen Rußlands zu jenen schweren Entgleisungen geführt, welche unter dem Titel »Sozialisierung der Frauen« zu einer gefährlichen Vergewaltigung der weiblichen Psychologie führte. Wie die Umstellung der kapitalistischen Wirtschaft in die kommunistische nicht ohne die schwersten Störungen und schärfsten Rückschläge geschehen kann, so muß auch der Übergang der Paternität zum Mutterrecht die allgemeinen sexuellen und psychologischen Zusammenhänge des Daseins stören.

Auch bei der Zurückbildung in die kapitalistische Wirtschaft hat sich nach dem Sturz der ungarischen Räteregierung parallel ein Verschwinden der ersten Anfänge der Weiberherrschaft vollzogen. Zwar konnte infolge der Einschränkung durch die rumänische Besetzung, die allgemeine Not und den Belagerungszustand die Pracht des Budapester Dirnenlebens noch nicht wieder erblühen, und die traurigen Wirtschaftsaussichten des Landes machen eine Wiederherstellung des Alten auch nicht wahrscheinlich.

Noch stärkere und dauerndere Wurzeln hat der Kommunismus in Rußland geschlagen. Was in Ungarn sich fix und anschaulich wie ein Film abrollte, war in Rußland Gegenstand schwerer Kämpfe. Wie in Rußland die bürgerliche Gesellschaft nicht vor der Proletarierdiktatur kapitulierte, sondern sich zur Wehr setzte, so suchten auch die russischen Männer ihren Platz als Herren des Geschlechtslebens zu behaupten. Und aus dieser Opposition gegen die mit dem Kommunismus unzertrennlich verknüpfte Weiberherrschaft sind die gelegentlichen Entgleisungen der Gesetzgebung auf diesem Gebiete zu verstehen. Rußland ist das Land der Attentäter-Frauen und der politischen Exaltierten, aber auch der weiblichen Beamtenuniformen. Die Staatsmacht des Kommunismus hat nun diesem Rußland eine neue Idee von der Frau gegeben, die besagt, daß die Frau, die für die Revolution mitgekämpft hat, aus der Hörigkeit in allen ihren Formen befreit sein muß.

Ein Charakteristikum hat Rußland bereits immer gezeigt, das für die Entwicklung der Weiberherrschaft bedeutungsvoll ist, die frühzeitige Eheschließung. Alfons Paquet weist in seinem Buche »Im kommunistischen Rußland« darauf hin, daß das durchschnittliche Heiratsalter eines Volkes am Durchschnittsalter der unehelichen Mütter ermittelt wird, und schreibt weiter: »In Mitteleuropa liegt das Durchschnittsalter zwischen dem 26. und dem 27. Jahr, in Rußland beim einundzwanzigsten. In Rußland ist die Mehrzahl der jugendlichen Arbeiter und der Rekruten bereits verheiratet. Die Hälfte der Männer, zwei Drittel der Frauen, heiraten in Rußland vor der Volljährigkeit. Das russische Leben und die rechtgläubige Kirche begünstigen das frühe Heiraten. Die Kinder jugendlicher Eltern gelangen auch als Erwachsene über ein gewisses Stadium der geistigen Entwicklung nicht hinaus. Phantasie, Frische, Ursprünglichkeit, rohe Kraft und Begabung haben in solchen Menschen das Übergewicht über jene Eigenschaften des reifen Verstandes, die man Besonnenheit, Ausdauer und Fähigkeit für das Haushalten nennt. Die Psyche des östlichen Menschen wurzelt in der Biologie des östlichen Lebens.

»Es ist, als ob kein Volk so sehr wie das russische Volk die Not empfände, seine Seele zu festigen, an eine Verbesserung des Menschengeschlechts zu denken. Vielleicht wurzeln in diesem Boden die grotesken und erschreckenden Dekrete des Kronstädter Rates der Matrosen, Arbeiter und Bauern ›über die Aufhebung des privaten Besitzes an der Frau‹, die nichts als die Konsequenzen des Kommunismus sind. Kein Mensch ist kommunistischer als der Matrose, dieser fürchterliche Mönch im Banne des unendlichen Wassers und der härtesten körperlichen Arbeit. Andere Räte, scheinbar vor allem solche, denen Matrosen angehören, haben dieses Dekret nachgeahmt. So erklärte der freie anarchistische Bund in Saratow: Die soziale Ungleichheit und die gesetzlichen Ehen, die bisher für das Bürgertum üblich waren, dienten dem letzteren als das Mittel, sich alle besten Exemplare des schönen Geschlechtes allein zu sichern, wodurch die regelrechte Fortpflanzung des menschlichen Geschlechts gestört wurde. Der Klub dekretierte am 28. Februar 1918 das folgende:

 

§ 1. Vom 1. Mai 1918 ab wird der Privatbesitz an Frauen, die ein Alter von 17-32 Jahren erreicht haben, abgeändert.

Anmerkung. Das Alter einer Frau wird auf Grund des Taufscheines, des Passes, des Aussehens oder durch Zeugenaussagen bestimmt.

§ 2. Alle Frauen werden dem Privatbesitz entzogen und für Gemeineigentum des Volkes erklärt.

§ 3. Die Wirkung dieses Dekretes erstreckt sich nicht auf solche Frauen, die mehr als fünf Kinder haben.

§ 5. Die Verteilung der offiziell enteigneten Frauen ist Aufgabe des Saratower Anarchistenbundes und beginnt nach drei Tagen, vom Erlaß dieses Dekretes an gerechnet. Alle Frauen, welche auf Grund dieser Bestimmung dem Volke gehören, sind verpflichtet, sich bei der genannten Adresse zu melden und daselbst alle von ihnen geforderten Auskünfte zu geben.

§ 6. Die Aufsicht über die Durchführung dieses Dekretes wird, bis zur Bildung der damit beauftragten Wohnungsausschüsse, den Bürgern anvertraut.

Anmerkung. Jeder Bürger, der eine Frau bemerkt, die sich diesem Beschluß nicht unterwirft, ist verpflichtet, dem Anarchistenbund davon Mitteilung zu machen, und zwar unter Angabe des Vor-, Familien- und Vaternamens der Streikerin.

§ 8. Jeder Mann, der auf ein Exemplar des Volksgutes Anspruch erhebt, muß eine Bescheinigung von seiten des Fabrikkomitees, des Gewerkverbandes oder des Bauern- und Soldatenrates über seine Zugehörigkeit zur ›Arbeitsfamilie‹ vorweisen.

§ 9. Jedes Mitglied der ›Arbeitsfamilie‹ ist verpflichtet, 9 Prozent seiner Einkünfte in den Fonds des ›Volksgeschlechts‹ einzuzahlen.

Anmerkung. Diese Abzüge werden von den Fabrikkomitees der Volksherrschaft vollzogen, welche verpflichtet sind, dieselben unter Namenslisten an die Volksbank, das Rentamt oder dergleichen Anstalten auf den Fond des ›Volksgeschlechts‹ einzutragen.

§ 10. Männer, die keiner ›Arbeitsfamilie‹ angehören, haben Anspruch auf die Rechte des Proletariats an der Benutzung des Volksgutes nur gegen Einzahlung von 100 Rubel monatlich an den Fond des ›Volksgeschlechts‹.

§ 11. Die örtliche Filiale der Volksbank sowie auch die Sparkassen sind verpflichtet, die Annahme von Einzahlungen an den Fond des ›Volksgeschlechts‹ zu eröffnen.

§ 12. Alle Frauen, die gemäß diesem Dekret Volksgut geworden sind, erhalten aus dem Fond des ›Volksgeschlechts‹ eine Unterstützung von monatlich 232 Rubel.

§ 13. Alle Frauen sind auf 3-4 Monate vor und 1 Monat nach ihrer Niederkunft von ihren direkten Pflichten befreit.

§ 14. Neugeborene müssen, sobald sie 1 Monat alt sind, in die Anstalt ›Volkskrippe‹ gebracht werden, wo sie bis zum 17. Lebensjahr auf Kosten des ›Volksgeschlechts‹ erzogen und unterrichtet werden.

§ 16. Verbreitung von Geschlechtskrankheiten wird der strengsten Verantwortung und Bestrafung unterzogen.

§ 17. Frauen, die ihre Gesundheit verloren haben, können beim Rate des ›Volksgeschlechts‹ um Unterstützung oder Pension nachkommen.

§ 18. Mit der Ausarbeitung zeitweiliger technischer Maßregeln sowie der Durchführung des Dekretes bis zur Organisation eines Rates des ›Volksgeschlechts‹ ist der Anarchistenbund beauftragt.

§ 19. Personen, welche die Durchführung des Dekretes ablehnen, werden für Streiker gegen den Staat, d. h. für Feinde des Volkseigentums und Konteranarchisten erklärt und der strengsten Verantwortung unterzogen.

 

Ich habe aus Gründen des Geschmacks von diesem Dekret die Paragraphen 4, 7 und 15 weggelassen. Die ersteren handeln von der Reihenfolge, der Paragraph 15 enthält eine hygienische Kontrollvorschrift.«

Soweit die Mitteilungen Paquets. Der Entwurf des Saratower Anarchistenbundes stellt im Lichte meiner Theorie besehen den Versuch dar, die Weiberknechtschaft in ein neues Wirtschaftssystem hinüberzuretten, in das sie nicht mehr hineinpaßt. Sie ist undurchführbar, weil sie den psychischen Wunschvorstellungen von Mann und Frau in gleicher Weise widerspricht. Es ist interessant genug, daß die Versuche besonders von Matrosen unternommen wurden, bei denen naturgemäß die Prostituierung der Frau eine kaum unterdrückbare Gewohnheit war.

Diese vereinzelten Versuche haben die Entwicklung nicht zu hemmen vermocht, die neben den Revolutionskämpfen in Rußland den gleichen Weg ging, den sie in der kurzen kommunistischen Zeit in Ungarn durchmachte. Auch hier beobachten wir das allmähliche Aussterben der Prostitution, die heute in Moskau nur noch in der einen Geschäftsstraße sich versammelt, welche die einzigen nicht sozialisierten Läden beherbergt.

In Moskau lagen die Bordelle früher im Zentrum der Stadt, in den sogenannten heiligen Bergen. 1910 wurden sie jedoch an die äußerste Peripherie verlegt. Die Verlegung, die schon lange Jahre geplant war, zog sich so überaus lange hin, weil die Hausbesitzer sich widersetzten, und tatsächlich haben sich die Häuser trotz der Umbenennung der Straßen doch sehr schwer wieder vermieten lassen. Im Innern der Stadt ließ sich jedoch noch ganz gut leben. Die Polizei, deren Hauptinteressensphäre bis zur Revolution das politische Gebiet war, wollte dem Volke den sexuellen Genuß möglichst wenig beschneiden. Es ist bekannt, daß die politische Revolution des Jahres 1905 nach ihrer Niederwerfung durch die Regierung in eine allgemeine sexuelle Umwertung überging, und die Regierung trug sicherlich Bedenken, dem freien Liebesleben, das auf dem politischen Gebiete die kostbare Frucht der Interessenlosigkeit zeitigt, besonders energisch entgegenzutreten. Die Besonderheit des Moskauer Nachtlebens waren die Absteigequartiere. Infolge der außerordentlichen Wohnungsnot der Stadt wohnten die Prostituierten meist zu primitiv, so daß ein besserer Mann ihnen niemals gefolgt wäre. Die Moskauer Prostituierten waren meist sehr jugendlich, fünfzehn bis achtzehn Jahre ist das Durchschnittsalter, und sie waren meist bei ihrer Ankunft in der Stadt einer Wirtin in die Hände gefallen, die sie ausbeutete, obwohl ihnen nicht einmal eine ausreichende Wohnung zur Verfügung stand. Es existierten in der Stadt ganze Straßen, wo fast nur Kupplerinnen wohnten, z. B. die Orushinygasse. Jede dieser Kupplerinnen hatte einen Salon, in dem sich die Dirnen abends einfanden. Die Preise waren hier ziemlich hoch und gingen bis zu 100 Rubel, von denen die Kupplerin, die die Nachsicht der Polizei zu bezahlen hatte, mindestens die Hälfte bekam.

Spezifisch russisch sind die Häuser des Wiedersehens, Absteigequartiere, die an den vornehmen Boulevards gelegen sind, in denen nur Pärchen absteigen dürfen und die keinen Paßzwang haben. Der Besuch dieser Häuser stellte die einzige Möglichkeit dar, in Rußland ohne Paß zu reisen. Es kam allerdings bisweilen zu polizeilichen Revisionen, bei denen jeder seine Personalien nachzuweisen hatte, wobei es nicht ohne Selbstmorde der dort angetroffenen »anständigen Damen« abging.

Das vornehmste Haus des Wiedersehens war die jetzt ebenfalls geschlossene Eremitage am Blumenboulevard, deren Zimmer 25 Rubel kosteten. Die billigen Häuser verlangten nur ein bis zwei Rubel. Einige dieser Häuser hatten als Spezialgebiet die Kinderprostitution. So bestand ein konzessioniertes Haus in einem vornehmen Viertel, das besonders von elf- bis dreizehnjährigen Mädchen besucht wurde, die, um unliebsames Aufsehen zu vermeiden, durch eine Hintertür allein das Hotel betraten.

Eine andere spezifisch russische Erscheinung war das gesetzlich konzessionierte Familienbad. Fast alle russischen Bäder haben außer den getrennten Zellen auch noch die sogenannten Familiennummern, die ausschließlich von Leuten benutzt werden, die nicht zu einer Familie gehören. Sie enthalten außer einem Auskleidezimmer den Baderaum mit Wanne und Dusche und meist noch einen Hitzraum. Der Preis für einstündige Benutzung schwankte zwischen 75 Kopeken und 10 Rubeln. Durchschnittlich betrug er 1 bis 1½ Rubel. Diese Doppelzellen dienten hauptsächlich der Prostitution, und auch hier war dem Gaste die Mitnahme zweier Frauen gestattet, die Badezeit dauerte bis Mitternacht, und von zehn Uhr morgens an standen die Mädchen vor der Tür und baten die Besucher mitkommen zu dürfen. Nötzel erzählt, daß ihn vor den pompösen Ssandunowskyschen Bädern oft acht- bis zwölfjährige Kinder angesprochen haben, und daß eins dieser Kinder auf die Frage, wo man sie denn hineinlassen würde, geantwortet habe: »In die Familienbäder, Sie können doch mein Vater sein.« Als ihn einmal ein fünfzehnjähriges Mädchen ansprach, lief ein Kind von neun Jahren hinzu und rief: »Sie werden doch nicht mit dieser alten Schachtel gehen.« Die Polizei schreitet grundsätzlich nicht ein. Ein anderes Absteigequartier sind die »Nummern«, womit man in Rußland jene Sorten Chambres garnies meint, in denen jeder durchaus für sich lebt. Die Nummern an den Boulevards dienen besonders der Prostitution und sind in ihrem Betriebe ganz wie Bordelle, allerdings werden Bekanntschaften auch häufig auf dem Strich gemacht.

Der Strich in Moskau erstreckte sich über einen großen Teil der Hauptverkehrsader und war fast den ganzen Tag besucht. Von zehn Uhr vormittags bis Mitternacht herrschte auf den Boulevards reges Leben. Nachmittags von vier bis sieben war der Hauptbetrieb in den Passagen der Kaufstadt, bei Anbruch der Dunkelheit erstreckte er sich wieder über die Boulevards, besonders in den Twerskoi Boulevards, zwischen dem Trubnajaplatz bis zur Nikitskipforte. Im Winter konzentrierte sich der Strich auf die hellerleuchtete Twerskaja. Besonders besucht war dann das Café Philippoff.

Der Mindestpreis der Moskauer Prostituierten war zwei Rubel, so daß der Verkehr unter drei bis vier Rubel hier kaum zu haben war. Daraus erklärte sich die sexuelle Fronde der unteren Kreise und der Studentenschaft. Auch die Bordelle waren in Rußland kaum billiger. Nötzel hat umfangreiche Umfragen unter den Prostituierten der Minsker und Moskauer Bordelle veranstaltet, und es hat sich herausgestellt, daß ein außerordentlich hoher Prozentsatz der Insassinnen sich aus vergewaltigten Mädchen zusammensetzt, was psychologisch durchaus nicht wunderbar ist.

Führt in diesen osteuropäischen Ländern der Weg zur Ausrottung der Prostitution durch den Kommunismus, der ihre wirtschaftlichen Voraussetzungen beseitigt, so wird auf der andern Seite in den Ländern der anglosächsischen Kultur ein bewußter Kampf gegen die Prostitution geführt, der hauptsächlich darauf hinausläuft, daß man ihren Kreis erweitert, die Grenzen zwischen Dirne und Frau verschiebt, und dadurch die schwersten Auswüchse des großstädtischen Dirnentums beseitigt.

Diese Maßnahmen lassen sich zielbewußt in Skandinavien beobachten.

Kopenhagen war bekanntlich vor einigen Jahren noch eine Bordellstadt par excellence, bis 1906 diese modernste europäische Regierung die Zustände vollkommen umgestaltete. Früher gab es besonders in Amager Schifferbordelle, in denen das Leben wirklich abschreckend gemein war. Sie waren so außerordentlich verrufen, daß sich Fremde kaum hineingetrauten. Sie werden auch jetzt noch bestehen, aber offiziell weiß man wenigstens nichts davon.

1906 hat nämlich die dänische Regierung die Prostitution abgeschafft. Seit 1906 gibt es kein Bordell mehr und keine Prostituierte, wenigstens auf dem Papier. Man hat den kühnen Versuch gemacht, zugleich Bordelle und Reglementierung fallen zu lassen und hat gesetzlich angeordnet, daß jedes Mädchen einen Beruf nachweisen muß. In der Zeit, in der das Gesetz in Kraft trat, war Berlin von dänischen Prostituierten überschwemmt; man hörte in den Nachtlokalen plötzlich Dänisch sprechen. In Kopenhagen war der eigentliche Typus der Prostituierten zunächst verschwunden. Immer noch sah man junge Mädchen von Kongens Nytorv nach dem Raadhusplads hin und her pendeln, aber es war nicht die Physiognomie der geschminkten, abgelebten Kokotte. Es waren mehr Verkäuferinnen und weibliche Angestellte, viele mit abgearbeiteten Händen, die sich hier noch einen Nebenerwerb suchten. Diese Physiognomie der Stadt bleibt bis 1911 bestehen, als ich 1912 wiederum nach Kopenhagen kam, waren die eigentlichen Prostituierten schon wieder bedeutend in der Mehrzahl. 1913 waren sie endlich in den späteren Nachtstunden auf dem Strich fast die einzigen. Die Nachsichtigkeit der Polizei gibt Kopenhagens Nachtleben noch eine besondere Nuance durch die Kinderprostitution. In den großen Tanzlokalen, besonders auch im Tivoli, laufen Mädchen zwischen zehn und dreizehn Jahren herum, die ziemlich wahllos mit jedem Manne mitgehen. Die Abschaffung der Bordellierung und Reglementierung gestaltete sich in Dänemark folgendermaßen. Bis zum Jahre 1905 gab es vom Staat eingerichtete Bordelle, in denen die Prostituierten zwangsweise kaserniert wurden. Die Mädchen waren völlig rechtlos und ganz der Willkür der Polizei preisgegeben. Die Mädchen hatten nicht einmal das Recht, an eine höhere Instanz zu appellieren. Im Anfange des Jahres 1905 ging dem Landsthing ein Gesetzentwurf zu, daß die Prostitution im Falle, daß sie die alleinige Erwerbsquelle ist, dem Vagabundengesetz unterworfen werden sollte. Die Sozialdemokratie trat zunächst gegen das Gesetz auf, weil sie darin eine Benachteiligung der armen Prostituierten zugunsten der bemittelten sah. Am 30. März 1905 wurde daraufhin das abgeänderte Gesetz betreffend die Abschaffung der Reglementierung angenommen, das hauptsächlich folgendes bestimmt: Die polizeiliche Reglementierung der gewerbsmäßigen Prostitution wird abgeschafft. Die Polizei ist berechtigt, gegen Personen, welche dieses Gewerbe ausüben, auf Grund des Vagabundengesetzes einzuschreiten. Nach vorausgegangener Ermahnung haben sie das Recht, die Prostituierten, die keine regelmäßige Arbeit und kein Auskommen nachweisen können, vor Gericht zu zitieren und ihnen aufzugeben, sich Arbeit zu verschaffen und eventuell ihnen solche nachzuweisen. Wenn sie nicht erscheinen oder die Anweisungen nicht befolgen, werden sie mit Zwangsarbeit bestraft. Der weitere Teil des Gesetzes beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Verbot der der Kuppelei, dem Schutz der Mädchen unter achtzehn Jahren, dem Verbot der Bordelle und der zwangsweisen Behandlung der Geschlechtskrankheiten.

Schade, daß sich in der Wirklichkeit alles so anders ausnimmt.

In Schweden und Norwegen sind die Prostitutionsverhältnisse wesentlich verschieden. Norwegen hat den rechtlichen Begriff der Prostitution schon in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts abgeschafft. Das heißt die Prostituierten werden nicht besonders eingetragen und nicht zwangsweise behandelt. Jede Frau kann tun und lassen, was sie will. Man muß zugeben, daß anläßlich dieser vollkommenen Freiheit die Ordnung, mit der sich in Kristiania und Bergen das Nachtleben abspielt, sehr anzuerkennen ist. In Kristiania promenieren die Dirnen nachts auf der Karl-Johanngade, der Hauptstraße der Stadt. Kristiania kennt nur die niedere Prostitution, die Preise schwanken zwischen drei und zehn Kronen; man sieht in Kristiania häufig, wie die Prostitution in den Toreingängen arbeitet. Wesentlich anders sind die Verhältnisse in Trondhjem, wo die Prostitution in Bordellen wohnt. Die Dirnen liegen in dem Viertel zwischen dem Hafen und der Olof Tygvesongade in den Fenstern und locken ihre Kunden. Diese sehr primitiven Zustände führen unter den Hafenarbeitern vielfach zu Schlägereien, und das Bordellviertel ist ein ewiger Herd der Unruhe.

Die Prostitution hat in Schweden und Norwegen eine so geringe Bedeutung wegen des besonders freien Lebenswandels der weiblichen Jugend. Das »Recht des Mädchens auf vorehelichen Geschlechtsverkehr«, von dem manche Sexualreformer so gern sprechen, könnten sie hier in praxi studieren. Und das Ergebnis: Sklaverei der Frau. Man sagt nicht zu Unrecht, daß die schwedischen Frauen keinen Stolz besitzen, und jedenfalls haben sie in der Erotik die Offensive. Der schwedische Mann ist sexuell anfangs von einer großen Trägheit, er muß von der Frau erst »erwärmt« werden, dann allerdings hält er aus. Die schwedischen Liebesverhältnisse sind meist mit einer auffallenden Ausschließlichkeit auf das Physische gestellt, und die Begriffe der Treue und der Zurückhaltung sind in Schweden selten.

In Schweden ist der juristische Begriff der Prostitution durch Reichsgesetz am 1. Januar 1919 beseitigt worden. Vorher kannte man Zwangskontrolle und Zwangsbehandlung genau wie in Deutschland. Die Bordelle sind in Stockholm, Gothenburg und Malmö schon am Ende des vorigen Jahrhunderts abgeschafft. Die rechtliche Lage ist jetzt die, daß der Gesetzgeber sich um die Prostitution als solche gar nicht kümmert. Dagegen beschäftigt er sich mit den Geschlechtskrankheiten. Die Übertragung wird auf Antrag bestraft, und die Ärzte haben die Pflicht ihre Patienten anzuzeigen, falls sie die Behandlung aufgeben, ohne sich bei einem anderen Arzt weiter behandeln zu lassen. Wie diese neuen Verfügungen wirken werden, kann man einstweilen noch nicht übersehen. Ich stehe diesem System skeptisch gegenüber; es dürfte das Paradies für Quacksalber werden.

Ein Nachtleben kennt selbst die schwedische Hauptstadt nicht, und das Vergnügungsleben ist durch eine Unzahl Polizeiverordnungen eingeschränkt, die hauptsächlich auf eine Verminderung des Alkoholkonsums hinzielen. Neuerdings hat man sogar das Weinservieren bei allen Tanzvergnügungen verboten, und damit auch dieses »harmlose Vergnügen« beendet. Bekanntschaften werden darum hauptsächlich auf der Straße geschlossen, niemals in Restaurants, wo ein steifer, gezwungener Ton herrscht Nachtcafés kontinentalen Stils, Treffpunkte der Prostitution gibt es in Stockholm nicht. Stockholm ist eben eine äußerlich ganz saubere Stadt, und alles geschieht unter der Decke der Erscheinungen.

Diese Zurückgezogenheit von der Oberfläche gilt in größere Verhältnisse übersetzt auch von England.

Die englische Prostitution besteht hauptsächlich für Fremde und für die niedrigsten Volkskreise. Der feine Engländer frequentiert die Prostitution nicht, er heiratet früh und ist selten Erotomane. Es ist schwer in die vita sexualis der Engländer einzudringen, weil auch in Herrengesellschaft geschlechtliche Themen gemieden werden, jedenfalls glaube ich, daß die freie Liebe in dem Umfange wie in Deutschland nicht existiert, besonders wohl deswegen, weil in England der Koitus juristisch als Heiratsversprechen gilt und sich das englische Mädchen der niederen Stände viel schwerer hingibt als das deutsche Mädchen. Dagegen glaube ich, daß gerade in der Gesellschaft Liebesverhältnisse junger Männer mit verheirateten Frauen durchaus nicht zu den Seltenheiten gehören. Auch die Choristinnen vom Theater haben einen großen Andrang zu bewältigen. Die Verführung eines Mädchens der niederen Stände gehört aber zu den Seltenheiten. Die sexuellen Verhältnisse in London möchte ich, weil London für alle Hafenstädte typisch ist, hier etwas eingehender darlegen. Es ist richtig, wenn der Charakter der Londoner Prostitution als ungemein roh bezeichnet wird. Die Prostitution setzt sich, da die Zahl der Fremden außerordentlich groß ist, nur zum geringen Teile aus Engländerinnen zusammen. Man findet sehr viele Ausländerinnen. Die Zahl der Londoner Prostituierten wird für das Jahr 1900 auf 300 000 geschätzt.

Die englische Prostitution hat im 19. Jahrhundert eine schillernde Entwicklung durchgemacht. 1830 kannte man in London mehrere Kategorien von Dirnen, die ganz, billige, die man in den Vororten und Nebenstraßen in der Gesellschaft von Zuhältern und Verbrechern fand. Die besseren Mädchen, die Absteigequartiere hatten und an diese Kupplerinnen den größten Teil ihrer Einnahmen abführen mußten und schließlich die Bordellprostitution. Damals wie heute haben auch die gebildeteren Stände einen hohen Bruchteil der Londoner Dirnen gestellt. Es wird mehrfach überliefert, daß besonders die Töchter von Landpredigern als Prostituierte nach London gingen, ich stehe dieser Angabe etwas skeptisch gegenüber, ich habe in London nirgends davon gehört, und bekanntlich wird von den Dirnen über ihre Familie mit Vorliebe geflunkert, und der Stand der Eltern wechselt bei ihnen nach der Mode. Ebenso flunkern viele sie stammten aus Paris. Sprachliche Beobachtungen und verfängliche Fragen haben mich überzeugt, daß die Mehrzahl nur eine längere Pariser Bordellpraxis hinter sich hat. Holländerinnen und Westdeutsche scheinen mir, nach Körperbau und Sprache zu urteilen, viel eher zu dominieren.

Der Hauptstrich der Londoner Prostitution ist heute der Haymarket und die Regent Street, der Hauptbetrieb ist hier zwischen eins und drei. Bordelle sind in London so zahlreich wie nirgends sonst, viele haben bereits ein beträchtliches Alter, da es im Jahre 1814 schon 1500 gegeben hat. Die minderwertigen liegen natürlich in der Hafengegend, während sich die fashionablen in der Gegend des Leicester Square befinden. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts spielte sich das Nachtleben vornehmlich in den Long rooms und Salons der Tavernen ab, in denen sich oft bis zu 200 Prostituierte versammelten. Sie waren nicht ausschließlich auf Westend beschränkt, obwohl sie dort besonders zahlreich waren, sondern fanden sich in einfacher Aufmachung auch in der Gegend des Themseufers, wo die Matrosen sich aufhielten. Die Zahl der Kuppler ist wegen des lebhaften Bordellverkehrs in London natürlich auch besonders groß, da der häufige Austausch der Mädchen zwischen den Bordellen viele Vermittler zu ernähren vermag.

Die Angaben über den Mädchenhandel, die seit den sensationellen Enthüllungen der Pall Mall Gazette in den schwärzesten Farben geschildert werden, dürften jedoch einigermaßen übertrieben sein.

London gibt jedenfalls den größten Marktplatz der Erde ab, auf dem menschliches Fleisch verkauft wird; teils durch die ausschließliche Herrschaft des Bordellsystems, teils durch die Deflorationsmanie der englischen Lebemänner. Die schreckenerregenden Exzesse der reichlich brutalen Lebewelt sind ja in ihren statistischen Ergebnissen heute in jedermanns Mund. Wer hat nicht von dem Mann gehört, der, um völlig zu detumezieren, im Jahre 100 Jungfern brauchte, und der unglücklich darüber war, daß er nur 70 auftreiben konnte. Selbst die Ärzte, die doch sonst jede Perversität verabscheuen, haben der Statistik einen ihrer Vertreter liefern müssen. Ein englischer Doktor entjungferte im allgemeinen in vierzehn Tagen drei Mädchen, was immerhin eine ganz anständige Leistung ist. Wir stellen die Diagnose auf die interindividuellen Erscheinungen von Masochismus und Grausamkeit und wundern uns nicht wie die Pall Mall Gazette, daß man auch in Arbeitskreisen gern entjungfert.

Die Vorliebe fürs Keusche hat in England die Nebenerscheinungen gezeitigt, die man schon in der galanten Zeit kannte, und noch heute macht die durch adstringierende Mittel oder gar durch Nähte reparierte Jungfer mit dem ärztlichen Attest in der Hand die besten Geschäfte. Die fortschreitende medizinische Kunst hat es ermöglicht, daß das Deflorationsangebot allmählich die Nachfrage überholt. Vor 40 Jahren soll man für eine Virgo Intacta noch 50 Pfund bezahlt haben, heute kostet sie nur noch drei Pfund. Mir scheint es reichlich gesucht, wenn Iwan Bloch die Deflorationsmanie unter den Engländern darauf zurückführt, daß der Engländer das Empfinden hat, daß für ihn das beste gerade gut genug ist. Er wolle etwas besitzen, was nur einmal und nur von einem besessen werden kann, womit er sich vor anderen rühmen kann. Ich halte diese Momente für sekundär. Das Hauptmoment bleibt doch die mit der Defloration verbundene Freude an der Gewalt und an der Läsion.

Da zu allen Zeiten gerade die hübschen Mädchen sehr früh cette petite chose là bas verlieren, muß das unmündige Alter die Lücken füllen. Noch heute besteht in England eine besonders entwickelte Kinderprostitution. Im 18. Jahrhundert soll es sogar Kinderbordelle gegeben haben, die offiziell bestanden und zum Teil auch von noch sehr jugendlichen Knaben besucht worden sind. Noch heute sieht man in der Gegend des Picadillyzirkus viele Mädchen im Alter von zwölf bis fünfzehn Jahren hin und her schlendern.

Die homosexuelle Prostitution scheut in London mehr das Licht der Sonne als anderswo, weil hier die Strafbestimmungen besonders streng sind. Der Koitus per anum wird in England, auch wenn er zwischen Personen verschiedenen Geschlechts geübt wird, mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft. Mutuelle Onanie wird mit Zuchthaus bis zu zwei Jahren bestraft, eine Strafe, der bekanntlich Oskar Wilde zum Opfer gefallen ist. Trotzdem läßt sich natürlich die homosexuelle Prostitution nicht unterdrücken; eine derartige Strafgesetzgebung ist lediglich eine willkommene Fundgrube für Erpresser.

Die tribadischen Klubs sind in London ebenso eine Sorge für die Polizei wie in Berlin. Dagegen gibt es eine lesbische Prostitution, unter der auch in der englischen Hauptstadt vornehmlich Masseusen zu finden sind.

Bezeichnend für die Art und Weise, wie sich die Engländer zu den sittlichen Problemen stellen, ist ein Gesetzentwurf zur Verhütung der Unsittlichkeit, der 1911 eingebracht wurde. Das Schutzalter und der Begriff »Mädchen« sollen nach diesem Gesetzentwurf bis auf das neunzehnte Lebensjahr ausgedehnt werden. Der Verkehr mit einem Mädchen unter neunzehn Jahren soll, wenn sie geschlechtsreif und einverstanden war, mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder Zuchthaus von drei bis fünf Jahren bestraft werden. War sie unter sechzehn Jahren, so steht darauf Zuchthaus bis zu zehn Jahren. Erzwang der Mann den Geschlechtsverkehr durch Einschüchterung, Drohung, falsche Vorspiegelungen, Ausnutzung seiner Stellung als Arbeitgeber oder dergleichen, so wird auch bei einem Mädchen über sechzehn Jahren eine zehnjährige Zuchthausstrafe angedroht, und wenn andere an der Begehung des Verbrechens beteiligt waren, sogar eine fünfzehnjährige. Der Notzucht soll sich auch schuldig gemacht haben, »wer eine verheiratete Frau verleitet, ihm fleischliche Verbindung zu gestatten, indem er als ihr Gatte auftritt«. Für Mädchenhändler und Kuppler soll die Freiheitsstrafe zwei bis zehn Jahre betragen, Bordellinhaber, Eigentümer oder Pächter von Häusern, in denen sich Bordelle befinden, können mit Geldstrafe oder sechs Monaten Gefängnis davonkommen. Zuhälter und weibliche Personen, die von dem Erwerb Prostituierter leben, ist Gefängnis bis zu sechs Monaten, Prostituierte, die mit jungen Männern unter neunzehn Jahren Verkehr hatten, Gefängnis bis zu zwei Jahren angedroht. So weit wird man die Weisheit des Gesetzgebers immerhin noch verstehen können, wenn aber weiter der Versuch des Geschlechtsverkehrs mit einem Mädchen unter neunzehn Jahren als Vergehen bestraft werden soll, so sagt man sich, daß die einzige Folge des Gesetzes die sein kann, daß die Harmlosesten mit Kot beworfen und den gemeinsten Erpressungen ausgesetzt werden. Jede Unterhaltung mit einem Mädchen, jeder Tanz und jeder Flirt ist Umwerbung, das heißt juristisch gesprochen Versuch des Geschlechtsverkehrs. Der Begriff des Versuchs des Geschlechtsverkehrs ist mindestens ebensoweit wie der des Obszönen. Der Versuch des Geschlechtsverkehrs ist schließlich das, was durch die sublimsten Handlungen des Mannes geht, was in dem ersten verstehenden Kuß auf die Hand einer schlanken Frau pocht, was in den halb ernsten, halb sich selbst belächelnden Liebesbriefen kichert, was mit in unsere Walzer huscht und die Blumen des Buketts fügt, das uns ein verlangendes Wort ersparen will. Ich wünsche den englischen Mädchen, daß sie Richter haben, die ebenso harmlos sind wie unsere Mediziner, was haben sie denn verbrochen, daß man ihnen jedes Vergnügen rauben will?

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Wenn wir so sehen wie die Bekämpfung der Dirne in Ost und West nach der verschiedensten Methode – und beide Male nicht ohne Erfolg angepackt wird, so erhebt sich die Frage nach der Zukunft der Dirne, eine Frage, deren Beantwortung nicht mehr im Gebiete der Sexualgeschichte hegt, sondern – der Sexualpolitik.


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