Hermann Sinsheimer
Peter Wildangers Sohn
Hermann Sinsheimer

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Dies geschah an einem Dienstag. Die folgenden Tage blieb Konrad gleichgültig gegen alles, was um ihn war und um ihm geschah. Er zehrte von diesem einen übervollen Tag. Nun tat er seinem Vater wieder Schreiberdienste und besorgte für ihn auch sonst allerhand Geschäfte. Einmal ging er sogar für ihn in die Stadt. Dort wagte er sich in eine feine Wirtschaft und trank zwei Gläser Bier. Das hatte er bisher noch nie getan. Denn er trank überhaupt nicht gern Alkohol.

Stundenlang saß er auch in diesen Tagen hinter seinen Schulbüchern und lernte ernstlich, aber ohne Interesse. Er übersetzte sogar eine ganze Seite Cicero schriftlich ins Deutsche und den deutschen Text, einer Anleitung des Lehrers folgend, ins Griechische. Den Versuch, dieses Griechische nun wieder, unabhängig von Cicero, ins Lateinische zu übertragen, gab er bald als aussichtslos auf. 62

Dabei kam ihm leise die Frage: Wozu treibe ich das alles? Und gleich darauf antwortete er sich lachend mit dem Worte der Magd: Du Dummkopf! Diese Arbeit und die Arbeit, die er für seinen Vater tun mußte, machte Konrad müde. Es kam hinzu, daß die Sonnenhitze immer drückender wurde. Der arme Junge fühlte sich todmüde. Eine tiefe Gleichgültigkeit bemächtigte sich seiner. Er beachtete nicht mehr die kleine Magd, die es ihrerseits immer noch auf ihn abgesehen hatte, und er fand es in der Ordnung, daß der Vater schimpfte und daß die Mutter seufzte, aß und schlief. Von den Erregungen seiner Seele war nur das dumpfe Gefühl der Feindschaft gegen die Menschen seiner Umgebung zurückgeblieben.

Am Freitag saß er abends wieder vor dem Hoftor. Da kam der Bürgermeister mit dem Gemeindediener vorüber. Er grüßte sie gleichgültig. Der Bürgermeister hielt in seinem gespreizten Gang ein und fragte Konrad, ob sein Vater die Ernte schon ganz unter Dach habe. Bevor Konrad eine Antwort gab, nahm er sich noch Zeit zu der Wahrnehmung, daß der Bürgermeister beim Stehenbleiben seine Beine, langsam täppelnd, hart zueinander bringt, so daß es aussah, als ob er nach dem Einhalten 63 noch einen zweiten kleinen Weg zurücklege. Konrad freute sich über diese Wahrnehmung. Dann antwortete er träge, er glaube, das »Zeug« sei nun alles in der Scheune.

Diese Antwort mußte einen schlechten Eindruck machen. Ambrosius sagte darum begütigend.

»Ja, die Herren Studenten können sich nicht um die Landwirtschaft kümmern. Sie haben ihr Korn in den Büchern und das will auch eingeschafft sein, in die Scheune.«

Dabei deutete er mit einem Zeigefinger auf seine hohe Stirne.

Der Bürgermeister sagte:

»Konrad, du und dein Vater, das sind zwei Rassen. Er ist ein Schaffer und du bist ein Grübler.«

»Er schlägt der Mutter nach,« meinte der Polizeidiener.

»Und die Lisbeth ist mehr der Vater,« vervollständigte der Bürgermeister.

»Das heißt: im Aeußern ist der Konrad eher dem Vater ähnlich und die Lisbeth der Mutter.«

Darauf gingen beide. Konrad fühlte einen heftigen Schrecken. Er vergaß sogar den Gruß der Männer zu erwidern.

Durch seinen Kopf ratterte ununterbrochen der 64 Name Lisbeth. Seine Lippen bewegten sich automatisch und sprachen sogar den Namen aus, einmal, zweimal, zehnmal. Er hatte ganz darauf vergessen, daß er am übernächsten Tage, am Sonntag, zu ihr gehen wollte.

Nun hatte er Angst vor diesem Entschluß. Was sollte er bei ihr? Was wollte er von ihr? Hatte sie ihn gerufen? Er war jetzt überzeugt, daß sie ihn entweder auslachen oder beschimpfen würde. Sie haßte ihn sicher, ihn so gut wie den Vater und die Mutter. Oder sie würde ihn vielleicht, dachte er sich, wie einen kleinen, dummen Jungen behandeln. Das wäre ihm, wie er jetzt gestimmt war, noch das Liebste gewesen.

Er ging träge in sein Zimmer und mit schwerem Kopf zu Bett. Er legte sich die Frage vor, wie er nur diesen Brief hatte schreiben können und wozu er ihn eigentlich geschrieben hatte. Anderseits dachte er nicht einen Augenblick daran, seinen Entschluß, zu Lisbeth zu gehen, umzustoßen. Aber der Entschluß war ihm fremd geworden. Er lastete auf ihm wie der Befehl eines fremden Menschen. Er fühlte, daß er gehen mußte.

Den ganzen Samstag schlich er müde im Haus herum. Sein Vater schimpfte wieder einmal 65 ununterbrochen und mit jedem, der ihm in den Weg kam. Konrad hatte zum ersten Male wieder Angst vor ihm. Manchmal glaubte er, sein Vater müsse erraten, müsse es ihm ansehen, was er am nächsten Tage vor habe. Und manchmal kam ihm sogar der Wunsch, er möge es erraten. Dann hätte es einen Kampf gesetzt, und gegen den Vater wäre er sicher wieder für Lisbeth eingetreten. Er hätte sich für sie schlagen lassen und hätte sie desto mehr geliebt, je gehässiger der Vater auf sie geschimpft hätte.

Da aber dieser Anreiz fehlte, konnte er sich nicht verhehlen: Lisbeth war ihm heute wieder ziemlich gleichgültig. Er suchte schon, ohne es sich einzugestehen, nach einer Ausrede, um den Besuch unterlassen zu können. Aber er fand keine, die vor ihm selber Bestand gehabt hätte.

Nachmittags versuchte er sogar, mit der Mutter in ein Gespräch über Lisbeth zu kommen. Aber die Mutter wich seinen Anspielungen mit Seufzen und Augenaufschlagen aus. Schließlich fragte Konrad rund heraus:

»Warum liebst du deine Tochter Lisbeth nicht?«

Damit hatte er die Schleuse für einen Gießbach von Tränen geöffnet. Nun konnte seine Mutter weinen und nun fühlte sie sich geborgen und nun 66 war Konrad entwaffnet. Er hätte aufschreien mögen vor Wut. Es war ihm, als ob, wohin er auch sähe, sein Blick auf starre, dunkle Mauern falle, auf totes Gestein. Sein Vater war doch noch einer, der haßte und schimpfte und schlug. Aber seine Mutter – sie war kein Mensch. Die einzige Empfindung, die er, seit er sich erinnern konnte, an ihr wahrnahm, war das Gekränktsein.

Er verließ rasch das Zimmer, da er die Tränen der Mutter nicht mehr ertrug, und ging hinauf in seine Stube. Hier kämpfte er vor lauter bitterer Verzweiflung selbst mit den Tränen – er, der niemals weinte, so oft ihn auch der Vater kränken und schlagen mochte.

Eines aber wußte er nun: er mußte, mußte zu Lisbeth gehen. Er wurde ganz ruhig und sah dem Besuch wie einem großen Ereignis entgegen.

Am Sonntagmorgen verließ er das elterliche Haus, ohne ein Wort darüber zu verlieren, daß er erst am Abend nach Hause kommen werde. Er hatte gute zwei Stunden Wegs vor sich. Er beeilte sich nicht, sondern blieb oft stehen und dachte an seine Eltern und an Lisbeth. Es fiel ihm auf, daß er mit dem Begriff Vater und Mutter nie im Leben jenen Sinn habe verbinden können, den er aus dem 67 Religionsunterricht und aus Geschichten und Romanen kannte. Er fragte sich zögernd: Bin ich nicht elternlos? Bin ich nicht eine Waise? Und er stellte sich unbedenklich die Möglichkeit vor Augen, daß seine Eltern heute oder morgen sterben würden, – was wäre dann? Er würde wohl Tränen vergießen, aber dann glücklicher leben als vorher.

Und Lisbeth? Was suchte er bei ihr? Er fand als Antwort das eine Wort, das ihn verlegen machte: Liebe. Er konnte sich nichts Rechtes und Beständiges darunter vorstellen, solange er auch nachdachte. Wo war die Liebe, von der nach den Worten des Pfarrers die ganze Welt erfüllt ist? Seine Eltern liebten sich nicht und liebten ihre Kinder nicht. Er liebte seine Eltern nicht, Lisbeth liebte sie nicht. Liebte nun Lisbeth ihn und er Lisbeth?

Mit dieser kindlichen Frage schritt er dem Dorf entgegen, in dem Lisbeth diente. Alsbald stand er auch vor dem Haus ihres Dienstherrn. Mit starkem Herzklopfen betrat er es und fragte nach der Lisbeth Wildanger. Sie sei oben bei ihren Kindern, bedeutete ihm eine alte Frau mit schneeweißem Haar und zeigte ihm die Treppe, die er gehen müsse. Er stieg überaus langsam hinauf und sah sich vor drei geschlossenen Türen. An jeder klopfte er mehrere Male 68 an, ohne Antwort zu bekommen. Endlich hörte er über sich Kindergeschrei und fand denn auch eine weitere Treppe, die zu einer Dachkammertüre führte. Er glaubte vor Aufregung umzufallen, als er auch die Stimme seiner Schwester hörte.

Er stand wohl fünf Minuten vor der Türe und horchte. Seine Schwester schimpfte unaufhörlich und die Kinder hörten nicht auf, zu kreischen und zu lachen. Als er schließlich sich ermannte und anklopfte, gab es noch ein letztes verstärktes Aufschreien, dann aber trat eine beängstigende Stille ein. Man merkte daran, daß hier Besuch selten war, der anklopft, bevor er eintritt.

Die Tür ging in einem erstaunten Tempo auf und die Geschwister standen sich gegenüber.

»Du bist gewiß der Konrad,« sagte Lisbeth.

Konrad schwieg und sah Lisbeth so starr an, als ob er ihr Bild in sich hineinschlingen wollte. Lisbeth sah im Grunde nicht anders aus, wie eben eine abgearbeitete, aber kräftige Bauernmagd aussieht.

Immerhin fiel Konrad mancherlei an ihr auf: Sie hatte die Arme leicht gebogen, so daß die Hände über die Seiten des Körpers hinausragten. Die Finger waren weit gespreizt, als ob sie immer zugreifen wollten. Die Hände waren klein und 69 fleischig. Ihrem Gesicht merkte man an, daß es einst blühend ausgesehen hatte. Jetzt sah es schon etwas angewelkt aus. Nur die Augen waren jung, lebhaft, unermüdlich. Eines fesselte Konrad ganz besonders; Lisbeth hatte einen Ueberfluß von tiefschwarzem Haar, das sich nicht leicht um den Kopf herum unterbringen ließ und bald da, bald dort in fliegenden Strähnen lose hing.

Konrad gab der Schwester in wahrhaft freudiger Aufwallung beide Hände, ohne ein Wort zu sagen. Sie zog ihn ins Zimmer, zeigte ihm ihre Kinder und nannte ihm vier Namen. Es waren vier Knaben. Ihn selbst stellte sie lachend als den Onkel Konrad vor. Die Kinder drückten sich still in die Ecke; sie waren fremden Besuch nicht gewohnt.

Lisbeth nahm ihren Bruder bei den Schultern, setzte ihn auf einen Stuhl und sah ihn an:

»Also so sieht mein feiner, studierter Bruder aus. Etwas blaß und schmal, aber sehr zierlich.«

Damit klopfte sie ihm wie einem Kinde auf beide Backen. Konrad war sehr glücklich. Er lachte ganz selig vor sich hin und dachte nicht daran, auch etwas zu reden. Die Schwester war einen Kopf größer als er. Er nahm sich kaum anders neben ihr aus, als wenn er ihr Sohn wäre. 70

Er erstaunte, wie schlau und wie schön sie sich ihr Leben eingerichtet hatte. Sie war bei den guten, alten Leuten die einzige Magd und auch zugleich, da sie als treu und tüchtig befunden wurde, die Aufseherin über die Taglöhner. Allmählich maßte sie sich, ohne herrisch zu sein, vielmehr nur aus ihrem Temperament und Arbeitsdrang heraus, auch eine Art von Herrschaft über die alten Leute selbst an. Diese hatten Kinder, die längst verheiratet waren und in der Stadt wohnten. Die Kinder sahen das Schalten der Magd nicht ungern, weil sie wußten, daß es ihrem künftigen Erbteil zugute kam. Darum unterstützten sie sogar, wenn es nötig wurde, die Autorität der Magd gegen die Eltern. Ueberdies war Lisbeth nicht nur treu und arbeitsam, sondern auch eine seelengute Person.

Sie hatte zwei Zimmer unterm Dach, in denen sie mit ihren Kindern hauste, d. h. aß und schlief. Sonst gehörte das ganze Haus ihr und den Kindern, und die beiden alten Leute hüteten die Kleinen, wie wenn es die eigenen Enkel wären. Nur so oft Lisbeth in andere Umstände kam, wurden die Alten etwas unwillig und störrisch, aber mehr unter sich und hinter dem Rücken der Lisbeth, vor der sie eine viel zu große Furcht hatten, um offen mit ihr zu 71 reden. Vielmehr gab Lisbeths Muttersegen stets Anlaß zu ehelichen Zerwürfnissen zwischen den beiden. Der Alte, den die Unbotmäßigkeit und Ungeniertheit der Magd am meisten ärgerte, versteckte diesen Aerger hinter Witzen und Lachen über Lisbeths Liebesdurst. Das wurmte seine Frau und sie schalt mehr auf ihren Mann als auf Lisbeth. Es kam geradezu dahin, daß er die Bedenken seiner Frau mit seinem Kichern totschlug und daß sie die Lisbeth gegen das Kichern ihres Mannes in Schutz nahm. Wenn dann das Kind zur Welt kam, so wurde es von den beiden Alten wie eine Erlösung aus unerquicklichen Debatten begrüßt und geliebt. Lisbeth wußte aber von alledem nichts und liebte und gebar, wie es ihr gefiel.

Welchen Eindruck das alles auf Konrad machte! Er stand bewundernd vor dieser kleinen und in ihrer Selbständigkeit doch großen Existenz der Schwester. Er hatte gehofft, was er sich erst jetzt eingestand, von sich und seinem bedrängten Leben mit der Schwester sprechen zu können. Aber er wagte kein Wort davon, ohne es allerdings zu bedauern. Denn er sah hier mehr, als ihm Rat und Zuspruch hätte werden können: er sah hier ein Vorbild und eine Aneiferung. 72

Lisbeth ließ ihn mit den Kindern allein, da sie zu arbeiten hatte. Es dauerte eine Weile, bis die Kleinen zu dem Großen hinfanden. Dann aber war er bald gefragt, wie er denn heiße, und dann war er auch schon Konrad da und Konrad dort und Konrad an allen Enden. Vom Onkel war keine Rede. Er wurde zu allerhand Kunststücken angehalten, Hüpfen, Reiten und Schaukeln, und als das Kleinste zu schreien anfing, da mußte es Konrad auf Geheiß des Aeltesten aus der Wiege nehmen und herumtragen.

Er war zuerst etwas befangen; bald aber gefiel er sich in diesen kleinen Spielen und Verrichtungen, die ihm aufgenötigt wurden. Er wurde heiter und fühlte, vielleicht zum ersten Male in seinem kärglichen Leben, die Möglichkeit in sich, ausgelassen zu werden und das Unterste zu oberst zu kehren. Das Zimmer war bald voll von Kichern, Lachen und Schreien. Und als Lisbeth unversehens zurückkehrte, fand sie ein Bild des ungeordnetsten, außer Rand und Band geratenen Familienlebens vor. Sie lachte laut auf, legte dem Brüderlein einen Arm um die Schultern und sah ihm fast zärtlich in sein Milchgesicht. Dann überbrachte sie fast feierlich eine Einladung ihrer Dienstherrschaft zum Mittagessen. 73

Sie zog die drei ältesten Kinder rasch so sauber und sonntäglich an, wie es nur ging und legte dann den immer noch schreienden Säugling an ihre Brust, ohne sich um Konrads Anwesenheit zu kümmern. Konrad saß, während das Kind trank, andächtig da und wehrte den andern Kindern, die von ihm unterhalten sein wollten. Er hieß sie, ohne daß es Lisbeth merkte, stille sein und nahm je eines in seinen Arm und das dritte auf die Knie, um Ruhe zu haben und Ruhe zu halten. Er war plötzlich in das rührendste Familienidyll eingeschlossen.

Vor dem Essen bei fremden Menschen fürchtete er sich. Aber durch Lisbeths unbekümmerte, kecke Art bekam alles den Anschein des Selbstverständlichen und fast des Herzlichen. Die beiden alten Leute begrüßten Konrad wie einen feinen Herrn, erkundigten sich, ob er Arzt, Rechtsanwalt oder Pfarrer werden wolle, und versicherten übereinstimmend, daß diese Berufe tausendmal schöner seien als der des Landwirtes. Der Mann erzählte, er habe auch einen Bruder gehabt, der studieren wollte; der habe aber anno 48 Dummheiten gemacht und sei nach Amerika geflohen. Dort habe er jetzt ein großes Hotel und sei ein reicher Mann geworden.

Man setzte sich zu Tisch. Konrad merkte, daß die 74 Kinder seiner Schwester beim Essen sehr artig waren und freute sich darüber wie ein rechter Onkel gesetzten Alters. Lisbeth führte bei Tisch das Wort. Sie sprach von der Feld- und Hausarbeit der letzten und der nächsten Tage und von den Kindern.

Nach Tisch blieb Konrad mit dem alten Manne allein. Die Kinder gingen in den Hof, Lisbeth und die Frau in die Küche. Das Essen war gut und reichlich gewesen. Konrad erinnerte sich nicht, zu Hause jemals so gut gegessen zu haben.

Der Alte zündete eine Pfeife an, räusperte sich auf vielfältige Art, die den Genuß des Essens doppelt und dreifach beglaubigen sollte, und sagte dann, um etwas gesagt zu haben:

»Sie wollten also einmal nach Ihrer Schwester sehen, Herr Wildanger!«

Bei diesen Worten dachte Konrad erst wieder daran, wie er dazu gekommen war, seine Schwester zu besuchen, und wieviel Bedenken ihn der Entschluß gekostet hatte. Er schämte sich dessen und antwortete mutig:

»Ja, ich habe meine Schwester besucht, weil ihr von meinen Eltern so großes Unrecht geschieht.«

Dies verstand der Alte sehr gut, der übrigens ein geradezu frommer Mann war und in der Kirche 75 einen der Presbyterstühle inne hatte. Er sagte leise und in einem Tone, dem man eine heimliche Angst anmerkte:

»Eigentlich wäre es ja auch für Ihre Schwester besser gewesen, nach dem ersten Kinde zu heiraten.« Nach einer Weile setzte er nicht ohne Schmunzeln hinzu:

»Wenn das nur immer so ginge!«

Das sah auch Konrad ein: einerseits, daß es besser gewesen wäre zu heiraten, und andererseits, daß das nicht immer so geht. Er fühlte sich jetzt als reifer Mann und wußte dem Alten Dank, daß er so offen mit ihm sprach.

Der Alte ging aber nun weiter:

»Solange wir leben, ist die Lisbeth ja geborgen. Wir können sie nicht entbehren und wollen es auch gar nicht . . . Aber dann? Da müssen Sie mal mit Ihren Eltern reden.«

Konrad erschrak. Er sah sich vor eine Aufgabe gestellt, an die er noch nie gedacht hatte. Er sollte – er, der ohnmächtige Junge – Lisbeths Sache vor seinem Vater führen; er sollte den Vater zwingen, über kurz oder lang für Lisbeth zu sorgen.

Der Alte ging in der Stube umher und verfolgte eine laut summende Biene. Konrad sah ihm 76 aufmerksam zu, um sich von der aufsteigenden Angst vor dem, was ihm als Pflicht auferlegt war, zu befreien. Er war so verscheucht, daß er sich in der Verzweiflung mit der Frage beschäftigte, ob der Alte wohl die Biene erlegen werde oder nicht. Ja, er ließ sogar die weitere Frage auf sich wirken, ob er selber es wünschen solle, daß die Biene sterbe. Er entschied sich dafür, der Biene Rettung und Leben zu wünschen. Da machte der Alte einen jugendlichen Sprung und tat einen heftigen Schlag mit seinem langstieligen Fliegenfänger; die Biene lag am Boden. Konrad sprang rasch herzu, hob sie auf und warf sie zum Fenster hinaus. »Die ist hin,« sagte der Alte befriedigt. Konrad dachte: Sie ist gerettet!

Dann fuhr der Alte unvermittelt zu Konrad fort, der am Fenster stehen geblieben war:

»Ihr Vater könnte zum Beispiel ein paar Aecker verkaufen und der Lisbeth ihr Erbteil auszahlen. Sie wird sich dann schon eine Existenz gründen, sie ist ja tüchtiger als drei Männer.«

Konrad wußte darauf nichts zu sagen. Aber er saß so verlegen da, daß der Alte merken mußte wie fremd dem Jungen alles war. Er wollte ihm aber 77 recht eindringlich sagen, daß etwas geschehen müsse, deshalb sprach er nicht ohne Aufregung weiter:

»Man kann doch dieses brave Mädchen nicht eines Tages auf die Straße setzen. Meinen Sie, es gibt noch eine Dienstherrschaft, die eine Magd mit vier oder weiß Gott wieviel Kindern ins Haus nimmt. Da darf sie so tüchtig sein, wie sie will. Ihr Vater ist gottlos und pflichtvergessen, wenn er nicht für sein eigenes Blut sorgt. Das sag ich ihm, ein alter, erfahrener Mann.«

Konrad war bei diesen energischen Worten unwillkürlich ein paar Schritte vorwärts gegangen. Diese härtere Tonart war ihm willkommen, weil er fühlte, daß sie ihm in den Ohren bleiben und ihn zur Erfüllung seiner Pflicht antreiben werde. Er stand nun mit gerötetem Gesicht vor dem Alten und sagte leise die Worte:

»Ich will meinem Vater keine Ruhe lassen, bis er alles getan hat, um Lisbeth sicher zu stellen.«

Das klang in den Ohren Konrads und des Alten wie ein Gelöbnis. Sie reichten sich die Hand. Der Alte legte sogar seine Rechte auf den Kopf des jungen Menschen, der ihm, so wie er jetzt vor ihm stand, wohlgefiel.

Diese Angelegenheit war damit für ihn erledigt. 78 Er sprach vom Wetter, von den Franzosen und vom Wein. Dann rief er in die Küche, man solle eine Flasche guten Alten und zwei Gläser bringen. Lisbeth brachte sie und bald saßen die beiden so ungleichen Menschen wie gleichaltrige Freunde beim Wein und unterhielten sich über Gott und die Welt.

Als Konrad den Heimweg antrat, war es schon später Nachmittag. Ein dichter Staub lag auf den Straßen. Die Luft war übermäßig heiß und trocken und vom Atem vieler Menschen verbraucht. Konrad hatte das Gefühl, ein Glück gesehen und einen Tag lang mitgenossen zu haben, um aber wieder davon ausgeschlossen zu sein. Er war sehr kleinmütig. Das Leben in dem Hause der alten Leute kam ihm nun fast unwirklich vor.

Er vermeinte, es sei ihm da etwas vorgespielt worden, etwas von Ruhe, von Achtung vor ihm selbst, von Hilfsbereitschaft und ähnlichen schönen Dingen, die ihm bisher fremd waren. Er spielte mit dem Gedanken, daß das alles ihm zu dem einen Zweck vorgespiegelt worden sei, um ihm eine neue große Pflicht aufzuerlegen: für Lisbeth vor seinem Vater zu sprechen. Gleich prasselten hundert Bedenken vor dieser Mission auf ihn nieder: wie könnte er, wie dürfte er, wie sollte er! Es geschah, daß er mit 79 einem dumpfen Kopf nach Hause kam, mutlos und gefühlsarm.

Auf die heftigen Fragen des Vaters, wo er gewesen sei, gab er keine Antwort und wurde wie für eine große Missetat geschimpft, gestoßen und geschlagen. Matt und halb irr taumelte der Junge ins Bett. Er fiel alsbald in einen traumlosen, todähnlichen Schlaf.

 


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