Hermann Sinsheimer
Peter Wildangers Sohn
Hermann Sinsheimer

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Inzwischen war im Hause etwas Schreckliches geschehen.

Vormittags waren zwei Metzgerburschen gekommen, um zwei Kühe abzuholen, die ihr Meister einige Wochen vorher von Peter Wildanger gekauft hatte. Frau Wildanger wußte von dem Handel nichts. Sie sagte den beiden Burschen, sie sollten abends wiederkommen, ihr Mann sei nicht da. Die beiden bestanden aber darauf, die Kühe sofort mitzunehmen, da sie abends schon geschlachtet werden sollten. Die dicke Frau lief aufgeregt im Hause herum, fragte Konrad, jede Magd, den Knecht und den Taglöhner um Rat, erhielt aber keinen und wurde immer aufgeregter.

Schließlich entschloß sie sich, die Kühe herauszugeben. Die beiden Metzgerburschen führten die beiden Tiere aus dem Stall. Frau Wildanger lief, während dies vor sich ging, im Hof hin und her und weinte vor Hilflosigkeit und Angst. 116

Ihre Knie zitterten, ihre Füße drohten ihr abzubrechen. Sie war alle die Tage her in ständiger Bewegung, Sorge und Arbeit. Sie begann schon abzumagern und fühlte sich den vielen kleinen Anstrengungen nicht gewachsen. Und nun noch diese Aufregung wegen der Kühe.

Die Tiere verließen, von den Burschen und Mägden gestoßen und gezogen, träg und traurig den Stall und den Hof. Frau Wildanger sah ihnen die Straße hinauf nach, bis sie verschwunden waren. Dann ging sie in die Stube, setzte sich auf ihren alten Platz und begann zu essen und zu weinen. Ihr Herz ging hoch bis zum Halse und es gelang ihr zu kauen, zu weinen und zu essen. Ihr Atem ging in ein Keuchen, ihr Weinen in ein Wimmern über.

Als etwa nach einer Stunde Konrad das Zimmer betrat, war seine Mutter am Herzschlag gestorben. Er glaubte, sie schlafe. Ihr Kopf lag auf dem Tisch zwischen den Armen, die kerzengerade nach vorne gestreckt, wie zwei schwere Stämme dalagen.

Konrad setzte sich ihr gegenüber und aß etwas, was gerade auf dem Tisch stand.

Erst nach einer Weile fiel es ihm auf, daß die Mutter, die sonst leise zu schnarchen pflegte, so gar kein 117 Geräusch von sich gab. Er betrachtete sie interessiert.

Sie schien nicht einmal zu atmen. Er entsetzte sich vor ihren unmäßig plumpen Armen und ihrem breiten Rücken. Er wiederholte bei sich: »Sie ist eine Leiche.«

Er dachte plötzlich wieder an Lisbeth. Die konnte nicht so ruhen, die konnte nicht so schlafen am hellen Tag. Gedrückt dachte er daran, daß auch er sie fast vergessen, und daß er das Versprechen, das er ihrem Dienstherrn gegeben hatte, nicht gehalten habe.

Er schämte sich, daß er nun teil habe an dem Unrecht, das ihr in diesem Haus angetan werde. Aber war diese schlafende Frau – ihre und seine Mutter – nicht viel schuldiger als er? Hätte sie nicht zu allererst die Rechte ihrer Kinder verteidigen müssen? Ihrer Kinder! Denn auch er hatte ja keinerlei Hilfe bei ihr gefunden. Bis er – stolz dachte er daran und ein leiser, von diesem Stolz geblähter Gedanke eilte hin zu Karla Birn – bis er sich aus eigenster Kraft und Entschlossenheit gegen den Vater aufgelehnt hatte.

Er machte einen unruhigen Gang durchs Zimmer. Sollte er nicht jetzt seiner Mutter ihr großes 118 Unrecht ins Gesicht schreien? Sollte er sie nicht zwingen, Lisbeth zurückzurufen und damit den Vater seiner Herrschaft über das Haus völlig zu berauben?

Ja, ja, das wollte er. Er ging rasch zur Mutter hin und schüttelte sie an den Armen. Umsonst! Er fuhr ihr über das Haar. Umsonst! Er gab ihr einen leichten Schlag auf die Hände. Umsonst . . .

Aber, was war das? Die Hände waren kalt. Die Ahnung von etwas Schrecklichem durchzuckte ihn. Starr stand er und musterte die Mutter. Sie lag ja wie eine Tote.

Er rief und schrie »Mutter«, er schüttelte sie, er hob ihren Kopf, ihre Hände, ihre Arme – er taumelte zurück: Sie war tot! –

Und anders stand ihm nun das schreckliche Wort wie ein Gespenst vor Augen: Eine Leiche! Er entsetzte sich vor sich selbst.

Langsam nur lösten sich ihm die Tränen und er sank über den Tisch und küßte den Kopf der Toten und ließ seine Tränen in ihr Haar fallen und strich ihr dabei zärtlich über die Arme.

So blieb er lange Minuten. Dann ging er schwerfällig hinaus und sagte den Mägden in der Küche weinend: 119

»Meine Mutter ist tot.«

Er ging, wie im Traum, auf die Straße und sagte den Leuten, – jedem der ihm begegnete, weinend –:

»Meine Mutter ist tot.«

Und er ging ins Schulhaus und geradewegs vor die Türe, hinter der jetzt Karla Birn unterrichtete, und trat ohne anzuklopfen ein und sagte weinend: »Meine Mutter ist tot.«

Die Kinder streckten neugierig die Hälse. Einige kicherten. Den andern begann vor Angst das Herz laut zu klopfen. Eines schrie laut auf.

Karla Birn, die gerade an der Wandtafel schrieb, ließ die Kreide fallen und nahm die Brille von den Augen. Ihre Hand zitterte dabei. Die Brille in der Linken haltend, reichte sie Konrad die Rechte. So standen beide einige Sekunden lang da. Die Kinder erhoben sich, teils aus Neugier, teils aus Verlegenheit.

Konrad, der noch nicht wieder zu sich erwacht war, glaubte, es geschehe zu Ehren der Mutter.

Er ging wieder, ohne ein Wort zu sagen.

Karla Birn, die diesem Begebnis nicht gewachsen war, vergrub sich hinter ihr Pult und weinte. Ihre 120 unbestimmte, schwärmerische Meinung vom Manne hatte da eine ungeahnte Bestätigung erfahren.

Doch als nach einigen Minuten die Kirchenuhr die letzte Viertelstunde des Unterrichts anzeigte, erinnerte sie sich der Vorschrift des Lehrplans und ließ die unruhig gewordenen Kinder singen.

Sie nahm die Geige aus dem Schrank, stimmte sie und begann dann das gerade zu übende Lied zu spielen. Die Kinder fielen auf ihr Zeichen ein.

Der kratzende, dünne Ton der Geige und die von der Erregung noch zitternden Kinderstimmen klangen bis zu Konrad hin, der noch immer auf der Straße ging:

»Alles neu macht der Mai, macht die Seele frisch und frei.«

Konrad begann von neuem aufzuschluchzen. Er sagte zu sich: »Dieses Lied ist für meine tote Mutter.«

Als er wieder in die Stube trat, hatte man die Tote weggeschafft und auf ihr Bett gelegt.

In der Stube stand der Polizeidiener und aß die letzten Speisereste auf dem Tische auf und aus dem Schlafzimmer hörte man die Stimme seiner Frau, die das Amt einer Leichenfrau in der Gemeinde versah. 121

Der Polizeidiener gab Konrad die Hand und sagte kauend, da ihm sonst nichts anderes einfiel:

»Eine feste Burg ist unser Gott.«

Er sagte es mit vor Rührung überschlagender Stimme.

Gleich darauf trat seine Frau ins Zimmer, gerade dabei, sich die Schürze, die die Tote angehabt hatte, umzubinden. Sie sah Konrad nicht und meinte: »Die Sachen der Wildanger passen mir, wie für mich gemacht.«

Sie war auch eine kugelrunde Frau.

Als sie Konrad sah, kamen ihr echte, dicke Tränen. Auch sie gab ihm die Hand und sagte:

»Sie hat halt zu wenig Bewegung gehabt.«

Konrad ließ die beiden allein und ging auf sein Zimmer. Dort setzte er sich und starrte vor sich hin, bis die kleine Magd mit verweinten Augen ins Zimmer trat und ihm mitteilte, sein Vater sei soeben zurückgekommen.

Konrad ging hinunter ins Schlafzimmer, fand aber den Vater nicht. Darauf setzte er sich ins Wohnzimmer und rührte kein Auge von dem Platz, auf dem die Mutter zu sitzen pflegte.

Hier bat er ihr alles ab, was er heute und je Häßliches von ihr gedacht oder zu ihr gesprochen hatte. 122

Erst nach einer Stunde entdeckte eine Magd Peter Wildanger im Stall und brachte ihm die Trauerbotschaft.

Er heulte wie ein kleines Kind, rannte ins Zimmer, heulte neu auf, als er Konrad sah, rannte ins Schlafzimmer und warf sich schreiend über die Leiche.

Auch Konrad weinte laut.

Nach einer Weile kam Peter Wildanger zurück und lief schluchzend aus einer Ecke des Zimmers in die andere, so wie er früher in seiner aufgeregten Geschäftigkeit gelaufen war.

Plötzlich blieb er vor Konrad stehen und heulte laut auf:

»Die Mutter ist tot. Jetzt kannst du mich auch ermorden.«

Da sprang Konrad, der, die Ellbogen auf den Knien, den Kopf tief gesenkt hatte, wie von einem Schlag getroffen auf, blickte den Vater wild an, taumelte aber, als er in sein tränenüberströmtes Gesicht sah, und sank auf den Stuhl zurück.

Der Alte erschrak aufs tiefste vor diesem neuen Ausbruch, schlich mehr als er ging in die entgegengesetzte Ecke des Zimmers, in jene Ecke, neben der, hinter dem Tisch, seine Frau zu sitzen pflegte. 123

So blieben die beiden stundenlang, sahen sich manchmal verstohlen an und fühlten Furcht und Granen – einer vor dem andern – und vergaßen darüber fast ihre Tränen um die Tote.

Frug sie jemand etwas, so gaben sie einsilbige Antwort. Sie aßen nichts und tranken nichts und waren beide satt vom Haß gegeneinander.

Als es schon ganz dunkel im Zimmer war, beschlich Konrad das Bedürfnis auch am Tisch zu sitzen, an dem der Platz seiner Mutter gewesen war, und er tappte sich im Finstern zu dem Stuhl, auf dem er ihr gegenüber zu sitzen gewohnt war.

So saßen die beiden wieder eine lange Weile, bis die junge Magd ungeheißen eine Lampe auf den Tisch stellte.

Da schreckten beide auf, starrten sich in die Augen und flohen.

Beide hatten das gleiche schreckliche Gesicht. Jeder sah in dem andern sich selbst – der Sohn in dem Vater seine Zukunft, verbittert und versteint, der Vater in dem Sohn seine Vergangenheit, gedrückt, gestoßen und trotzend.

Die Mutter war ihnen nur noch gleichsam der Rahmen für das Spiegelbild, ein Mittel zum Zweck, etwas Gleichgültiges, etwas Totes. 124

Was ging sie diese Frau an? Der Vater dachte: Warum hat sie mir nicht geholfen gegen den da?, er meinte den Sohn. Der Sohn dachte: Warum hat sie mir nicht geholfen gegen den da! und meinte den Vater.

Am nächsten Tag trauerte keiner von beiden mehr um die tote dicke Frau Wildanger.

Aber sie mieden und flohen sich nicht mehr, sondern ein anderer Haß, als den sie bisher gefühlt hatten, trieb sie zueinander.

Konrad ging aufs Feld arbeiten. Da ging sein Vater aufs gleiche Feld.

Der Vater setzte sich an den Tisch essen. Da setzte sich Konrad ihm gegenüber.

War der Vater im Stall, stand plötzlich Konrad neben ihm. War Konrad in der Küche, fühlte er plötzlich, wie sein Vater unter der Küchentür erschien.

Wie wenn sie sich ineinander verbissen hätten, so waren sie unzertrennlich. Jeder fühlte und fürchtete in dem andern seinen zweiten Schatten.

Mittags ging Konrad zum Schulhaus. Er hoffte Karla Birn zu sehen. Als es ihm nicht gelang, ging er hinauf in ihre Wohnung. Er klopfte an und trat, ohne eine Antwort abzuwarten, ein. 125

Sie las. Er grüßte und stand, ehe sie sich selbst erheben konnte, neben ihr.

Sie nahm die Brille von den Augen und drehte sie verlegen in beiden Händen. Er nahm sie ihr ab und legte sie auf den Tisch.

Sie sah ihn mit großen schwimmenden Augen an und wußte nichts zu sagen.

Er faßte sie am Oberarm und drückte sie wieder auf ihren Stuhl. Dann setzte er sich selbst neben sie.

Sie wurde vor Verlegenheit von einem Schwindel erfaßt. Zitternd setzte sie ihre Brille wieder auf, sah in das Buch und las verwirrt weiter, wo sie stehen geblieben war.

Man hörte im Zimmer nur ein paar Fliegen summen und den Atem Konrads gehen. Konrad atmete wie in schwerer Arbeit. Er wollte eine große Frage an Karla Birn tun, eine Frage nach Liebe.

Karla Birns Augen flogen wie gejagt über die Zeilen des Buches hin. Plötzlich aber, als Konrad seine Hand erhob und sie über den Tisch zu strecken im Begriffe war, begann sie laut zu lesen:

»Denn – so sagt Sankt Paulus – der Geist des Herrn kommt im Verborgenen von oben hernieder und wirket, wo und wie und wann er will: in dem, 126 bei dem er kein Hindernis findet. Das sind die Kinder Gottes, sie lassen sich vom Geiste Gottes leiten.«

Da stand Konrad sehr langsam auf und es wurde ihm feierlich zumute. Karla Birn erhob den Blick zu ihm und legte ihre Hände über dem Buch zusammen.

Konrad hörte immer noch ihre sanfte Stimme die sanften Worte sprechen. Und in diesen leisen Ton schwangen sich Töne einer Geige und greller Kinderstimmen: »Alles neu macht der Mai, macht die Seele frisch und frei.«

Und er sprach vor sich hin, ohne daß die Worte hörbar wurden:

»Das sind die Kinder Gottes, sie lassen sich vom Geiste Gottes leiten.«

Eine lange Stille war um beide und hob sie über sich hinaus. Diesen trotzigen, in sich vergessenen Jungen und diese kleine, dumme Schulmeisterin. Konrad fragte stockend und leise:

»Muß man denn fromm sein?«

Karla Birn zog die Stirne hoch und legte eine Hand über die Augen:

»Ich weiß es ja nicht. Niemand sagt es einem. Der Pfarrer ist ja selbst nicht fromm.« 127

Sie sagte dies angestrengt und gequält.

Konrad setzte nach einer Pause das Gespräch fort. »Wenn man fromm sein müßte, dann müßte man ja ganz anders leben.«

»Ja, man müßte . . .«

Karla Birn wußte nicht weiter. Sie durchflog rasch ihre Gottesgelehrtheit, die sie im Lehrerseminar aufgestapelt hatte, fand aber nichts darin, was ihr jetzt hätte weiterhelfen können. Dabei dachte sie daran, daß sie doch in der Religion immer eine sehr gute Note hatte. Freilich fiel ihr auch ein, daß man sie immer geneckt hatte, weil ihre Noten in der Religion um vieles besser waren als in den andern Lehrgegenständen.

Ihr Gesicht wurde von dieser Erinnerung über und über rot.

Konrad sah es und wurde benommen von diesem Anblick. Es wurde heiß in ihm. Er wollte um den Tisch herum zu Karla Birn und ihr zu Füßen stürzen. Aber er blieb, wo er stand, und die Ratlosigkeit brannte ihm wie eine züngelnde Flamme auf der Haut.

Karla Birn hatte den Kopf auf das Buch gesenkt. Die große, jedes Wortes spottende Stille zwang sie weiterzulesen. Aber sie las gegen ihren Willen laut: 128

»Soviel von der Selbsterkenntnis. Das zweite Erfordernis ist: Gott zu erkennen. Da ist die Mahnung am Platze, die Sankt Dionysus an einen seiner Jünger richtete: Auf! Herzensfreund, entschlage dich aller Dinge und tue dein Selbst ab, auf daß du das höchste Gut gewahrest.«

Was sie las, waren Worte des großen Meisters Ekkehard.

Sie hatte die Aufforderung des Sankt Dionysus mit leicht erhobener, schöner Stimme gelesen.

Konrad hörte mit wallendem Blut das eine Wort »Herzensfreund« und die Mahnung »Tue dein Selbst ab«.

Er sagte weich:

»Das ist so schön. Ist aber nicht alles, was in Büchern steht, schön? Jedoch – wie darnach leben?«

Karla Birn antwortete:

»Nur Heilige können so leben. Wir lesen es und freuen uns daran, weil es so schön zu lesen ist.«

Da lachte Konrad kurz auf, wie wenn er sagen wollte:

»Ach so, das ist alles nur gedichteter Schwindel!«

Er ging zur Tür. Er fand, daß diese Karla Birn ziemlich dumm sei. Hätte sie jetzt, so sagte er sich, während er von der Tür aus auf sie schaute, die 129 Mahnungen dieses Buches ihm ins Leben hineingedeutet, er hätte vielleicht versucht, darnach zu leben. Aber so . . .

Er ging mit kurzem Gruß. Es war leer in ihm und er wünschte sich statt der Mutter gestorben.

Karla Birn sah ihm vom Fenster aus nach. Sie fragte sich immer wieder, was dieser Konrad Wildanger für ein Mensch sei. Sie sah ihn gleichgültig die Straße hinaufgehen. Er wurde von einigen Leuten angehalten, die ihm die Hand drückten. Das war wohl wegen des Todes seiner Mutter.

Sie kehrte zu ihrem Buche zurück und wollte weiterlesen. Aber sie konnte nicht. Das Buch schien ihr entwertet. Sie stellte es zu den andern.

Als Konrad heimkam, stand mitten im Zimmer seine Schwester Lisbeth und am Platze der Mutter saß sein Vater.

Lisbeth hatte verweinte Augen. Peter Wildanger sah gelb aus und starrte in ein Notizbuch, in dem er gerade gerechnet zu haben schien.

Lisbeth reichte Konrad die Hand und schneuzte sich dann heftig, aber ohne zu weinen.

Als Konrad Lisbeth sah, bekam er ein starkes Herzklopfen. Er dachte an seinen Besuch bei ihr, seit dem doch erst einige Wochen vergangen waren, wie an ein 130 frühes, vergessenes Abenteuer zurück. Es kam ihm jetzt schon fast knabenhaft vor.

Er sah zu seinem Vater hinüber, der die Augen immer noch auf das Notizbuch gesenkt hielt.

Was mochte der Alte zu Lisbeth gesagt haben? Vielleicht hat er sich hinter seinen Tränen um die Mutter versteckt. Vielleicht auch hat er Lisbeth beschimpft. Bei diesem Gedanken zitterte Konrad.

In Wirklichkeit hatte Peter Wildanger seiner Tochter die Hand gegeben, fast ohne sie anzusehen, und ihr gesagt, sie solle Platz nehmen.

Lisbeth hatte den Tod ihrer Mutter durch Gott weiß wen und nur ganz zufällig erfahren und sich sofort auf den Weg gemacht. Ohne Furcht, aber auch ohne große Erwartungen auf Versöhnung und derlei.

Sie stand schon einige Minuten im Zimmer, wie wenn sie dadurch erst wieder im elterlichen Hause Wurzel fassen wollte.

Nun aber wurde sie ungeduldig und ging, ohne ein Wort zu sagen, in die Küche, um dort Hand anzulegen.

Konrad setzte sich. Er saß gedankenlos da. Sein Vater hatte sich wieder zu den Zahlen und Rechnungen zurückbegeben. 131

Er rechnete und rechnete, bis er sein Resultat hatte: was nämlich seine Frau in die Ehe eingebracht habe und was dann als Errungenschaft des gemeinsamen oder vielmehr seines Fleißes dazugekommen sei.

Er kam zu dem Ergebnis, daß seine Frau ein Vermögen von sechzigtausend Mark ihm zugebracht und daß er es verdoppelt hatte.

Den beiden Kindern fiel demgemäß eine erkleckliche Summe als mütterliches Erbteil zu. Freilich, Konrads Anteil blieb bis zu dessen Volljährigkeit seiner Verfügung unterstellt.

Aber Lisbeth bekam nun viel, viel Geld von ihm. Und sie würde es doch sofort verlangen!

Nun erst sah er den Tod seiner Frau im rechten Licht: er war ein Schlag gegen ihn.

Er blieb äußerlich ruhig, während er daran dachte. Aber in seinem Innern kochte die Wut auf gegen die Kinder und gegen die tote Frau.

Sein Lohn für all die Arbeit vieler Jahre war Macht und Besitz. Und dieser Lohn drohte ihm jetzt vollends verloren zu gehen. Zuerst brach sich seine Macht an der Unbotmäßigkeit dieses trotzigen Buben da, der still und drohend vor ihm saß, und 132 nun sollte er auch auf einen Teil seines Geldes und Feldes verzichten.

Wie es verhüten? Vielerlei Pläne wirbelten ihm durch den Kopf, aber keiner, an dessen Gelingen er glauben durfte. Er fühlte sich verlassen, preisgegeben, verraten, verloren, vernichtet. Er hatte ein unbegrenztes Mitleid mit sich selbst und wurde nicht müde, leise zu seufzen.

Dem Sohn entging die Gemütsbewegung des Vaters nicht. Er sah heimlich auf ihn und hätte gern gewußt, was in dem Vater vorging.

Peter Wildangers Augen irrten langsam von den Zahlen fort ins Zimmer und blieben an jedem Stuhl und an jedem Schränkchen haften mit der Frage: »Gehörst du mir oder gehörst du denen dort?«

Dieses Fragen machte ihn wirr und heiß und er saß da – ein giftig dampfender Vulkan.

Schließlich blieben seine Augen auf Konrad haften. Ganz automatisch stellte sich ihm auch jetzt die Frage: »Gehörst du mir?«

Von ungefähr trafen sich die Blicke beider, Konrad sah den Vater gelassen und etwas neugierig an. Da verlor dieser die Fassung. Er sprang auf, 133 stürzte zu Konrad hin und fragte ihn mit bebender leiser Stimme:

»Gehörst du mir?«

Peter Wildanger hatte die Arme krampfhaft nach unten gestreckt und die Fäuste steinern geballt. Durch das offene Fenster drang Lärm von heimkehrenden Wagen und Arbeitern herein. Die Hitze des Tages begann sich langsam abzukühlen. Die Sonne spielte auf der weißgetünchten Wand des gegenüberliegenden Hauses.

Das war alles so friedlich und Konrad war davon benommen.

Die merkwürdige Erregung des Vaters erschien ihm als ein Teil dieser Stimmung. War es nicht ein Wunder, daß dieser Mann vor ihn, den bisher geknechteten Sohn, trat und ihn fragte, ob er ihm gehöre! Konrad wurde, so sehr mißverstand er die Frage des Vaters, von Rührung übermannt.

Er griff nach den Fäusten des Vaters und lehnte seinen Kopf gegen ihn.

Peter Wildanger sah auf seinen Sohn herab und blinzelte verlegen. Was war das? War das Rückkehr unter seine Gewalt oder war das nur Betrug und Täuschung? 134

Er befreite seine rechte Hand und legte sie schwer auf Konrads Kopf.

Konrad hörte Karla Birns Stimme sagen. »Herzensfreund, entschlag dich aller Dinge und tue dein Selbst ab, auf daß du das höchste Gut gewahrest.« Er sank vor seinem Vater in die Knie. Die Augen brannten ihm. Aber in seinem Inneren war nun eine reine, große Ruhe. Er dachte an das andere, was Karla Birn gelesen hatte, und machte jubelnd die Entdeckung, daß sich der andere Satz nun an ihm und seinem Vater erfüllt habe: »Der Geist des Herrn kommt im Verborgenen von oben hernieder und wirket wo und wie und wann er will in dem, bei dem er kein Hindernis findet.«

Wieviel Hindernisse hatte er (und wohl auch sein Vater) jenem großen Geiste entgegengesetzt! Wie schlecht und töricht war das gewesen!

Nun aber, dachte Konrad, war ein Wunder geschehen. Er kniete noch, als der Vater das Zimmer schon längst verlassen hatte. Er bedeckte sich das Gesicht mit den Händen und hatte die große Fröhlichkeit des wahrhaft Frommen, da er nun erkannt zu haben glaubte, daß es über allen Menschen einen guten mächtigen Geist gab, dem man sich öffnen und 135 hingeben müsse, um ihn nicht nur über sich, sondern in sich zu haben.

Konrad erhob sich, trat mit sich dehnendem Körper ans Fenster und sah mit großen Augen der entschwindenden Sonne nach.

Dann ging er, wie wenn es so sein müßte, ins andere Zimmer an das Bett, in dem der Leichnam seiner Mutter lag, und sah sie lächelnd an.

Plötzlich stand Lisbeth neben ihm. Sie war, als sie den Vater in den Hof gehen sah, hereingekommen und wollte noch einen Blick auf die Mutter werfen. Konrad erschrak nicht, als er merkte, daß die Schwester, die er nicht gehört hatte, neben ihm stand. Er meinte, das müsse so sein.

Lisbeth betrachtete die Mutter mit neugierigen Augen, stellte fest, daß sie in den letzten Jahren sehr dick geworden sei und daß das Leichenhemd schöner und reiner sein könnte, und ging dann wieder. Auch dies, ohne daß es Konrad aufgefallen wäre.

Er ging in sein Zimmer, nahm seinen Cicero vor und versuchte, das aufgetragene Ferienpensum zu übersetzen.

Peter Wildanger arbeitete wie ein Besessener im Hof herum. Er war aufgetaut. Da er überzeugt war, daß es nun mit dem Widerstand seines Sohnes 136 endgültig vorbei sei, freute er sich unbändig. Langsam und sicher fand er sich wieder in sich selbst und in seinem Hause zurecht.

Sein Sohn gehörte nun wieder wie ein Stuhl oder ein Pferd ihm. Und um den Besitz jedes Stuhles und jedes Pferdes werde er nun schon mit Lisbeth rechten und kämpfen. Er werde ihr eine Rente zahlen, mochte sie auch mehr betragen als die Zinsen ihres mütterlichen Vermögens, wenn ihm nur dieses Vermögen selbst blieb.

Er ließ seine Augen im Hof herumwandern, fand alles in Unordnung und lächelte bei dem Gedanken, daß man halt merke, wie er in der letzten Woche seine Arbeit nicht getan habe.

Er machte sich sanfte Vorwürfe, so wie man sie einem kranken Kinde macht. Sogleich begann er zu arbeiten und war bei jeder kleinen Verrichtung freudig erregt.

Allmählich kam ihm auch wieder der Tod seiner Frau in den Sinn. Er dachte: Arme Frau! dachte aber zugleich auch daran, daß nun ein Esser weniger im Hause sein werde.

Er hatte gerade die Axt ergriffen, um Holz zu spalten, und als er zum ersten Hieb ausholte, konnte er sich nicht enthalten zu sagen: 137

»Und was für ein Esser!«

Wildanger freute sich der Arbeit und seiner Kraft, mit der er sie mühlos bewältigte. Seine Hände legten sich, so oft er losschlug, so fest um den Stiel, als wollten sie ihn zerkneten. Der kleine Mann fühlte sich wieder auf der Höhe.

Aber schließlich kam er doch an ein feuchtes Wurzelstück, dessen Zerkleinerung ihm nicht gelingen wollte. Er geriet in großen Schweiß und in noch größere Wut. Immer wieder versuchte er die Schneide der Axt in das zähe Wurzelwerk hieinzuzwingen, immer wieder prallte die Axt wie ein stumpfes Stück Eisen davon ab. Wildanger quälte und ärgerte sich wie ein kleines Kind.

Da öffnete sich plötzlich das Tor und herein trat ein junger Riese. Ein Bursch von fast zwei Meter Länge, dabei breitschultrig und von sichtlich derben Knochen. Ein Bein zog er beim Gehen nach; es schien steif zu sein. Auf dem ganz kurz geschnittenen Haar saß eine Soldatenmütze.

Der junge Kerl grüßte. Wildanger sah ihn kaum an und mühte sich mit seinem Wurzelstück weiter ab, immer vergebens.

Dem sah der Riese eine halbe Minute zu. Dann spuckte er in die Hände, ging zu Wildanger hin, 138 nahm dem erstaunten Männchen die Axt aus der Hand und schlug das zähe Holz mit zwei oder drei Hieben kurz und klein.

Dann stützte er die Axt, die in seiner Hand wie ein kleines Beil aussah, auf den Holzklotz und sah Wildanger lachend an. Wildanger lachte mit. Und schließlich freuten sich beide lauter, als es in einem Trauerhause geziemend ist, der vollbrachten Tat.

Bis Wildanger sich besann und fragte, was der andere wolle und vorhabe.

Der antwortete, er habe gehört, daß hier ein Knecht gebraucht werde.

Dem war so. Wildanger fragte nach dem Wie und Woher und vernahm, daß der Riese Michel Steinert hieß, vor kurzem vom Militär entlassen worden war, weil er sich bei einem Sturz die Kniescheibe verletzt hatte und das Bein steif blieb, und nun, wie früher, in einem Bauernhof unterkommen wollte.

Wildanger besah sich den Michel sehr genau und sagte dann gleichgültig:

«Einen Krüppel kann ich nicht gebrauchen.«

»Krüppel?« lachte Michel Steinert und sah auf das von ihm in kleine Bröckchen zerhackte Wurzelstück.

»Ein Knecht muß auch springen können.« 139

»Kann ich!«

»Mit dem Bein?«

»Ja!«

»Und darf nicht krank werden.«

»Werd' ich nicht!«

»Mit dem Bein?«

»Nein!«

Wildangers Augen sprangen an dem Riesenkerl auf und ab, wie wenn sie noch rasch einen Leibesschaden entdecken wollten.

Aber der große Kerl gefiel dem kleinen Männchen. Wildanger hieß ihn das Holz zu Ende hacken.

Michel Steinert machte sich an die Arbeit. Wildanger sah zu.

Dann hieß er ihn Wasser tragen, den Hof kehren, das Vieh füttern. Michel Steinert tat alles mit flinken und leichten Gliedern. Und Peter Wildanger sah mit zunehmendem Gefallen dieser Arbeitsmaschine zu.

Am Abend wurden sie handelseinig. Michel Steinert, der nichts besaß als was er auf dem Leibe trug, blieb gleich im Hause.

Noch am gleichen Abend kam er mit Lisbeth in ein Gespräch. Und Lisbeth fand an dem Riesen noch mehr Gefallen als ihr Vater. 140

Sie strich ihm noch am Abend wohlgefällig über sein schwarzes dichtes Haar, so daß er übers ganze Gesicht lachte, und als sie zu Bett ging, dachte sie bei sich: Das ist einer! 141

 


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