Hermann Sinsheimer
Peter Wildangers Sohn
Hermann Sinsheimer

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Peter Wildanger lief unruhig wie ein Wiesel auf dem Bahnhof hin und her. Er hatte eine blaue Arbeitsschürze vorgebunden, unter der sich seine Hände verbargen, war hemdsärmlich und barhäuptig. Sein nackten Füße staken in zehnmal zerrissenen und wieder geflickten Schuhen. Der Wind, der auf dem hochgelegenen Bahnhof nach Widerständen suchte, trieb ihm die dünnen klebrigen Haare hoch, zupfte an seinen zu weiten Hosen und an seiner schmutzigen Schürze. Der Mann schien, wie er so hurtig und unruhig auf und ab täppelte, nur aus Hose und Schürze zu bestehen. Sein dürrer Körper, der sich darunter verbarg, war durch die Erscheinung nicht recht beglaubigt.

Der Wind, der nur hier oben so stark zu spüren war, tat dem Männchen wohl. Ueber dem Wind lag eine heiße Hochsommersonne. Peter Wildanger stand über und über in Schweiß. Trotzdem lief er 8 behend auf und ab, bis der Bahnhofsvorsteher erschien und ihn mit einer Stimme, die noch rauh war vom Mittagsschlaf, zum Stillstehen ermahnte. »Peter, du wirst dich erkälten, wie dein Gaul die vorige Woche.«

Da stand Peter Wildanger und ersetzte nun das eilige Gehen durch ein noch eiligeres Sprechen.

»Ist er etwa daran gestorben? Heut ist er im Wald und gestern war er im Wald und fährt morgen in den Wald und ist zehnmal fleißiger als der Fuhrmann, der bei ihm ist.«

»Ein Mensch ist kein Gaul,« versicherte der Vorsteher.

»Ja,« kicherte Peter Wildanger, »ein Mensch kann sein Mittagsschläfchen halten, ein Gaul nicht.«

Diese Anzüglichkeit trieb den Bahnhofsvorsteher, der eine Schwäche für Mittagsschläfchen hatte und sie gerne einerseits in den Morgen und andererseits in den Abend ausdehnte, in sein Diensthäuschen. Wildanger begann seinen Eilmarsch wieder, bis sich eine kurzatmige Lokomotive mit zwei oder drei Wägelchen in den Bahnhof quälte und einen einzigen Reisenden absetzte.

Dies war Konrad Wildanger, Peters Sohn, der nach Schluß des Schuljahres sich bei seinen Eltern 9 einfand. Er zählte achtzehn Jahre und war in der vorletzten Gymnasialklasse. Sein Vater stürzte auf ihn zu, wie auf eine Beute, gab ihm so eilig die Hand, daß man nur sah, wie er sie ihm wieder entzog, sagte »Guten Tag« und »Wie geht's?« und fragte dann mit gewichtiger Betonung nach dem Zeugnis.

Konrad stellte die Handtasche hin und holte ein Stück Papier aus seinem Rock. Der Alte flog es durch, sah seinen Sohn zwei- oder dreimal an, flog das Zeugnis wieder durch, wurde plötzlich in seinem knochigen Gesicht ganz weiß und versetzte dem Sohn eine schallende Ohrfeige.

Die Reisenden im Zug, der schon wieder weiterschlich, sahen es und lachten. Der Stationsvorsteher sah es ebenfalls und machte sich rasch davon.

Peter Wildanger sah nicht rechts und nicht links, nahm die Handtasche in die rechte Hand, behielt das Zeugnis in der linken und eilte fort. Konrad folgte ihm.

Er war ein schmächtiger Junge. Der Kopf war ihm etwas zu hartnäckig in die Schultern gewachsen und die Beine hingen nur lose am Körper. Er hatte große, graue Augen, die über spitzen Backenknochen tief im Gesicht lagen. Das Gehen schien 10 ihm eine Arbeit zu sein. Die Hände, in denen er einen Stock und einen Schirm trug, suchten offenbar nach den Hosentaschen und fühlten sich außerhalb derselben nicht wohl. Das Kinn duckte sich beim Gehen ganz auf die Brust.

Als er die hohe Treppe vom Bahnhof hinunterstieg, sah er den Vater schon im Hause verschwinden. Er ging langsam, wie einer, der sein Ziel immer noch zu früh erreicht.

Erst nach fünf Minuten, von denen er zwei damit zugebracht hatte, einem vorübergehenden Mädchen nachzustarren, stand er in einer ziemlich kahlen, aber sauberen Stube, in der sein Vater wieder auf und ab lief. Seine Mutter, eine dicke, fleischige Bauersfrau, saß hinter dem Tisch, trank aus einer großen Schüssel Kaffee und aß von etwa fünf Tellern Käsestücke, Wurstscheiben und Fleischbrocken.

Sie reichte ihm, ohne aufzustehen, die Hand und sagte mit einer fast sanften Stimme:

»Hast wirklich nur ›genügend‹ in der Religion!«

Konrad sagte in einem Ton, der nur konstatieren und nichts entschuldigen wollte:

»Ich bin dem Pfaff nicht fromm genug.«

Da fuhr sein Vater wie ein Habicht dazwischen: »Was geht das mich an! Ich gebe mein gutes Geld 11 für dich aus und du hast mir dafür gute Noten ins Haus zu bringen.«

»Hättest ihn nicht zu schlagen brauchen,« meinte seine Frau in mildem Vorwurf; denn ihr Mann hatte ihr sofort von der Ohrfeige erzählt.

Er erwiderte ganz wild:

»Bin ich etwa geschont worden? Ohrfeigen sind immer ein gutes Werk an den Kindern.«

Konrad Wildanger tat, als ob ihn das Gespräch nichts angehe, setzte sich an den Tisch, wo auch für ihn Kaffee bereit stand, und aß und trank sehr langsam. Auch das schien eine Arbeit für ihn zu sein. Peter Wildanger verließ die Stube, um wieder an die Arbeit zu gehen. Mutter und Sohn machten Gesichter, als ob es sie beide fröstle. Die Mutter aß bald, bald stützte sie den Kopf auf, bald sprach sie etwas.

Sie schob eine Scheibe Hartwurst in den Mund. Während sie kaute, entstanden die Worte:

»Er meint's ja nicht so. Er will nur etwas aus dir machen.«

Dann trank sie einen Schluck Kaffee und schnitt dem Sohn Brot. Mit dem Stück Brot legte sie die Worte vor ihn hin:

»Jetzt kannst du dich ausruhen acht Wochen lang.« 12

Sie wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirne, als ob sie nun satt wäre. Aber wie von ungefähr kam ihr noch etwas Käse in die Hände und sie schob es in den Mund. Zwischen dem Kauen sagte sie:

»Sonst ist das Zeugnis ja recht gut; lauter ›sehr gut‹ und ›gut‹. Da wär' ich zu dumm dazu.«

Sie verschränkte die Arme, die wie zwei Klötze waren, vor ihrer hohen Brust und lehnte sich an die Wand, vor der sie auf einer eingemauerten Bank saß. Ihre Augenlider machten Anstalten, sich zu schließen. Zuvor aber fügte sie noch ihrer letzten Rede mit geheimnisvollem Zulächeln die Worte bei:

»Und vielleicht dein Vater auch.«

Dann schlief sie ein. Konrad nahm seine Handtasche, verließ die Stube und stieg draußen im Gang eine Stiege hinauf. Oben war die Türe zu seinem eigenen Zimmer offen. Er trat ein und schob von innen den Riegel vor.

Die Tasche hielt er noch in der einen Hand, als er schon mit der andern an die geschlagene Wange griff. Dann warf er die Tasche hastig in eine Ecke und stampfte mit den Füßen auf den Boden. Sein Gesicht lief rot an und um die Augen zogen sich 13 breite dunkle Streifen. Er stand da, wie wenn er sich besänne, was er Schreckliches tun solle. Eine überheiße Wut riß durch sein Blut. Es wurde ihm schwarz vor den Augen und er ließ sich aufs Bett fallen. Bei alledem behielt aber sein Blick etwas entsetzlich Klares, etwas unentwegt Ruhendes.

Konrad Wildanger war an das Geschlagenwerden und an das Schweigenmüssen gewöhnt von Jugend auf. Seine Mutter war eine träge, simple Frau, die gut hieß, was ihr Mann tat. Dieser aber kannte nur die Arbeit und den Erwerb und behandelte seine Kinder, deren er zwei hatte, wie Sklaven. Sie mußten tun und lassen, was ihm gefiel; einen Widerspruch oder eine Klage gab es nicht. Er hatte ihnen früh das Schreien abgewöhnt; sie mußten still in sich hineinleben. Und vor allem auch das Weinen war bei ihm immer verpönt; es stand harte Strafe darauf. Noch härtere stand auf jeder Regung eines selbständigen Willens.

So wuchs Konrad Wildanger ohne Sonne auf und wurde ein verkümmertes Menschenkind. Ueberdies war er nicht sonderlich klug und hatte die größte Mühe, die Noten sich zu erarbeiten, die sein Vater von ihm verlangte. Zu einer Zeit, wo andere seines Alters flügge wurden und nach den Lustbarkeiten 14 der Erwachsenen Ausschau hielten, lebte er uninteressiert und in sich gekehrt dahin.

Das war auch jetzt, wo er schon im achtzehnten Lebensjahre stand, kaum anders geworden. Nun trieb ihn sein Blut, wenigstens seine Augen auf das zu richten, was seine Kameraden schon hatten oder wenigstens mit allen Mitteln erstrebten. Seit einiger Zeit war in ihm eine stumme, dumpfe Sehnsucht nach Frauen erwacht. Er glotzte alle Frauen und Mädchen, die ihm in den Weg liefen, mit schweren Augen an.

Der Schlag des Vaters war keine allzu große Demütigung für ihn. Er wußte nicht, ob er nicht in der nächsten Stunde aus einem noch belangloseren Grunde gezüchtigt werden würde. Das Gefühl für die Erniedrigung solcher Mißhandlungen war ihm abhanden gekommen. Er geriet darüber nur in eine bittere Wut, die er aber nicht zu zeigen wagte.

Das Zimmer war klein und vom Bett fast ganz ausgefüllt. Ein Schrank, ein Tisch und ein Stuhl war noch da. An der einen Wand hing ein Engelskopf, an der andern ein Bild der Schlacht bei Sedan. Unter beide waren Zettel geklebt, auf die eine ungelenke Kinderhand etwas geschrieben hatte. Unter dem Sedansbilde stand »Für Gott« und unter 15 dem Engelsbild »Fürs Vaterland«. Die Schrift rührte von Konrad her, der Text von seiner Mutter. Konrad hatte aber die beiden Inschriften verwechselt. Er war damals sieben Jahre alt. Er erinnerte sich noch, daß damals sein Vater, als er die Verwechslung sah, sich auf die dürren Knie geklopft und furchtbar gelacht hatte.

Konrad blieb wohl eine halbe Stunde liegen. Dann kam sein Vater herein. Unter der Tür putzte er sich die von der Arbeit beschmutzten Hände mit seiner Schürze ab. Konrad stand auf.

Der Alte fragte ihn, ob ihm sein Geld gereicht und ob er vielleicht noch etwas übrig habe. Konrad zog einen dünnen Geldbeutel aus der Tasche und zählte dem Vater noch etwa zwei Mark vor.

Er solle nur sparen, sagte der Alte befriedigt. Ob seine Kleider ganz seien? Seine Wäsche? Ob er mal krank gewesen sei?

Die Fragen wurden kurz und ebenfalls zur Zufriedenheit des Vaters beantwortet. Peter Wildanger sorgte für alles im Haus. Seine Frau hatte das Vermögen in die Ehe gebracht, Wildanger dagegen nichts als seinen Fleiß, seinen Erwerbsinn und seine Habsucht. Er war es zufrieden, daß seine Frau nichts tat, weil er selber alles tun und anordnen wollte. 16 Er war eben so unersättlich im Arbeiten wie im Befehlen..

Er setzte sich auf den Tisch und fragte seinen Sohn nach tausend Dingen, von denen er nichts verstand, besonders nach den Vorgängen in der Schule. Ueber alles, was seinem Verstand zuwiderlief, gab er ein scharfes Urteil ab. Er sprach in den gröbsten Ausdrücken von den Lehrern. Den Mathematiklehrer etwa, von dem ihm Konrad erzählte, er mache ununterbrochen schlechte Witze, nannte er einen »dummen Bajas«. Oder den Turnlehrer einen Tölpel, weil er sich von den Schülern nasführen ließ.

Nachdem er seine Neugier befriedigt hatte, ging er hinunter in den Hof und setzte sich auf eine steinerne Treppe, die ins Haus führte. Er überschlug, wieviel es noch kosten und wie lange es noch dauern würde, bis Konrad ein Advokat oder Staatsanwalt sei, und wieviele Aecker er für das Geld anschaffen könnte.

Zum Hoftor schob sich eine vierschrötige Gestalt mit einer Dienstmütze herein und blieb, als sie Wildangers ansichtig wurde, grüßend stehen. Es war der Polizei- und Gemeindediener von X., stets angetrunken, aber Vater von dreizehn lebenden Kindern, deren jedes er für ein besonders gescheites, 17 auserwähltes Kind hielt. Der Aelteste war zwanzig, der Jüngste zwei Jahre.

Er trocknete mit einem großen Schnupftuch umständlich den Schweiß von seiner Stirne, trat dann vor Wildanger hin und reichte ihm stumm ein aufgeschlagenes Protokollbuch.

Wildanger las und sprang wie ein geschlagenes Tier auf.

Er brüllte: »Ich unterschreibe nicht.«

Der Polizeidiener, der übrigens mit dem Vornamen Ambrosius hieß, worauf er sich etwas einbildete, zog seine durch eine Glatze unmäßig vergrößerte Stirne so plötzlich hoch, daß seine wenigen Haare, die schon weiß, aber sehr lang waren, vom Kopf zur Seite fielen. Dann legte er seine linke Hand an die Seite, wie wenn dort, was aber nur an Sonn- und Feiertagen der Fall war, sein Säbel hinge. Zu sagen wagte er nichts. Er kannte den Wildanger und wußte auch, daß er heute noch von ihm mindestens fünfzig Pfennige Trinkgeld bekam. Er konnte also abwarten und hatte es nicht nötig, wie sonst, auf seine dringenden Dienstgeschäfte hinzuweisen.

Der Grund aber, warum er jetzt in dienstlicher Eigenschaft vor Wildanger stand, war folgender:

Wildanger hatte eine Tochter, die bald 18 vierundzwanzig Jahre alt war. Sie war schon mit fünfzehn Jahren ein dralles, breites Mädchen gewesen und hatte die Augen der Burschen auf sich gezogen. So etwa mochte die Mutter in jungen Jahren, in denen sie noch nicht der Verfettung anheimgefallen war, ausgesehen haben. Das Mädchen war für ihren Vater eine schwere Last. Er ließ es arbeiten wie ein Pferd und schlug es, wie er sein Pferd nie hätte schlagen lassen. Aber es fruchtete nichts. Lisbeth Wildanger war mit siebzehn Jahren ein stämmiges Weib, die, Gott weiß woher, stets ein paar bunte Fetzchen und Bändchen hatte, die sie den Burschen des Dorfes noch begehrenswerter machten. Es war auch bald unter ihnen bekannt, daß sie von überaus zugänglicher Art war. Und so geschah es, daß sie mit achtzehn Jahren ihrem Vater durchbrannte und ein halbes Jahr später Mutter eines Knaben wurde.

Die Lisbeth scheute die Arbeit nicht und verdang sich in einem Nachbardorf. Sie galt als fleißig und anstellig. Das hatte sie vom Vater. Dazu war sie ehrlich und, abgesehen von ihrem Hang nach den Männern, auch nach den landläufigen Begriffen brav.

Als ihr Kind zur Welt kam, erklärte Peter Wildanger seiner Frau, er werde sich erhängen. Die 19 Mutter weinte einen Tag lang, was ihren Appetit kaum beeinträchtigte, und fragte mit ihrer sanften Stimme, woher das Mädchen nur so sein könne. In ihrer Familie sei so etwas noch nicht dagewesen. Wenn sie aber wirklich auf Vorbilder erpicht gewesen wäre, hätte sie sich erinnern können, daß ihr eigener Mann, Peter Wildanger, ein uneheliches Kind war, das schon in die Schule ging, als seine Mutter heiratete. Schließlich mußte Peter Wildanger aufs Vormundschaftsgericht, wurde Vormund seines Enkels, den er nicht kannte, und lebte ruhig und in Frieden weiter.

So wie damals stand heute Ambrosius, der Gemeindediener, dessen Familiennamen übrigens nur wenige kannten (er hieß Ambrosius Sichel) vor Peter Wildanger mit einer Vorladung vor das Vormundschaftsgericht, die dieser unterschreiben sollte. Seine Tochter hatte vor einigen Wochen ihr viertes Kind geboren. Sie hatte bisher für die drei andern aus eigener Kraft aufs beste gesorgt. Es wurden zwar immer, weil die Vormundschaftsbehörde darauf drang, Prozesse gegen irgendeinen Mannskerl auf Zahlung von Alimenten geführt, der der Vater sein sollte. Aber im Laufe der Verhandlungen hatte sich auch regelmäßig ein zweiter 20 oder ein dritter eingestellt, der ebensogut der Vater hätte sein können. So mußte die Mutter allein für ihre Kinder sorgen. Sie hielt es für selbstverständlich und tat es, so gut es ging. Ueberraschenderweise hatte vor zwei Jahren Peter Wildanger angefangen, seiner Tochter von Zeit zu Zeit hundert Mark zu schicken. Seine eigene Spitzfindigkeit und längere Beratung mit einem Rechtsanwalt hatten ihn dazu veranlaßt. Er notierte sich jede Geldsendung genau auf und verwahrte die Postquittungen wie Geldeswert; denn er wollte nichts anderes, als daß seine Tochter ihr Erbteil langsam im voraus verzehren sollte. Dann konnte sie, ob nun er oder seine Frau zuerst starb, nichts mehr beanspruchen.

Der kleine Wildanger lief knirschend und fluchend im Hof herum. Immer und immer wieder diese Blamage! Er wünschte seiner Tochter alle Schrecken und Schmerzen des Todes, alle Formen der Verdammnis und jedes irdische Unglück. Ambrosius war diesen Auftritt so gewöhnt, daß er alle Flüche seelenruhig anhörte und nicht einmal die Hand vom Säbel nahm. Als Wildanger endlich vor ihn hintrat und fragte, ob er schweigen könne, da war seine Zeit gekommen.

»Wildanger«, sagte er, »ich habe dreizehn Kinder, 21 die reden genug und gescheiter als ich. Da habe ich mein Maul schon lange in Pension geschickt.«

Wildanger nahm ihm das Buch ab, ging ins Haus und brachte es zurück mit seiner Unterschrift und einem harten Taler für Ambrosius. Der Taler lag im Buch wie eine Oase in der Wüste. Ambrosius grüßte ihn aber tausendmal freundlicher als ein Wüstenwanderer die Oase. Er fühlte sich sogar zu einer Bemerkung verpflichtet.

»Wildanger,« sagte er, »ein räudiges Kalb gibt es in jedem Stall. Mein Aeltester ist sogar Sozialdemokrat.«

Wildanger sagte nichts, sondern rannte wieder im Hofe umher, Ambrosius ging davon wie ein Weltweiser und dachte: Wenn die Lisbeth so fruchtbar wird wie meine Frau, wird's ein gutes Geschäft für mich.

Er schritt dem Dorfe zu und suchte nach einem, der die Neuigkeit noch nicht wußte. Im Wirtshaus gab er sie einem größeren Publikum zum besten und erzählte peinlichst genau, wie Wildanger fast tobsüchtig geworden sei, lange Reden gehalten und sich sogar geäußert habe, er werde seine Tochter, seine Frau, seinen Sohn und sich selbst umbringen. Unter den Zuhörern war keiner, der diese Lüge 22 nicht geglaubt, und erst recht keiner, der sich nicht über sie gefreut hätte. Denn Wildanger hatte keinen Freund im Dorf. –

Als Wildanger sich müde und heiß gelaufen hatte, sprang er ins Haus zu seiner Frau und schrie ihr die Neuigkeit ins Gesicht:

»Du bist mal wieder Großmutter geworden.«

Er schreckte die dicke Frau aus dem besten Schlaf auf. Sie wußte sofort, was die Worte bedeuteten, sagte nichts und raffte sich zu ein paar Tränen auf. Nach einer Minute fragte sie:

»Ist es ein Bub oder ein Mädel?«

Da wäre ihr Wildanger fast ins Gesicht gesprungen; er legte sich über den Tisch und brüllte:

»Ein Bastard ist es, ein Bastard! Sonst weiß ich nichts. Meinetwegen soll es eine Katze sein.«

Da trocknete seine Frau ängstlich ihre Tränen und sah sich suchend auf dem Tische um. Das Essen half ihr über alles hinweg. Es war aber nichts da. Sie stand gegen ihre Gewohnheit auf und ging in die Küche, um sich etwas zu holen.

Wildanger verließ ebenfalls die Stube und stürmte die Treppe hinauf zu seinem Sohn. Auch der sollte von der Schande wissen.

Konrad lag immer noch auf seinem Bett und starrte 23 zur Decke auf. Er dachte an nichts und an alles. Auf der Fahrt hatte eine junge schwangere Frau ihm gegenüber gesessen. Die ließ er nun in immer anderer Haltung und mit immer anderem Gesichtsausdruck an sich vorbeigehen. Als sein Vater eintrat, sprang er rasch auf, so daß beide hart gegeneinander zu stehen kamen.

Wildanger packte den Jungen an den Schultern und schüttelte ihn vor Wut. Die Worte sprangen Konrad nur so ins Gesicht:

»Weißt du, was deine Schwester ist? Weißt du, daß sie eine Allerweltshure ist, eine unverbesserliche, die ihren Vater ins Grab bringt? Schon wieder hat sie ein Kind gekriegt, schon wieder eines. Und ich hab' die Schande davon.«

Konrad machte ein Gesicht, als ob er sich auf etwas besänne. Er suchte nach Worten:

»Warum die das nur tut? Sie ist arg dumm.«

»Nein,« schrie der Alte dazwischen, »schlecht ist sie, ungeraten, liederlich. Du sollst mir anders werden. Dich ziehe ich noch. Dich schlag ich lieber tot.«

Und wieder schüttelte er den armen Jungen wie wahnsinnig. Konrad ließ es sich gefallen, ohne seinen Vater anzusehen. Er sah zu Boden und dachte an die Schwester. 24

Und als der Vater gegangen war, dachte er erst recht an sie. Sie war sechs Jahre älter als er und zu früh seinem Gesichtskreis entschwunden. Sie war ihm ein Rätsel, ein Wunder: in seiner Weltfremdheit wußte er nichts mit ihr anzufangen. Er umgab sie mit Fragen, denen er keine Antwort wußte. War sie eine Dirne? Aber Dirnen pflegen keine Kinder zu bekommen. War sie ein Mädchen wie andere auch, das einen Schatz hatte? Aber dann hätte sie ihn doch heiraten müssen. War sie verächtlich oder bewundernswert, zu bemitleiden oder zu beneiden? Je länger und heftiger er sich diese Frage vorlegte, desto verschwommener wurde ihm das Bild der Schwester, aber auch desto anziehender. Er bewunderte sie. Sie tat, was sie wollte, unbekümmert um die heißen Flüche des Vaters und die lauwarmen Tränen der Mutter. Sie war verachtet im Vaterhaus, aber auch gefürchtet. Ihre Existenz schwebte wie eine ewige Gefahr über dem Vater. Konrad kam sich klein vor neben dieser Schwester. Er mußte jetzt an den Empfang am Bahnhof denken und konnte sich jetzt eines Gefühls der Scham vor seiner Schwester nicht erwehren. Sie schien ihm ein unerreichbares Vorbild zu sein. Mit dem Respekt vor ihr wuchs auch der Haß gegen den Vater und gegen 25 dieses ganze Haus, in dem er wohnte, in das er jedes Jahr nach Schulschluß zurückkehren mußte. Konnte er sich nicht auch aufraffen, frei machen, den Vater unterkriegen? Er wagte diese Fragen weder zu bejahen noch zu verneinen. Er bekam Angst vor der eigenen Unentschlossenheit und Feigheit, der er sich ausgeliefert sah.

 


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