Hermann Sinsheimer
Peter Wildangers Sohn
Hermann Sinsheimer

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Im Hause Wildanger rang Konrad mit dem Tod. Den Schrei, den Konrad gehört hatte, hatte er ausgestoßen in einem Fieberwahn, in dem er sah, wie sein Vater die junge Magd und Karla Birn gleich Tieren vor sich her trieb. Wildanger und Lisbeth waren vor diesem Ausbruch zurückgewichen. Sie verließen das Zimmer, als sie sahen, daß Konrad nun in leichten Schlummer fiel und regelmäßig atmete.

Konrad tauchte langsam aus der fiebrigen Wirrnis empor. Er erwachte und lächelte. Er fühlte sich in einem großen Kampf stehen. Die Worte: Sünde, Tod, Krankheit, fluteten in einem einigen Strom durch sein Gemüt. Er wies sie von sich wie Tiere.

Er spürte keine Schmerzen. Das wunderte ihn nicht. Er begann ein Gespräch:

»Schmerzen, seid ihr meine Brüder, meine Freunde? Wer seid ihr? Oder seid ihr nichts? Seid ihr 200 Täuschungen? Seid ihr die Hölle? O ich weiß: ich bin! Und ihr seid nicht!«

Die Schmerzen kamen wieder und wüteten in ihm wie Rache, wie Feind, wie grauenvolle Dunkelheit. Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Dort schlug es, wie wenn ihm etwas die Schädeldecke von innen aufschlagen wollte.

Sein Gesicht war verwüstet. Die Lippen krampften sich ineinander. Die Augen verschwanden hinter den Backenknochen.

Als der Arzt wider Erwarten am Abend wiederkam, konstatierte er noch eine Gehirnhautentzündung. Er tat das Seine, daß Konrad bald einschlief.

Als er das Zimmer verließ, summte er Konrad den Totenmarsch. Wildanger hörte es und zitterte leicht. Im Hof legte ihm der Arzt seine Hand auf die Schulter und sagte leise:

»Wildanger, bereitet Euch auf eine zweite Beerdigung vor. In Eurem Hause geht der Tod um.«

Wildanger schwieg und ließ den Arzt ohne Gruß gehen. Er sah zum Fenster des Krankenzimmers hinauf, wie wenn er den Tod dort sehen müßte.

Dann ging er in das Wohnzimmer und machte sich über die Briefe, die noch unberührt lagen. –

Es waren Ladungen zum Nachlaßgericht für den 201 übernächsten Tag. Er dachte an das Testament und bebte bei dem Gedanken, daß der Richter Kenntnis davon haben könne. Aber wie sollte er! Wildanger beruhigte sich fast ganz. Aber so viel Unruhe blieb immerhin noch in ihm, daß er irgendwo einen Halt suchen mußte.

Er dachte an Konrad wie an einen Erlöser. Er ging hinauf, setzte sich ans Bett und blieb hier, halb schlafend und wachend, die Nacht über sitzen. Den nächsten Tag arbeitete er wenig und kam immer wieder an Konrads Bett. Er tat ihm alle nötigen Verrichtungen und fühlte sich ihm völlig zugehörig. Das gab ihm Ruhe für den nächsten Tag und die Ueberraschungen im Nachlaßgericht.

Am Abend zuvor kam eine Karte von Michel an. Darin stand. daß ihm die Lisbeth und das ganze Haus unheimlich sei. Er habe nicht bleiben können. Sein guter Geist habe ihn fortgetrieben. »Gott sei mit Euch,« schloß die Karte, die vom Dienstherrn geschrieben und von Michel mühselig unterzeichnet war. Denn die Kunst des Schreibens war ihm fremd.

Lisbeth zerknüllte die Karte in ihrer Hand und schmiß sie dann dem Vater, der gerade auch im Hof war, vor die Füße. Der hob sie auf und las. 202

Lisbeth war blaß vor Wut und Enttäuschung. Wildanger sah sie an und atmete tief. Sie trat nahe an ihn heran, wie wenn sie ihn packen und niederwerfen wollte. Er wich nicht und sah ihr in die Augen, als wollte er sagen:

»Nun stehen wir zwei uns gegenüber – du oder ich.«

Lisbeth verstand seinen Blick und lachte hell auf. Warum sie lache, fragte er.

Sie drehte sich um und sagte leichthin über ihre Schulter hinweg: »Weil ich jetzt wahrscheinlich das fünfte Kind bekomme und habe immer noch keinen Mann.«

Da fiel der Alte in sich zusammen und wäre fast zu Boden gesunken. Aber er raffte sich auf und sagte laut:

»Die Schande muß aus meinem Haus.«

Lisbeth fand diese Worte dumm und lachte schon wieder:

»Wem dieses Haus gehört, das wird man dir sagen – morgen.«

Wildanger erschrak heftig. Aber gleich merkte er, daß Lisbeth das nur so gesagt habe. Er ging hinauf zu Konrad.

Am nächsten Tage befahlen beide der jungen Magd, 203 an Konrads Bett zu bleiben, und fuhren in die Stadt.

Bald standen sie wieder in dem Zimmer, das Wildanger so vertraut und verhaßt war. Es war heute Termin für Nachlaßsachen. Draußen warteten noch viele Menschen, alle in Trauerkleidern, aber die meisten mit gespannten und sogar freudigen Gesichtern, weil es ihnen jetzt nicht mehr um den Tod, sondern um das lebendige Erbe ging.

Der Richter war kurz angebunden. Er hatte von seinem beurlaubten Kollegen so viel unerledigte Akten übernommen, daß sich seine papierne Sachlichkeit in diesen Wochen förmlich überstürzte. Er pflegte, wenn er mit dem Schlag zwölf oder sechs Uhr sein Bureau verließ, sich selbst ein Lob auszustellen: »Heute hast du wieder in soundsoviel Minuten und Stunden soundsoviel Akten erledigt und Parteien abgefertigt. Bravo!« Seiner Frau erzählte er das Gleiche. Sie beglückwünschte ihn zu soviel Geschicklichkeit. Er aber war gar nicht geschickt, sondern gerade dumm und gescheit genug, um Wichtiges und Unwichtiges in notdürftige Ordnung zu bringen.

Er stellte die Personalien der beiden fest, las die Gesetzesstellen vor, legte klar, wie sich die Erbmasse, deren Höhe er ebenfalls feststellte, verteile, und 204 erklärte dem Peter Wildanger, daß er zum Vormund seines unmündigen Sohnes Konrad bestellt werde und dessen Erbteil zur Verwaltung und Nutznießung bekomme.

Bei der letzten Mitteilung sah Wildanger, dem das Herz laut klopfte, zum ersten Male auf.

Nach vielen andern kaum verständlichen Ausführungen des Richters kam eine kleine Pause. Dann fuhr der Richter langsam fort:

»Nun liegt aber hier ein Testament vor, dem Gericht durch den Landwirt Christof Winter, den Bruder der verlebten Ehefrau Wildanger verschlossen überreicht.«

Peter Wildanger wurde schwach und glaubte in den Boden zu sinken. Er hob langsam die Arme, wie wenn er eine lange Rede halten wollte, was dann die rasche Vorsicht des Richters veranlaßte, in scharfem Tone Ruhe zu gebieten.

Er zeigte den beiden und dem anwesenden Schreiber den Umschlag vor, um sich von ihnen bestätigen zu lassen, daß der Verschluß unverletzt sei. Lisbeth bestätigte es laut. Wildanger nickte nur schwer mit dem Kopf.

Dann riß der Richter den Umschlag auf und las, was die Frau geschrieben hatte. Der Text lautete 205 genau wie in dem Testament, das Wildanger gefunden hatte.

Lisbeth horchte hoch auf und begann, als sie den Sinn verstanden hatte, zu schluchzen. So gut und treu also hatte die Mutter an sie gedacht!

Wildanger starb in diesen Sekunden einen schweren Tod. Es war ihm, als werde er lebendig eingescharrt und müsse ersticken. Er fuhr sich oft über die Augen. Er meinte, er sei blind und taub und lahm. Er hörte und sah und fühlte nichts mehr.

Lisbeth aber kam aus ihren Tränen bald heraus. Eine wilde herrische Freude packte sie an. Auch sie hörte nichts mehr. Erst als der Richter fragte, ob sie beide die Erbschaft annähmen, bejahte sie laut. Schließlich wurde beiden bedeutet, das Notariat werde die Teilung vollziehen und einen Termin dazu bestimmen. Sie unterschrieben ein Protokoll und gingen.

Kein Wort fiel zwischen ihnen. Lisbeth kaufte vielerlei in der Stadt für ihre Kinder und sich. Wildanger lief ihr wortlos nach und dachte an Konrad und sehnte sich nach dem Stuhl neben dem Krankenbett.

Konrad wußte, warum Vater und Schwester 206 fortgefahren waren. Er verstand den Zweck dieser Reise nicht. Aber er war froh, einmal allein zu sein.

Bald öffnete sich die Tür und die kleine Magd trat verlegen lächelnd ein. Sie setzte sich ans Bett und sah unter sich.

Konrad erschrak, als er sie sah, dann aber freute er sich, denn er fühlte sich durch dieses Mädchen mit dem Leben verbunden. Er sagte:

»Lieb von dir, daß du zu mir kommst!«

Das Mädchen wurde rot. Es antwortete fast schnippisch:

»Ich muß doch da sein.«

Da versuchte er, sich zu erheben und sie anzusehen. Es gelang ihm nicht; seine Schmerzen wurden durch die Anstrengungen quälender. Er ächzte in seinen Kissen.

Das Mädchen bekam Angst und stand auf. Als Konrad fortfuhr, zu stöhnen, trat das Mädchen an das Bett und suchte nach seiner Hand. Er gab sie ihr. So blieben sie lange. Dann löste Konrad seine Hand aus der ihrigen, strich ihr über den Arm und sagte:

»Du bist gut zu mir.«

Da begann das Mädchen zu weinen. Es fand die Szene gar zu rührend. 207

Plötzlich sagte er zu ihr:

»Geh, rufe Karla Birn.«

Die Magd wußte nicht, wer das ist.

Auf die Frage des Mädchens war Konrad sehr erstaunt.

»Du weißt nicht, wer sie ist, wer Karla Birn im Schulhause ist?«

Nun wußte sie es und lachte fröhlich.

»Oh, das schöne Fräulein! Was wollen Sie denn von ihr? Sie sind doch kein Schuljunge mehr.«

Und wieder lachte sie und strich dabei, den Kopf schief haltend, über die Bettdecke.

Konrad sagte kurz:

»Geh und hole sie. Sag ihr, sie müsse kommen. Sie müsse!«

Nun bekam das Mädchen Angst, denn es glaubte, Konrad rede irre, und ging.

Karla Birn hielt gerade Unterricht. Sie wußte von Konrads schwerer Erkrankung.

Als das Mädchen ihr Konrads dringliche Bitte mitteilte, band sie sich sofort mit zitternden Händen die silbergraue Schürze ab, nahm die Brille von den Augen und ging. Erst vor der Türe dachte sie an die Kinder. Sie ging zurück, gab ihnen schriftliche Aufgaben und bestellte ein Kind zur Aufsicht. 208

Sie sprang mehr als sie ging mit der Magd zum Hause Wildanger und stand bald, schwer atmend, vor Konrads Bett. Die Magd stand neben ihr.

Konrad wand sich gerade in Schmerzen und achtete nicht auf die beiden Frauen. Er wimmerte leise wie ein kleines Kind. Die Hände hatte er auf der Brust verkrampft. Sein Gesicht war gelb.

Karla Birn und die Magd rückten nahe aneinander, so daß sich ihre Gesichter fast berührten. Sie hatten Angst.

Karla Birn sah hernieder wie auf ein schmerzliches Wunder. Das also, dieses zerkrümmte, arme Kerlchen, war der Mann. Dies der Mann, der ihr das Glück gebracht hatte. Der ihr die Liebe gebracht hatte! Sie erlebte eine große Enttäuschung; denn seit jener Nacht war Konrad in ihrer Erinnerung zu etwas Großem aufgewachsen.

Sie schämte sich. Warum eigentlich, das wußte sie nicht. Aber sie fühlte, daß sie rot wurde. Sie faßte die Magd am Arm, wie um sich an ihr zu halten. Und immer starrer heftete sich ihr Blick auf den Kranken.

Er öffnete schwer die Augen und langsam entkrampfte sich sein Leib. Erst nach einer Weile fiel sein Auge auf die beiden Mädchen. Hinter ihnen 209 strömte die Morgensonne ins Zimmer und baute für Konrads stumpfe Augen eine Wand von Licht auf.

Er trank dieses Bild wie ein Verdurstender in sich ein und lebte neu auf. Er glaubte zu fühlen, wie er aus Kälte und Dunkel aufschwebte zum warmen Licht und zum Leben. Die Schmerzen, die ihn umtäubt hielten, wurden stiller und glitten leise von ihm ab. Ihm war, als ob er ihre dunklen Schatten sehen könnte, die nun tief unter ihm lagen. Um ihn war Wärme und Licht.

Er streckte seine Hand aus. Die Magd glaubte, er wolle seine Medizin haben, und eilte sie ihm zu geben. Er aber griff nicht darnach und hielt seine Hand ausgestreckt, bis Karla Birn sie ergriff. Die Magd stand stumm daneben.

Hinter den beiden sah Konrad nun die Sonne, aber nicht mehr als weiß schimmernde Wand, sondern als flutendes blaues Meer. Er sagte leise:

»Nun ist das Blaue zu mir gekommen. Ich bin so glücklich.«

Die Magd wich zurück; wiederum meinte sie, Konrad rede irre.

Karla Birn fühlte eine beglückende Schwäche in sich und begann, ohne nachzudenken, zu sprechen: 210

Ja, blau sei die große Erwartung. Und von dieser lebten alle Menschen. Ob krank, oder gesund, man müsse hoffen. Gott und das Leben sei ja so schön. Sie sagte noch mehr dergleichen – zuerst leise, dann lauter werdend und mit ihrer Stimme das Zimmer füllend, schließlich aber wieder in einen zagen, kaum hörbaren Ton zurückfallend, als sie sah, wie Konrad verdrießlich seine Augen schloß.

Konrad fand ihre Worte fremd und dünn. Er lächelte. Sie philosophiert, dachte er bei sich. Sie schulmeistert.

Karla Birn fühlte Konrads Mißachtung. Eine Bitterkeit stieg in ihr auf, deren sie vergebens Herr zu werden suchte. Sie führte langsam ihre Hände zum Gesicht.

Es war eine beklemmende Stille im Zimmer. Die Magd, von Karla Birns seltsamer Rede schon geängstigt genug, schlich sich aus dem Zimmer. Draußen drehte sie sich herum und glotzte mit schweren dummen Augen auf die geschlossene Türe, wie wenn sie durch sie hindurch ins Zimmer sehen könnte. Sie wußte nicht, was drinnen vor sich ging, aber sie ahnte, daß etwas vor sich gehen müsse. Sie hatte Angst und wagte kaum zu atmen.

Karla Birn setzte sich und legte die Hände in ihren 211 Schoß. Sie kam sich klein und schwach vor. Ihre Augen hingen an Konrads Gesicht, wehklagend und anklagend zugleich. Das bittere Gefühl gegen Konrad, das sie fast zittern machte, zerfloß in eine schmerzliche Stimmung gegen sich selbst.

Sie wagte kaum zu atmen. Sie fühlte das Bedürfnis, laut aufzuschreien, um Leben zu äußern. Ja, sie dachte sogar daran, aufzuspringen und auf den Fußboden aufzustampfen, wie sie es manchmal von trotzigen Kindern in der Schule erlebte. Aber sie blieb sitzen und starrte auf Konrad.

Dieser aber fühlte sich plötzlich wieder von gräßlichen Schmerzen heimgesucht und dachte nicht mehr an Karla Birn. Er wurde unter der Last der körperlichen Qualen ganz kindlich und redete die Schmerzen wiederum wie lebende Wesen an. Er bat sie, doch von ihm zu lassen. Er höre sie rufen, er werde ihnen folgen, er werde gerne sterben. Er müsse ja sterben, er wisse es. Dabei strich er sich mit den Händen über den schmerzenden Kopf und über den Leib, wie wenn er sich die Schmerzen wegschmeicheln wolle.

Wie er so hilflos dalag, erschien er der Lehrerin wie ein rührendes Kind. Sie stand auf, nahm seine Hände in die eine Hand und strich ihm mit der 212 andern über Kopf und Brust. Er lächelte. Als sie ihre Hand auf seine Augen legte, begann er leise zu sprechen:

»Karla!«

Dann verstummte er. Sie aber hörte gespannt auf, was er nun sagen würde. Er sagte nichts, trotzdem hörte sie, taumelnd vor Glück, seine Stimme und die Worte, die er dachte:

Du hast mir Leben gegeben. Seit jener Nacht bin ich ein Mensch. Du hast mich gefunden. Du hast mich geliebt.

Nun lächelte auch sie und legte ihren Mund auf seinen. Er rührte sich nicht. Er war tief beglückt von ihr. Sie war ihm nun nicht mehr Karla Birn, sondern eine Erfüllung und eine Genesung.

Sie aber sah in ihm jetzt einen gereinigten erhabenen Menschen. Sie war nun frei von ihrem süchtigen Jungferntum. Eine beseelte und beseligte Ruhe war in ihr, ein Aufgehen in der Welt und ein lächelndes Verstehen ihres Dranges zum Mann.

Konrad mußte, während sie über ihm atmete, an die mancherlei Gespräche denken, die seine Kameraden über Dirnen zu führen pflegten. Er erinnerte sich, wie sie stets mit untertänigstem Respekt von jenen Mädchen gesprochen hatten. Er mußte über 213 sie verächtlich lachen. Hatte er nicht mehr, als sie überhaupt zu hoffen wagten, für sich errungen? Sah er nicht soviel mehr und Schöneres in der Frau, als sie auch nur ahnten?

Er schlang leicht seine Arme um Karlas Hals und schmiegte sich fester an sie. Sie zitterte und machte sich von ihm los.

Glühend stand sie vor ihm. Glühend sah er auf zu ihr. Er dachte an das Kruzifix über ihrem Bett. Er konnte nicht anders als sich und sie im Bilde des gemarterten und doch erlösten und sanften Gekreuzigten zu sehen.

Nun wußte er, was ein Mensch sei. Nun wußte er, was Liebe sei. Nun war er glücklich.

Karla Birn verließ, ohne ein Wort zu sprechen, wie auf sein Geheiß das Zimmer. Draußen stand noch die Magd. Sie blickte, als die Türe aufging, zu Boden und schämte sich. Fast hätte sie geweint. Karla Birn eilte zu ihren Kindern. Sie hörte sie schon von ferne lachen und springen und schreien. Sie tobten wie besessen, um den seltenen Fall der Abwesenheit ihrer Lehrerin völlig zu genießen. Als Karla Birn eintrat, fiel das ohrenbetäubende Geräusch wie eine riesige Welle lautlos in sich zusammen. Den Kindern wurde es bang vor der Strafe. 214 Karla Birn aber ging, als ob sie den Lärm nicht gehört hätte, zum Schrank, zog die silbergraue Schürze an, holte ihre Violine hervor und sagte zu den Kindern mit fast jubelnder Stimme:

»Wir singen ein Lied.«

Konrad lag, ruhend in Glück, bewegungslos tief in den Kissen. Die Magd war sorgend um ihn. Sie reichte ihm Medizin und zu essen; er nahm beides wie ein Gesunder hin. Er hatte ein großes Zutrauen zum Leben. Er fühlte sich an diesem Leben haften wie an einem schmerzlosen Kreuz. Er fühlte es strömen wie eine sich immer erneuernde Quelle. Und er wollte, ja er wollte trinken an ihr. Er wollte sich rein und groß trinken.

Der Arzt, der am Mittag kam, machte große Augen. Entzündung der Lunge und der Gehirnhaut – und doch schien dieser Mensch gesund zu sein. Das verstand der alte Heilkundige nicht. Er summte sein Lied nervös herunter. Die Melodie genügte ihm nicht. Er sprach jedes Wort deutlich aus: »Es geht bei gedämpfter Trommel Klang!«

Konrad gab ihm auf seine Fragen kurze, fast fröhliche Antworten.

Am Nachmittag kam Wildanger und Lisbeth heim. Sie hatten auf der ganzen Fahrt nichts gesprochen. 215 Lisbeth hatte vor sich hingesehen und die Zukunft bedacht. Wildanger war für sie nicht mehr da. Er hatte vergeblich sich an ihren Blick gehängt. Vom Bahnhof eilten beide nach Hause. Sie dachten an Konrad und an das Testament. Atemlos standen sie vor dem Bette. Beide mit aufgeregten Mienen. Beide sich anschickend zu sprechen, ohne sprechen zu können. Konrad hatte gerade geschlafen und sah sie, halb aus einem Traum heraus, wie zwei komisch bewegte Puppen vor sich stehen.

Lisbeth sagte schließlich überlaut:

»Konrad, die Mutter hat mir das ganze Haus vermacht. Das Haus ist mein Eigentum. Mir gehört es ganz allein.«

Konrad erwiderte nichts. Er fand Lisbeth komisch. Er dachte sich, es sei doch gleichgültig, wessen Eigentum nun das Haus sei. Es gehöre doch ihnen allen, die darin wohnen.

Wildanger sagte leise: Ja, das sei nun so, das Haus gehöre der Lisbeth. Er und Konrad hätten nichts darin zu suchen.

Lisbeth lachte hell auf und meinte:

»Ihr könnt so lange bei mir wohnen bleiben, wie es euch gefällt.«

Dann verließ sie das Zimmer. Wildanger setzte sich 216 auf das Bett. Er hielt die Hände gefaltet und sah zu Boden. Sein Gesicht war noch gelber als sonst. Konrad fragte ihn, an was er denke. Wildanger schrak auf und beteuerte, er denke an nichts.

Konrad sah ihn lange an und sagte dann:

»Du denkst an die Mutter, ich weiß es.«

Wildanger legte den Kopf ganz auf die Brust:

»Ja, ich denke an die Mutter. Sie hat mir mein Haus weggenommen.«

»Sie war eine gute Frau und wollte der Lisbeth helfen.«

»Sie hat sich an mir gerächt.«

»Wofür?«

»Dafür, daß ich mein Leben lang gearbeitet habe.«

»Aber du hast ja« – Konrad hob zögernd seinen Kopf und sah den Vater mit sicherem Blick an – »du hast ja bei der Arbeit nichts gefühlt.«

Wildanger stand auf.

»Was soll das? Was wollt ihr von mir? Ich habe keine Zeit für solche Sachen gehabt.«

»Für solche Sachen« – wiederholte Konrad und legte den Kopf wieder in die Kissen zurück.

»Solche Sachen sind zu hoch für mich. Ich bin kein Studierter.«

»Aber du bist doch ein Mensch.« 217

Konrad sagte dies zögernd und indem er jedes Wort betonte.

Wildanger rannte, wie ein Besessener, in der Stube auf und ab. Konrad dachte sich, nun möchte er am liebsten wieder schimpfen, schreien und schlagen.

In der Tat trat Wildanger ans Bett und schrie mit roher Stimme seinem Sohn die Frage ins Gesicht:

»Was ist das – ein Mensch? Das sind Possen! Das ist dummer Schwindel, um mich zu quälen.« Dem Kranken tanzten wirre Farben vor den Augen. Er meinte, alles Blut entrinne seinem Körper. Die Schmerzen kehrten zurück und füllten ihn ganz aus.

Wildanger sprang, wie ein wildes Tier im Käfig, auf und ab. Konrad verfolgte ihn. Er wurde immer matter. Die Umrisse des auf und ab rennenden kleinen Mannes verschwammen ihm in einem Nebel. Das Sonnenlicht im Zimmer schien langsam abzusterben.

Wildanger triefte von Schweiß. Er stachelte sich selbst auf. Die sollten sich in ihm verrechnet haben. Er werde sich wehren. Dies Haus – wem anders als ihm gehört es! Er hat es verbessert, vergrößert, erneuert. Das Haus der Eltern seiner Frau war 218 gar nicht mehr da. Das Haus, das dastand, war seines. Das soll durchgefochten werden. Sie werden mit ihm prozessieren müssen. Er wisse schon, was zu tun sei. Sich nur nicht einschüchtern lassen. Sich wehren, um sich schlagen, die Zähne zeigen.

Diese letzten Worte wiederholte er laut:

»Ich werde mich wehren, ich werde um mich schlagen, ich werde euch die Zähne zeigen.«

Er schmiß die paar Sätze zu Konrad hin, der davon wie von geworfenem Schmutz getroffen wurde und sich vor Schmerz krümmte.

Der Alte hielt immer noch nicht still. Er raste nur so im Zimmer herum und stieß bald an einen Stuhl, bald an Konrads Bett.

Konrad bäumte sich auf und schrie den Vater an: »Nein, du bist kein Mensch, du bist ein Tier!«

Wildanger blieb stehen und antwortete etwas mit verbissener Stimme. Konrad verstand es nicht. Er merkte auch nicht, daß Wildanger stehen geblieben war. Er sah ihn mit verzwergtem Körper immer noch hin und her rennen, von grauem Nebel umronnen. Hinter ihm aber sah er einen andern gehen – schwebend groß, von Licht und Reinheit umflossen: den Menschen, den Gekreuzigten.

Er kam, dachte Konrad, von Karla Birn, über deren 219 Bett er still und klein gehängt hat die ganze Zeit. Konrad riß die Augen weit auf: er erkannte in dieser Lichtgestalt den ewigen Doppelgänger aller Menschen und alles Menschlichen. Er sah den Vater nicht mehr. Der war nicht mehr. Der war tot. Der war – Konrad erinnerte sich wieder seines Einfalls – eine Leiche. Jener aber lebte: der Mensch aller Menschen. Der Vater aber war das Tier.

Konrad schloß die Augen. Wer schwebte hinter dem Vater? War es nicht er selbst, seine Sehnsucht, sein Blaues, sein Gefundenes?

Die Schmerzen kreisten in ihm so scharf und rasch, als wollten sie etwas aus ihm herausschaffen, ihn von etwas befreien und erlösen. Er spürte nicht mehr die Qualen, die sie ihm bereiteten, sondern er suchte nach ihrem Ziel.

Ein wildes Weinen schüttelte ihn – erst von ihm unterdrückt, dann seinen Widerstand besiegend und so anschwellend, daß es ihn aufhob: er saß auf, er stellte sich auf und schrie seinen Schmerz hinaus, den Schmerz über den Vater, über Lisbeth, über die tote, tote Welt.

Er stand, ein abgezehrter Menschenleib, zitternd im Bett und wurde zu einer wie Orgelton 220 anschwellenden Stimme des Geistes, der in den erleuchteten Tagen des Unglücks in ihn eingeströmt war.

Die Worte brachen aus ihm heraus wie Stücke seines lebendigen Fleisches, wie Güsse seines Blutes und wetterten durch das Haus, daß es zu beben schien.

Konrad sah den Gekreuzigten vor sich und das verklärte Gesicht Karla Birns und die Erscheinung der Magd, so wie er sie damals gesehen hatte, als er vor ihrer Kammer stand. Er fühlte sich umgeben und umschirmt von allem Guten dieser Welt.

Seine Hände hielten, die Ellbogen breit zur Seite gestemmt, krampfhaft den Kopf. Sein Körper wuchs steif in die Höhe. Die Augen waren geschlossen. Der Mund schäumte.

Niemand wäre imstande gewesen, den Worten, die aus ihm kamen, zu folgen. Diese Worte ballten sich aus Erinnerungsfetzen und neu Gefühltem zusammen, überhasteten und verwirrten sich und rissen sich von jedem Sinn und Verstand los.

Einige Sätze kehrten immer wieder.

»Das Haus, in dem wir wohnen, gehört Gott. Wir alle gehören ihm. Wir sind seine Kinder.«

Und ferner, dem Vater zugewandt:

»Du bist Gottes Feind. Sein Haus ist nicht deines. 221 Sein Haus ist ein Menschenhaus. Du bist ein Tier. Du hast geschimpft und geschlagen, verleumdet und getötet.«

Und auch diese Worte wiederholten sich:

»Ich will zu Gott.«

Peter Wildanger hörte diesen Ausbrüchen wie versteinert zu. Er wich vor dem Schreien zurück und klebte schließlich als ein jämmerliches Nichts an der Wand.

Lisbeth, die im Stalle arbeitete, hörte Konrads tobende Stimme bis dorthin. Sie ließ ihre Arbeit liegen und kam gerade ins Zimmer, als Konrad, von Schwäche übermannt, im Bett zusammensank.

Sie deckte den armseligen Körper sorgsam zu und rief durchs Fenster der jungen Magd, sie solle sich eilen und den Arzt rufen, Konrad sterbe.

In der Tat lag dieser, wie dem Tod entgegen röchelnd, da. Ein Krampf machte seinen Körper leblos. Die Augen waren offen, aber erloschen. Als der Arzt kam, hatte ihn die tiefe Betäubung eines Fiebers aufgenommen.

Der Arzt schüttelte stumm den Kopf. Er begriff den Ablauf und die sonderbaren Rückfälle dieser Krankheit nicht. Er wiederholte seine 222 Anordnungen von früher: Auflegen eines Eisbeutels auf den Kopf und dergleichen.

Lisbeth pflegte den Bruder, ohne daran zu zweifeln, daß er sterben müsse.

Die gleiche Ueberzeugung hatte Peter Wildanger. Er wich nicht aus dem Zimmer, ehe der Arzt da war, und wieder ging. Er begleitete ihn bis zum Hoftor, ohne den Mut zu finden, die Frage, zu der er sich gedrängt fühlte, zu tun.

Als schon der Arzt auf der Straße, der Melodie seines Trauermarsches schon ganz hingegeben, war, flüsterte Wildanger hastig:

»Wird er sterben?«

Der Arzt taktierte seinen Marsch sehr scharf, indem er mit dem Kopf nickte; Wildanger wußte nicht, ob das zugleich ein Bejahen seiner Frage sein sollte. Er fragte noch einmal und noch hastiger:

»Wird er – –?«

Der Arzt war aber schon weg. Wildanger hörte nur ein rasches Summen. Er ging langsam, fast schleichend ins Wohnzimmer.

Die Frage: »Wird er – –?« verließ ihn nicht. Er wurde nicht müde, sie zu bejahen. Aber so oft er sie bejaht hatte, stellte sie sich ihm von neuem 223 entgegen. Und immer von neuem schlug er sie mit einem Ja nieder.

Er wollte reinen Tisch haben; Lisbeth und er, zwischen ihnen beiden sollten die Gerichte und Advokaten entscheiden.

Aber er und Konrad? Gegen diesen Menschen gab es kein Gericht und keinen Advokaten. Der klagte an und verurteilte. Der rechtete, als ob es von jeher seines Amtes gewesen wäre, über Vater und Mutter und Schwester zu Gericht zu sitzen. Der sagte: Das Haus ist mein – und man konnte nichts dagegen sagen.

So beschloß Peter Wildanger in seinem Herzen, daß sein Sohn zu sterben habe. Er tat ihm leid – dieses junge Kerlchen mit dem voll gelernten Kopf. Was für ein Advokat wäre aus ihm geworden! Aber er, Wildanger, hatte gehofft, sein Sohn sollte ein Advokat für ihn werden; nun war er schon einer gegen ihn geworden. Das war wider die Abrede und wider alles Herkommen. Er mußte sterben.

Peter Wildanger kämpfte gegen seine Tränen an. Er trug doch Hoffnungen aller Art mit dem Sohn zu Grabe. Aber was war da zu machen? Dieser Sohn war mißraten. Er mußte sterben.

Wildanger ging auf und ab. Es war dunkel im 224 Zimmer. Er machte Licht. Nun fiel sein Blick auf all das, was er als sein Eigentum begehrte und was man ihm streitig machen wollte.

Sollte er sich unterwerfen und der Lisbeth dienen? Dann blieb ja vieles, wie es war. Aber nicht alles! Was nützte ihm dieser und jener Acker oder Weinberg, wenn er nicht das Haus hatte. Wer das Haus hatte, dem gehörte auch das andere, das von hier aus regiert wurde. Er mußte das Haus haben.

Es fiel ihm ein, daß seine Frau der Tochter zwar das Haus vermacht hatte, aber nicht auch das, was darin war, das Möbel, die Pferde, die Kühe, die Wagen, die Pflüge. Was ist das Haus ohne dieses Zubehör?

Wildanger geriet in eine sehr zuversichtliche Stimmung; er hatte den Punkt gefunden, von dem aus Lisbeth zu packen war.

Er konnte kaum erwarten, bis sie ins Zimmer kam. Er horchte an der Tür, ob er nicht ihren Schritt oder ihre Stimme höre. Es dauerte ziemlich lang, ehe sie kam.

Sie schalt im Hausflur die junge Magd aus, weil sie weinte. Das Mädchen beweinte schon Konrads Tod. Es gab auf heftige Fragen Lisbeths keine Antwort und wurde deshalb von ihr um so lauter 225 beschimpft und verhöhnt. Es verkroch sich in eine Ecke der Küche.

Dort hockte es mit geschlossenen Augen und sah Konrad leiden und sterben. So große Mühe es sich auch gab, zu verstummen, sein Schluchzen hörte nicht auf und erfüllte das Haus.

Auch Wildanger hörte es. Er wunderte sich nicht darüber. Junge Mädchen, dachte er, beginnen früh mit dem Weinen, wenn ein junger Bursch stirbt. Und da oben – er sah zur Decke auf – stirbt ja so ein junges Kerlchen, das nicht stark genug war zu leben. Da weinen halt die jungen Mädchen, dachte er achselzuckend und hörte mit einem gewissen Wohlgefallen dem regelmäßig wiederkehrenden Aufschluchzen der Magd zu.

Plötzlich flog die Tür polternd auf und Lisbeth trat ein, in beiden Händen Schüsseln und Teller fürs Abendessen tragend. Sie hatte die Türe mit dem Fuß aufgestoßen und Wildanger dadurch heftig erschreckt. Er zitterte sogar ein wenig.

Sie stand, Teller und Schüsseln an ihren prallen Leib pressend, vor ihm und lachte geräuschlos. Der Schweiß hing in schweren Tropfen an ihrer Haut und die Haare, wirr und feucht, klebten am Kopf. 226 Die Tür stand offen und ließ kühle Abendluft ins Zimmer. Wildanger erschauerte leicht.

Sie stand vor ihm, die Herrin des Hauses, im Ueberfluß und im Uebermut. Er ging zum Ofen, nahm einen feuchten Lappen, der dort hing, und fegte mit ihm, behend wie der Jüngste, das Wachstuch des Tisches rein.

Lisbeth folgte ihm mit fröhlichen Augen. Ihr Lachen wurde lauter. Sie stellte Teller und Schüsseln ab und sah müßig zu, wie der Vater sie ordnete und verteilte. Dann rief sie der jungen Magd, sie solle zum Essen kommen.

Das Mädchen kam mit vom Weinen verquollenen Augen. Manchmal schütterte noch das Schluchzen durch ihren mageren Körper. Es sah zu Boden und setzte sich wie ein gezüchtigtes Kind zu Tisch.

Wildanger und Lisbeth wagten nicht, das Wort an die Magd zu richten. Scheu überkam sie vor diesem Geschöpf, das etwas beweinte, was sie selbst beweinen sollten. Sie hätten es am liebsten vom Tisch gejagt. Aber sie wagten es nicht. Sie dachten nun selbst an Konrad, an den Sterbenden über ihnen und sie vermeinten, während sie aßen, seine letzten Atemzüge zu hören.

Lisbeth aß sehr geräuschvoll und mit gutem 227 Appetit. Der Bruder tat ihr leid, sehr leid sogar. Aber konnte sie ihm helfen? Sollte sie etwa mit ihm sterben? Oder was sonst? Ihr blieb nichts übrig, als nach ihm weiterzuleben, – und darum griff sie tüchtig zu.

Wildanger dagegen aß, wie stets, ohne Lust am Essen und diesmal auch mit schlechtem Gewissen. Konrad mußte sterben – gewiß! Aber hätte er selbst nicht . . . Was er hätte tun oder lassen sollen, war ihm unklar, aber er hatte das dunkle Gefühl von Knienmüssen, Betenmüssen und von Dabeiseinmüssen. Die Magd berührte das Essen kaum. Als sie merkte, daß die beiden andern fertig waren, raffte sie Schüsseln, Teller und Bestecke an sich und eilte damit, ohne aufzusehen, hinaus. Wildanger und Lisbeth ließen sie stumm gewähren.

Draußen gab es ein Gepolter und ein Geräusch von fallendem Geschirr. Dem Mädchen war die Last aus den zitternden Händen gefallen.

Lisbeth und Wildanger schnellten von ihren Stühlen empor. Lisbeth aus Wut über das zerbrochene Geschirr. Wildanger, weil ihm das plötzliche Geräusch wie ein Schrei des ganzen Hauses in den Ohren gellte.

Ja, dieses Haus, sein und doch nicht sein Haus 228 schrie zu ihm, riß ihn empor und riß ihn heraus aus seiner Ruhe, rief ihn wach und rief ihn zum Kampf.

Lisbeth sagte:

»Unser schönes Geschirr!«

Wildanger schrie gellend:

»Unser Geschirr! Unser? Unser? Unser? Mein Geschirr! Meines! Meines!«

Und als Lisbeth überrascht einige Schritte auf ihn zu machte:

»Dein ist vielleicht das Haus! Vielleicht! Aber was in diesem Haus ist, gehört mir! Alles, alles! Hier und hier und hier – alles ist mein Eigentum, mein schönes Eigentum.«

Bei den letzten Worten sprang er in der Stube auf und ab und griff nach Stuhl, Schrank und Tisch, wie wenn er hiermit von neuem und feierlichst davon Besitz ergreifen wollte.

Lisbeth stürzte hin zu ihm und riß ihn zurück, wie um einen Diebstahl an ihrem Gut zu verhindern. Sie hielt ihn fest an seinem Rock:

»Nichts ist dir! Du willst mich bestehlen, so wie du mich bisher bestohlen hast. Du willst meine Kinder bestehlen, du Dieb, du Rabenvater!«

Das schrie sie wie eine Wilde und ihre Stimme 229 quietschte wie entfesselter Sturm durch das Haus.

Wildanger wand sich unter ihrem Griff:

»Deine Kinder? Hast du Kinder? Ehrliche Kinder? Bankerte hast du! Geschmeiß, Gesindel, Dreck hast du!

Lisbeth ließ ihn los. Sie lachte laut auf und auch ihr Lachen rollte donnernd durchs Haus.

In der Küche lag die junge Magd über dem Tisch und weinte. Und oben lag Konrad und schwebte, jedem Kampf entwachsen, dem Tod entgegen. Er hörte die beiden schreienden Stimmen und sagte sich wie im Traum: »Das ist mein Vater« und »Dies ist meine Schwester«. Und ganz dünn und fern hörte er auch das Weinen der Magd und er sagte langsam zur Türe hin, wie wenn es die Magd hören müßte:

»Du weinst um mich!«

Im Wohnzimmer aber ging das Toben der beiden weiter. Lisbeth war geradezu fröhlich geworden. Sie hatte sich in einen Stuhl geworfen und saß breit und mit weit ausgestreckten und gespreizten Beinen da. Sie saß im Besitz!

Wildanger rannte, wie so oft, auf und ab, die Hände in den Hosentaschen.

Lisbeth teilte ihm triumphierend mit: 230

»Morgen hole ich meine Kinder. Morgen kommen sie, alle vier. Sie werden Großvater zu dir sagen. Und du wirst so lieb zu ihnen sein müssen wie du zu mir nie warst. Sonst – –«

Sie sprach den Satz nicht aus, sondern ersetzte ihn durch eine drohende Handbewegung.

Wildanger blieb stehen. Er erschrak vor dieser Mitteilung. An die Kinder hatte er noch nicht gedacht. Ihm wurde es schwach und schwindlig. Das Zimmer drehte sich ihm vor den Augen.

Die Schande sollte in sein Haus kommen, mehr sogar: sein eigenes Schicksal. Er sah sie vor sich, die vier Kleinen, wie sie durch die Straßen liefen. Hinter ihnen das höhnische Lächeln des ganzen Dorfes: vier uneheliche Kinder.

Nun traten dem kleinen Mann wirklich die Tränen in die Augen. Denn nun sah er sein Haus verloren, vernichtet, preisgegeben.

Er konnte nicht mehr sprechen. Er ging leise zum Tisch und setzte sich auf die Bank, an den Platz der Mutter.

Sein Leben rannte an ihm vorüber – all die Arbeit, all der Tumult seines Lebens, sein Haß und sein Toben. Eine entsetzliche Angst kam über ihn. Er zitterte wie ein Kind. 231

Und in diese Angst und in dieses Zittern hinein ertönte ihm die Stimme seines Sohnes:

»Das Haus, in dem wir wohnen, gehört Gott. Du aber bist Gottes Feind.«

Diese Worte tönten ohne Ende und standen wie gewaltige Richter über sein Leben in ihm.

Peter Wildanger legte seinen Kopf auf den Tisch und weinte laut.

Die Tür des Zimmers stand offen. Das Weinen der Magd und ihres Dienstherrn begegnete sich. Lisbeth stand auf. Ihr Lächeln war verschwunden. Sie fühlte und hörte und sah das Grauen um sich. Sie tat eine Frage an sich selbst:

»Ist dies hier eine Hölle und bin ich ein schlechter Mensch?«

Der ganze Trotz ihrer starken Natur bäumte sich gegen das auf, was um sie herum geschah. Sie schüttelte sich, wie wenn sie Frost von sich abschütteln wollte. Sie trat an den Tisch zu dem weinenden Manne und wartete darauf, daß er aufhören würde, zu weinen.

Aber er hörte nicht auf. Da packte sie eine furchtbare Wut. Sie stampfte mit den Füßen den Boden und schlug mit den Fäusten den Tisch.

Aber Wildanger wimmerte fort. 232

Lisbeth kreischte ihn an: was er habe, was er wolle. Wildanger gab keine Antwort.

Lisbeth geriet außer sich. Nun war sie entschlossen, auch noch den letzten Schlag zu führen.

»Was greinst du über deine vier Enkel? Es werden bald fünfe sein. Das fünfte – das habe ich vom Michel, von deinem Knecht.«

Nun lachte sie wieder laut auf. Wildanger aber schnellte auf, starrte sie an wie eine teuflische Erscheinung und stürzte fort – aus dem Zimmer, aus dem Haus, aus dem Dorf.

Im freien Feld erst blieb er stehen. Er sah um sich mit scheuen Bewegungen seines kleinen knochigen Kopfes; er spähte aus nach Verfolgern, nach Peinigern, nach Mördern, nach reißenden Tieren. Er sah sich gejagt ins Nichts, ins grauenvolle Dunkel. Irgendwo schimmerte ein Haus, friedlich und beschützt. Das war einmal sein Haus. Mit leuchtend weißen Wänden stand es da, aber ganz fern und ihm geraubt. Und sein Leben stand ebenso fern von ihm, ebenso geraubt.

Er setzte sich, wo er gerade stand, auf den Boden und krallte sich mit den Fingern in ihn ein. Und die Frage brach aus ihm: »Bin ich ein Tier?«

Und er gab sich verloren an diese dunkle Frage. 233

 


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