Hermann Sinsheimer
Peter Wildangers Sohn
Hermann Sinsheimer

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Am nächsten Tage erhielt er von seinem Vater eine Menge Aufträge. Er mußte an Lieferanten und Abnehmer schreiben, auch Mahnungen an kleine Leute, denen sein Vater Geld auf Zinsen geliehen hatte. Mit solcher Arbeit verbrachte er den ganzen Tag und wurde nicht fertig damit. Er saß an dem großen Tisch bei seiner Mutter. Sie vertrieb sich die Zeit zwischen Essen und Schlafen mit unschwerer Hausarbeit und hatte übrigens auch jede Viertelstunde einen kleinen Auftrag für Konrad, den sie in die Form einer fast demütigen Bitte zu kleiden wußte.

Konrad gehorchte ihr gern. Er liebte seine Mutter, wie er etwa einen schwachen, nachsichtigen Lehrer liebte. Sie hatte etwas so Hilfloses und dazu eine sanfte Stimme, daß es ihm geradezu wohltat, wenn sie etwas von ihm verlangte. So oft er sie an diesen Tagen ansah, kam ihm die Schwester in 28 den Sinn, die Schwester mit ihren vier Kindern, die Schwester, die gleich ihm von dieser dicken, sanften Frau und von dem kleinen, knochigen, wilden Vater stammte.

Ein Rätsel, ein Rätsel! Die Schwester, die tat wozu sie Lust hatte, die nach eigenem Willen Männer liebte und von ihnen Kinder gebar. Eine Sehnsucht nach dieser fremden Schwester erfaßte ihn. Es war ihm, als ob sie auch ihm weiterhelfen könnte. Er dachte daran, ihr einen Brief zu schreiben.

Als es dunkelte und er auf Wunsch seines Vaters die Arbeit eingestellt hatte, setzte er sich vor das Hoftor auf die Straße. Zur Linken und Rechten des Tores waren hohe Prellsteine. Auf einem derselben saß er wie ein kleiner Junge, hatte die Hände in den Hosentaschen und sah die Straße entlang. Manchmal glitt ein Zug vorüber mit vielen Lichtern und mit eiligen Geräuschen. Dem sah er fast andächtig nach und wünschte sich darin zu sitzen und fortfahren zu können, so weit und wohin es nur immer ging.

Der Bürgermeister kam am Hause vorbei. Er war der größte Mann im Dorf, sehr dürr dabei, und ging mit weit gespreizten Beinen, so daß man von 29 einem Fuß zum andern wohl einen vollen Meter messen konnte. Er hieß Rumbold; man sagte im Dorf nur Rumbeld.

Er blieb bei Konrad stehen und fing ein Gespräch mit ihm an. Er pflegte nie ganze Sätze zu sprechen.

»Wieder Ferien?«

»Ja, zwei Monate lang.«

»Nur nix verlernen in der langen Zeit.«

»Man muß halt auch in den Ferien etwas dazu tun.«

»Gescheite Leut, geplagte Leut!«

Rumbold lachte unbändig. Plötzlich hielt er inne und legte sein bartloses, altes Gesicht in enge Falten.

»Wieder Aerger in der Familie gehabt?«

Konrad sah ihn groß an.

»Mit der Lisbeth, mit der Lisbeth! Das vierte schon. Ungeratenes Ding. Gute Nacht auch!«

Er schritt weiter. Sein Schatten streckte sich bis zu den Häusern hinauf. Die Hosen waren ihm um ein beträchtliches Stück zu kurz. Er sah deshalb von hinten wie ein unmäßig aufgeschossener Knabe aus. Konrad sah ihm betroffen nach. Er erschrak darüber, daß man ihn Lisbeths wegen bemitleidete. Gewiß, er hätte es nicht wahr haben mögen, daß 30 seine Mitschüler etwas von dieser Schwester erführen. Aber das waren unreife Jungens, die ihn auch verhöhnten, wenn er mit geflickten Hosen oder mit schwergenagelten Schuhen zur Schule kam. Aber dagegen dieser alte, ruhige Mann, der niemanden wehe tun wollte?! Seine Schwester war doch keine Landstreicherin oder Verbrecherin! Sie tat, was ihr gefiel. Und das gefiel allen andern nicht, gut! Aber warum Mitleid mit der Familie?

Er lachte spöttisch in sich hinein und kam sich dabei als etwas Besonderes vor. Der Mond trat gerade aus einem Wolkengebirg am blauen Himmel und entfaltete einen schimmernden Hof. Konrad sah zu ihm auf wie zu einem Bruder. Er fühlte sich nun so frei und stolz, wie noch nie in seinem Leben. Er grüßte in Gedanken die Schwester.

Plötzlich mußte er lachen. Er dachte daran, daß er ja der Onkel ihrer vier Kinder sei. Er stand ihnen also sehr, sehr nahe. Und weiter kam ihm in den Sinn, daß er nicht einmal wußte, ob es Mädchen oder Knaben sind. Er wurde ganz fröhlich und sagte wohl bei sich: Ja, die Lisbeth!

An der Ecke, an der die kleine Straße vom Bahnhof her einmündete, erschien eine weibliche Gestalt. Sie ging auf das Wildangersche Haus zu. Konrad 31 erkannte erst spät in ihr die Magd. Ihr Haar war unordentlich und ihr Gesicht heiß und bleich. Sie grüßte mit gedämpfter Stimme. Konrad vergaß ihr zu danken. Er sah sie nur groß an. Sie blickte scheu zu ihm auf. Sie war ein kleines Ding, etwa so alt wie Konrad, mit trägen Bewegungen. Ihr magerer Körper drängte sich deutlich durch das dünne Röckchen und die fadenscheinige Bluse.

Sie mußte hart an Konrad vorbeigehen, wenn sie zum Tor hinein wollte. Konrad fühlte die Wärme ihres Körpers in seinem Gesicht. Als sie das Tor aufklinken wollte, sprang er von seinem Stein mit einem Satze zu ihr hin, umfaßte sie und versuchte sie auf den Mund zu küssen. Er traf aber, trotzdem sie sich nicht wehrte, ins Haar. Er ließ sie, über sich selbst erschreckt, wieder los, und sie schlüpfte in den Hof.

Er spürte Kühle auf den Lippen. Ihr Haar schien ihm feucht gewesen zu sein, wie betautes Gras. Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und über die Augen. Dann ging auch er ins Haus. Es war ihm frei und fröhlich zumute. Er summte eine leichte Melodie vor sich hin.

Als er schlafen ging, war es elf Uhr; der Mond fiel breit in sein Zimmer und fiel auch in seine Träume. 32

Um sieben Uhr morgens erwachte er. Im Hof war lautes Geschrei und polternder Wagenlärm. Er eilte ans Fenster. Gerade war ein Wagen, hoch mit Korn beladen, in den Hof gefahren. Obenauf saß die junge Magd. Als sie Konrad im Hemd am Fenster stehen sah, lachte sie ihm zu. Er wurde über und über rot und schreckte vom Fenster zurück. Er glaubte, das Mädchen lachte ihn aus, obwohl dem nicht so war. Konrad zog sich verdrießlich und verlegen an. Am liebsten hätte er sich wieder niedergelegt. Aber er fürchtete, daß sein Vater ihn unsanft ans Aufstehen mahnen würde.

Als er ins Wohnzimmer kam, saß der Alte beim Essen und empfing ihn richtig mit galligen Worten: »Daß du schon aufgestanden bist, wo dein Vater erst seit drei Stunden an der Arbeit ist. Hättest ja den Tag durchschlafen können, fleißiger Sohn.«

Konrad lächelte bitter und goß sich aus der großen Kanne Kaffee ein.

Wildanger sah ihn wie ein Feind an und suchte einen Grund, weiter zu schimpfen. Da er keinen fand, schimpfte er aufs Geratewohl:

»Gute Kinder hab' ich. Der da kümmert sich um nichts und die andere stürzt mich in Schande. Für 33 mich bleibt nur die Arbeit. Die gönnen mir meine Kinder.«

Dann kam er wieder auf Lisbeth zu sprechen und belegte sie mit den häßlichsten Schimpfworten. Er war darin unerschöpflich.

Konrad saß verbissen da. Er wagte nicht aufzusehen. Es war plötzlich der Wille in ihm erwacht, sich zu wehren, etwas gegen den Vater zu sagen, ihn ins Unrecht zu setzen. Er sah einige Male auf, aber er fand nicht die Worte, in die er seine Feindschaft gegen den Vater hätte kleiden können. Er würgte an seiner Unbeholfenheit und seiner Verzagtheit, wie wenn ihm ein Stein in die Kehle gekommen wäre. Seine Augen wurden heiß und es traten ihm Schweißtropfen auf die Stirne.

Er empfand es als eine Erlösung, als sein Vater das Zimmer verließ. Er konnte das Bedürfnis, etwas gegen ihn zu sagen, nicht mehr unterdrücken. Es schwälte ihm eine dumpfe Wut im Kopf. Er dachte, wie an etwas märchenhaft Schönes, an die Möglichkeit, nun hinauszugehen in den Hof und dem Vater vor allen Knechten und Mägden ins Gesicht zu schreien, daß seine Tochter ein Mensch sei wie er auch und wie tausend andere, und daß er von ihr nicht schlecht reden dürfe, sonst . . . 34

Schon der Gedanke an diese Möglichkeit weckte in Konrad ein Gefühl der Befriedigung. Als er nun zufällig den Blick erhob und seine Mutter seelenruhig kauen sah, kam ihm etwas ganz Neues in den Sinn: diese sanfte Frau war ja seine und Lisbeths Mutter. Sie hatte an ihm und an Lisbeth dasselbe Recht wie der Vater.

Daran hatte er nie gedacht. Denn die Mutter hatte, solange er sich erinnern konnte, keine Rolle im Hause gespielt. Sie war da, sie saß und schlief und aß – nichts weiter! Nun entdeckte er sie plötzlich, nun er den Drang verspürte, sich dem Vater entgegenzustellen.

Er fragte sehr leise und behutsam, wie wenn er fürchtete, die dicke Frau zu erschrecken:

»Der Vater hat doch kein Recht, auf Lisbeth so zu schimpfen.«

Frau Wildanger nahm diese Frage hin wie ein fremdes Geräusch. Sie hörte auf zu essen und legte ihre fleischigen Hände flach auf den Tisch. Konrad konnte daraus entnehmen, daß seine Frage Eindruck gemacht habe.

»Vielleicht hat der Vater die Lisbeth auch so behandelt wie mich.«

Die Mutter sah ihn mit müden, alten Augen an. 35 Der Schrecken spiegelte sich deutlich in ihrem Gesicht; nur konnte man nicht wissen, ob es Schrecken über den Inhalt der Worte Konrads war, oder darüber, daß sie aus ihrer Ruhe gestört wurde.

Konrad fuhr ruhig und sachlich fort:

»Dann hat sie der Vater in das Leben hineingetrieben, das sie jetzt führt.«

Nun fand auch die Mutter zwei Worte:

»Aber Konrad – – –«

Der abwehrende Ton verfehlte seinen Eindruck auf Konrad. Ebenso geduldig wie er die Gewaltsamkeiten ertrug, verfolgte er nun seinen Plan, das Unrecht des Vaters an der Schwester zu entlarven. »Sie ernährt doch ihre Kinder selbst und sie ist ehrlich und arbeitet vielleicht soviel wie der Vater.«

Nun stützte sich Frau Wildanger schwer auf den Tisch, der dabei in seinen Fugen zitterte, und erhob sich. Sie machte ein paar Schritte durchs Zimmer. Konrad verfolgte sie mit neugierigen Augen, fuhr aber unbeirrt fort:

»Wie der Vater an Lisbeth handelt, das ist eine Schande.«

Nun hatte er sich selbst erhoben und stand, Rechenschaft fordernd, vor der Mutter. Sie rieb die Hände an der Schürze und bewegte in nervöser 36 Verlegenheit den Oberkörper hin und her wie ein ertapptes Kind.

Sie schluchzte lange, bis sie mit weinerlicher Stimme sprach:

»Die Lisbeth und dein Vater haben sich halt nicht vertragen. Da ist die Lisbeth fortgegangen und hat ihren Lebenswandel angefangen. Was sie tut, ist doch verboten. Und dein Vater ist darin sehr streng. Was soll man da machen?«

Das alles klang wie fernes Glockenläuten, das vom keuchenden Wind herangetragen wird. Es gab einen stillen, aber unreinen Ton. Die letzte Frage endigte in verlegenem Hüsteln.

Konrad empörte sich über die Mutter und stürmte wütend aus dem Zimmer.

Mit dem Vater traf er erst wieder beim Mittagessen zusammen. Der alte Wildanger hatte bei den Mahlzeiten seine besondere Art. Er besorgte, während er aß, noch ein Dutzend andere Geschäfte. Er las einen Brief seines Advokaten; er sprang, wenn er zwei Bissen in den Mund geschoben hatte, kauend in den Stall, um etwas nachzusehen; er hüpfte in ein anderes Zimmer, holte dort aus den Kommoden einen Schuldschein oder einen Kataster, aus dem er etwas herausschnüffelte; er sprach etwas an seine Frau 37 hin, was sie gar nicht interessierte; und zumal schimpfte er gerne, während er aß.

Diesmal war er wie ein störrisches Tier. Er mußte am nächsten Tag der Vorladung ans Gericht folgen. Das schlug sich wie Rost auf seine Laune. Er schimpfte auf Knecht und Magd, auf seine Felder und auf den lieben Gott, der nichts wachsen ließ. Einem Schuldner drohte er das Guthaben zu kündigen, einem andern, säumigen, das Haus versteigern zu lassen. Den Bürgermeister schalt er verrucht, den Polizeidiener verkommen. Die Magd, die das Essen hereinbrachte, war zu träg, und das Essen selbst nicht gut zubereitet, trotzdem er kein Interesse und keinen Geschmack dafür hatte.

Da konnte es nicht ausbleiben, daß er mit seinem Ingrimm auch an Konrad geriet. Er fand bald einen nur zu deutlichen Anlaß. Er fragte Konrad, wie weit er mit den schriftlichen Arbeiten gekommen sei. Konrad antwortete, er habe noch nicht weitergeschrieben.

Wildanger schwieg darauf und aß die größten Brocken schweigend in sich hinein. Plötzlich aber warf er die Gabel auf den Teller, daß sie zu Boden hüpfte, sprang auf und rannte in der Stube auf und ab. Die Hände hatte er unter dem Arbeitsschurz 38 verborgen und den Kopf ganz vorgebeugt. Er sah aus wie ein dürres Füllen, das nicht Raum hatte zum Springen. Schließlich trat er hinter Konrads Stuhl und sagte mit boshafter Stimme:

»Du wirst mich morgen, wenn du doch nichts schaffst, aufs Amtsgericht begleiten. Da brauche ich die Schande wenigstens nicht allein zu tragen.«

Konrad stand auf, sah seinem Vater mit fast lachenden Augen ins Gesicht. Und rief mehr als er es sagte:

»Gern, Vater, geh ich mit.«

Dieses Aufspringen und dieses Rufen hatte überraschende Wirkungen. Frau Wildanger drückte ihre massigen Arme so heftig gegen den Tisch, daß sie sich rascher erheben konnte, als es ihr seit Jahr und Tag gelungen war. Ihr Mann glotzte seinen Sohn verständnislos an. Es entstand ein Schweigen von langen Sekunden. Die drei Menschen standen sich plötzlich in einer ganz neuen Situation gegenüber. Daß das Neue in einem aufgeschreckten Erwachen Konrads bestand, konnten die beiden Alten nicht ahnen. Peter Wildanger verließ fast verlegen das Zimmer. Seine Frau sank dumm und stumm auf die Bank zurück. 39

Konrad holte des Vaters Bücher und Papiere und machte sich an die Arbeit.

Das Blut floß in stürmischem Takt durch seinen Körper.

 


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