Hermann Sinsheimer
Peter Wildangers Sohn
Hermann Sinsheimer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Als er am nächsten Morgen aufwachte, schüttete ein dicker Regen ins Zimmer und wusch über die grauen Dielen des Bodens, auch über den Tisch und die Stühle hin, die vor dem offenen Fenster standen. Die schrägen Striche des Regens hatten sogar ein Ende des Bettes erreicht. Von unten scholl die Schreistimme des Vaters ins Zimmer.

Konrad glaubte einen schönen Traum mit häßlichem Ende geträumt zu haben. Nur langsam und unsicher kehrte ihm das Bewußtsein der Wirklichkeit des gestrigen Tages zurück. Aber alles Schöne schien ausgetilgt zu sein durch die häßlichen Worte und Mißhandlungen des Vaters. Er stand auf, kleidete sich eiligst an und ging ins Wohnzimmer hinab, wie wenn er gar nicht rasch genug in die drückende Nähe seiner Eltern kommen könnte.

Seine Mutter saß schon, Kaffee schlürfend und Brötchen kauend, hinter dem großen Tisch. Konrad 82 dachte sich: Hinter diesem großen Tisch verschanzt sie sich wie hinter Festungsmauern. Gleich polterte auch der Vater ins Zimmer und schimpfte und tobte über das Wetter, über die Arbeiter, über Konrad. Konrad hatte das alles vorhergesehen und sogar heimlich ersehnt. Er wollte sich von den gestrigen Erinnerungen, die ihm jetzt wehe taten, reinigen. Er wollte in dem ihm beschiedenen Trübsal untertauchen. Das gelang ihm. Denn der ganze Tag war angefüllt mit Gehässigkeiten und Rohheiten des Vaters.

Abends war Wildanger so gallig, daß er nicht einmal seine Frau schonte. Er schrie sie plötzlich an:

»Du sitzt da und bist stumm. Ich muß mich zu Tode ärgern. Dir verdanke ich nichts als die schönen Kinder, die ich habe.«

Konrad sah neugierig seine Mutter an, ob sie reagiere. Er wurde enttäuscht. Sie blieb auch jetzt stumm. Wie schwere Jalousien ließ sie ihre Augenlider herab und saß da, wie eine plumpe Gestalt aus Stein. Konrad schaute zum Vater hinüber und hoffte, daß das Schweigen der Mutter seine Aufregung vermehre. Er hatte sich aber schon abgewandt und sagte nichts mehr.

Konrad konnte heute nicht umhin, über seine Eltern 83 zu lächeln. Er dachte an die beiden alten Leute, die er am Tag vorher kennen gelernt hatte, und verglich nun die zwei ungleichen Paare. Er kam zu dem Ergebnis: Meine Eltern sind dumm. Diese Erkenntnis verbesserte seine Stimmung.

Der Alte wanderte, knurrend und brummend, im Zimmer herum. Der Zorn über den für die Arbeit verlorenen Regentag kochte in ihm. Die Mutter war sachte eingeschlafen und ließ männliche Schnarchtöne hören. Konrad saß zusammengesunken in einem großen, zerschlissenen Lehnstuhl.

Vor dem Fenster sah man durch ein nach dem Regen mildes Abendlicht hellgraue Wolken über blauen Himmel stürmen. Irgendwo in der Ferne krähte ein irre gewordener Hahn.

Konrad lachte halblaut auf, vielleicht über seine Eltern, vielleicht auch über den Hahn.

Da keuchte der Alte ihn wie einen ungezogenen Hund an: »Still! Halts Maul.«

Einen Augenblick hielt Konrad den Atem an. Dann stieg ihm etwas in die Kehle und in die Augen, wie von einer nahenden Ohnmacht. Er schnellte auf, wie ein Fisch aus dem Sand, glotzte den Bruchteil einer Sekunde seinen Vater an und fing plötzlich laut an zu lachen. 84

Draußen löste sich, in unbegreiflicher Laune der Natur, eine letzte dünne Wolke vom Himmel ab und spritzte einen vom Wind zertragenen Regen hernieder.

Wildanger verlor seine Fassung. Er konnte nichts tun und nichts reden.

Konrad schoß zur Tür hinaus in den Hof, aus dem Hof auf die Straße und von da ins Feld. Manch mal lachte er wieder.

Es dauerte eine Weile, bis er sich dazu brachte nicht mehr zu laufen.

Am liebsten hätte er gesungen. Statt dessen hüpfte er bisweilen über den Straßengraben und wieder zurück.

Der Flurschütz begegnete ihm und erwiderte erstaunt seinen Gruß. Er zog aus seiner Pfeife dicke Rauchwolken. Konrad nahm sich vor, nächstens auch einmal zu rauchen.

Der Flurschütz war noch ganz nah, da kam Konrad an einen noch ungemähten Weizenacker. Er ging mitten hindurch und ließ die Aehren wie leicht bewegtes Wasser unter seinen wagrecht ausgestreckten Händen hinrauschen. Das gab ein Geräusch, wie wenn Hagelkörner auf Fensterscheiben fallen.

Der Schütz sah zurück und wunderte sich, wohin 85 Konrad verschwunden sein könnte. Er dachte bei sich, das ist ein Räuber wie sein Vater oder einer von der Art seiner Schwester. Sonst bliebe er zu dieser Tageszeit zwischen seinen vier Wänden.

Als Konrad aus dem Feld wieder auf den Weg trat, sah er eine weibliche Gestalt unter einem Schirm auf sich zukommen. Das war die neunzehnjährige Schulverweserin Karla Birn.

An der war er schon einige Male grüßend, ohne sie zu kennen, vorbeigegangen. Sie war blond, blaß und sehr dünn. Konrad hatte sich schon immer gefragt, ob sie eigentlich schön sei. Er wußte es nicht.

Als sie jetzt auf ihn zukam und er unter dem Schirm ihr kleines Gesicht hervorleuchten sah, fand er sie schön und bekam Herzklopfen. Er wußte ihren Namen nicht, aber sie hieß im Dorf, wie stets die Schulverweserin, »das Fräulein«.

Konrad sagte mit heller Stimme: »Guten Abend, Fräulein.«

Sie antwortete, ohne zu grüßen: »Irgendwo muß es heute gewittert haben.«

Konrad atmete tief auf und meinte jetzt eine Erklärung für sein Lachen gehört zu haben.

Das Fräulein sagte etwas schulmeisterlich: 86

»Endlich sehen Sie einmal aus wie ein richtiger Gymnasiast. Sonst kommen Sie wie ein alter Mann daher.«

Konrad lachte hell auf. Dann gingen sie beide nebeneinander her.

Konrad sah durch den dünnen Blusenstoff Karla Birns weißen Arm. Er packte ihn plötzlich derb an und sagte:

»Frieren Sie denn nicht?«

Es war aber eine schwüle Backofenluft.

Karla lachte.

»Sie haben ja ganz kalte Hände.«

Und setzte wieder schulmeisterlich hinzu:

»Sie sind blutarm.«

Da blieb Konrad stehen und rieb eine ganze Minute lang seine Hände.

Das Fräulein sah sachlich zu. Dann hielt er seine Hände erst an seinen Backen und näherte sie darauf ihrem Gesicht. Sie wich aus und griff nach Konrads Händen und schob sie ihm zurück, indem sie lobend bemerkte:

»So, jetzt sind sie warm.«

Sie gingen zum Schulhaus, in dem Karla Birn bei dem alten verheirateten Lehrer ein Zimmer bewohnte. Sie sprachen nichts mehr und gaben sich 87 auch zum Abschied stumm die Hände. Erst als Konrad schon wieder zwanzig oder dreißig Schritte entfernt war, rief ihm die Verweserin nach:

»Ich danke auch für die Begleitung. Es war sehr schön.«

Ehe Konrad etwas erwidern konnte, war sie im Haus verschwunden.

Er schlenderte nach Hause. Um etwas zu tun, sang er. Nach einigen andern Melodien verfiel er auf das Lied: »Ich hatt' einen Kameraden«. Als er den Text aussprach, bezog er ihn auf Karla Birn.

Er nahm sich vor, sie als seine Freundin zu betrachten.

Zu Hause lag alles in tiefem Schlaf. Das Hoftor war verriegelt. Er ging um das Haus herum, stieg über den Gartenzaun und kam so in den Hof. In seinem Zimmer sah er noch lange zum Fenster hinaus, ehe er zu Bett ging.

Flüchtig dachte er auch daran, der Dienstherrschaft seiner Schwester einen Brief zu schreiben, um sich für ihre Gastfreundschaft zu bedanken. Er liebte es nämlich Briefe zu schreiben und schrieb oft an Menschen, die es gar nicht gab. Aber diesmal übermannte ihn die Müdigkeit. 88

Im Halbschlaf summte er noch vor sich hin: »Ich hatt' einen Kameraden«.

Im Traum ging er durch endlose Weizenfelder und hörte die Aehren unter seinen Händen rauschen. Es klang ihm wie Schnellfeuer aus tausend Flinten.

Als er morgens erwachte – es war sehr früh –, da stand in dem jungen, von vielen Stimmen schon belebten Tag, wie in einem glitzernden unruhigen Rahmen das Bild der Karla Birn. Konrad vermeinte, dies Bild gehöre nun zu ihm und in sein Leben wie etwas Erworbenes. Die kleinen Vorgänge des letzten Abends streckten sich in seinem Bewußtsein zu einem großen Ereignis.

Lisbeths Angelegenheit war ihm einigermaßen entrückt. Er hatte das Gefühl, daß er nun, wie sie, begonnen habe, von seinen Eltern abzurücken.

Er trat seinem Vater ohne Angst gegenüber. Sie trafen sich erst am späten Vormittag. Konrad tat, als ob er, während er der Mutter gegenübersaß, eifrigst lernte. Der Vater holperte ins Zimmer und stellte auch sofort Konrad wegen seines gestrigen Verhaltens zur Rede: Ob das ein Betragen sei? Ob er nicht wisse, was sich dem Vater gegenüber gezieme? Ob er ein Stromer sei, weil er in der Nacht aus dem Hause gehe? 89

Das alles wurde vom Vater schreiend gefragt, aber doch so, daß man dem wenn auch noch so lauten Ton die Unsicherheit anmerken konnte, in die Konrads Lachen und Weglaufen den Alten gestürzt hatte.

Konrad sah dem Vater frei und sicher ins Gesicht und tat erstaunt.

»Warum soll man nicht lachen? Warum soll man nicht die Sommernacht genießen?«

Das klang hell und unverdrossen. Die Mutter ließ vor Schreck über diesen neuen Ton ihr Strickzeug sinken und vergrub ihren Blick in irgendeinen Winkel.

Der Alte wieherte vor Wut; er fand keine Worte. Konrad fuhr fort:

»Es war sehr schön im Feld draußen. Wer könnte gegen einen einsamen Spaziergang etwas einzuwenden haben?«

Zu den letzten Worten lächelte Konrad; ein Zufall wollte es, daß er diesen Satz, den er vor einer Viertelstunde als Uebersetzungsbeispiel in seinem Buch über lateinische Stilistik gelesen hatte, jetzt unverändert anbringen konnte.

Das war zu viel für Wildanger, daß sein Sohn ihm so zu antworten wagte. 90

Er schoß mit erhobenen Händen auf ihn zu. Konrad, dessen gewärtig, sprang rasch auf und stellte sich hinter seinen Stuhl. So war dem Alten der Weg zu ihm verstellt.

Wildanger legte sich über den Tisch und brüllte seine Frau an: »Das ist dein Sohn.« Die Frau schickte sich an zu weinen. Konrad entfernte sich. Er widerstand der Versuchung, einen Luftsprung zu machen. Er ging in sein Zimmer und schloß sich ein.

Nun wollte er sich doch bei Lisbeths Dienstherrschaft brieflich bedanken. Er stellte umständlich sein Schreibzeug zurecht und besann sich auf ein paar gute Wendungen für den Brief.

Als er sich dann hinsetzte und zu schreiben anfing, da lautete die Ueberschrift: »Sehr geehrtes Fräulein!« Und der Brief richtete sich an Karla Birn. Konrad hatte schon beim Morgenkaffee die Mutter nach dem Namen des Fräuleins gefragt.

Er schrieb ihr von Menschentum und gegenseitigem Verständnis. Auch das Wort Sehnsucht kam öfters vor und verband sich des weiteren mit dem vagen Begriff irgendwelcher gemeinsamer Interessen.

Der Brief wurde sechs Seiten lang. Im Umschlage adressiert, verschwand er hinter der doppelten 91 Einbanddecke eines Buches. Konrad dachte gar nicht daran, ihn abzuschicken.

Er verließ sein Zimmer und ging über Treppe und Hof mit dem Gefühl eines Helden, der erhobenen Hauptes mitten durch die Feinde schreitet. Es schlug gerade elf Uhr und die Glocke verkündete Schulschluß.

Konrad ging geradewegs zum Schulhaus. Er stellte sich breit hin, legte die Hände auf den Rücken und beguckte sich die Kinder, die aus der Schule gingen. Er schien von dem Schwarm ganz eingenommen.

Aber kaum erschien Karla Birn an einem Fenster des oberen Stockwerkes, da zog er hastig seinen Hut und bemühte sich sogar, den Gruß durch eine Verbeugung zu betonen. Das mißlang ihm allerdings. Denn er hatte vergessen, die linke Hand von dem Rücken wegzunehmen.

Karla Birn winkte ihm wie ein kleines Mädchen mit der Hand einen Gruß zu und lachte sehr vergnügt.

Das war Konrad vollauf genug und er ging seiner Wege. Er hatte das dringende Bedürfnis nach sehr viel Bewegung. Es genügte ihm nicht nur, so dahinzugehen. Er stampfte auf, er reckte den Körper, 92 er machte energische Armbewegungen, die überflüssig waren. Er fühlte sich. Er glühte.

Es war bald zwölf Uhr und die Sonnenstrahlen glichen einem strömenden Regen von Glut.

Konrad meinte, seine Schläfen müßten mit jedem Schritt, den er tat, hoch anschwellen. Er sah seinen Vater auf sich zukommen. Wie klein das Männchen war! Wie lächerlich! Wie kümmerlich! Sollte er es grüßen? Du sollst Vater und Mutter ehren, steht geschrieben. Steht nicht auch geschrieben: die Eltern sollen ihre Kinder ehren?

Nein, schloß Konrad die wirbelnden Fragen ab, das steht nicht geschrieben. Und das eben ist das schreiende Unrecht, unter dem ich leide.

Das Bild seines Vaters war verschwunden. Er ging nun langsamer und kam zur Ruhe. Er zwang sich, nüchtern zu denken. Meine Eltern lieben mich nicht. Mein Vater mißhandelt mich. Meine Mutter vernachlässigt mich. Und was nun gar die Lisbeth betrifft . . .

Hier schoß ihm das Blut heiß zu Kopf und trieb ihn in Schweiß. Er blieb stehen. Er begann zu zittern. Was er meiner Schwester antut, tut er zugleich mir an.

Konrad war inzwischen bis an das väterliche Haus 93 gekommen. Vor ihm her ging die junge Magd, die mit ihm schön getan hatte. Sie trug ein Bündel Gras auf dem Kopf. Ihre Arme waren bloß und über und über schmutzig. Konrad empfand Ekel. Er dachte an Karla Birn.

Beim Mittagessen benahm er sich still und gemessen, wie wenn er allein an seinem eigenen Tische säße. Auch der Vater war schweigsamer und ruhiger als sonst. Nur die Mutter sprach mehr, als man von ihr gewöhnt war, denn sie hatte Angst vor einem Ausbruch, den sie für unvermeidlich hielt.

Sie war, als die beiden andern aufstanden, todmüde und fiel sogleich in Schlaf. Der Vater verließ das Zimmer ohne Gruß. Konrad starrte die schnarchende Mutter an.

Er wiederholte sich: Was er der Lisbeth antut, tut er mir an. Denn sie ist meine Schwester. Sie und ich – wir sind das gleiche Fleisch und Blut. Es gelüstete Konrad, seine neue Erkenntnis und Kraft deutlich zu zeigen. Er rief in geradezu pathetischem Tone: »Mutter!«

Die dicke Frau erwachte, sah sich unruhig um und sagte dann:

»Es ist doch gar zu schwül heute.« 94

Konrad, wie eine Bildsäule stehend, wiederholte: »Mutter!«

Die Mutter legte ihre Arme ganz wagrecht auf den Tisch. Konrad empfand diese unmäßig dicken Arme wie etwas Unmenschliches. Seine Worte fielen daher härter aus als er wollte:

»Mutter! Der Vater mißhandelt mich. Und der Lisbeth hat er noch Schlimmeres angetan. Was er aber meiner Schwester antut, das tut er auch mir an. Denn wir beide sind ein Fleisch und Blut.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er aus dem Zimmer.

Die Mutter verstand nichts. Sie begann leise zu weinen und weinend schlief sie ein.

Konrad ging in den Hof und von da in den Garten. Hier suchte er nach reifem Obst. Der Vater hatte ihm das von Kindheit auf streng verboten. Er dachte daran, lächelte und aß. Dann legte er sich unter einen Baum.

Vor seinem Blick lag die Ebene und dahinter schwammen märchenhaft blaue Berge. Konrad sah die blaue Kette wie eine Verheißung an. Dort drüben, dachte er, liegt es, das Hohe, das Erhabene, das Bezwingende.

Er fühlte sich sehr glücklich und träumte. 95

Dann meinte er, so etwas Blaues müsse es doch überall im Leben geben. Und er fragte sich:

»Sieht der Vater so etwas Blaues?«

»Nein!«

»Sieht die Mutter so etwas Blaues?«

»Nein!«

»Sieht die Lisbeth so etwas Blaues?«

»Ja!«

Ganz aufgeregt bejahte er diese Frage. Sogleich tastete er sich weiter:

»Was ist ihr Blaues?«

Er war um die Antwort nicht verlegen.

»Die Männer, von denen sie ihre Kinder bekam, und die Kinder selbst.«

Das Fragen ging weiter.

»Und sieht Karla Birn auch so etwas Blaues?«

Nun lächelte er über sich selbst. Denn es war ihm, als müßte das Fräulein aus den Bergen hergekommen sein und das Blaue von dort selbst in sich tragen.

So lag Konrad lange, bis er Lust fühlte zu arbeiten. Er suchte eine Gießkanne und begoß Gartenbeete. Gewiß fünfzigmal füllte er die schwere Kanne. Es machte ihm Freude, das Wasser in weitem Bogen über Blumen und Gemüse zischen zu 96 lassen. Es war aber eine ziemlich überflüssige Arbeit. Denn die Sonne brannte so stark, daß jeder Tropfen Wasser verdunstete, ehe er ins Erdreich sickern konnte. Daran dachte Konrad nicht.

Er war in diesen Tagen sehr arbeitsam. Er tat, wie wenn er durch Arbeit ein in ihn gesetztes Vertrauen rechtfertigen müsse. Kein Tag verging, an dem er nicht Karla Birn begegnete. Das war das Ereignis des Tages. Seinen Vater mied er. Und vielleicht mied er auch ihn. Sie lebten sehr friedlich nebeneinander her.

Etwa acht Tage nach der ersten Begegnung nahm sich Konrad vor, Karla Birn zu einem Spaziergang einzuladen. Er strich am Schulhaus vorbei, bis er ihrer ansichtig wurde. Sie begoß gerade ihre Topfblumen. Er grüßte sie mehr hastig als höflich und rief ihr sofort eine Einladung zum Fenster hinauf. Sogleich erschien an einem andern Fenster der alte Schulmeister, der auch Konrads Lehrer war. Er machte ein bitteres Gesicht, sah hinunter zu Konrad und hinüber zu Karla Birn, lächelte, sagte nichts und nickte mit dem Kopfe und verschwand.

Die beiden standen, starrten sich an, wurden rot 97 und taten, als ob sie zugleich Sprache und Leben verloren hätten.

Als nach einer Weile Karla Birn den Mund auftat, war es, als ob eine Statue einen Text aufsagte. Konrad verstand nicht, was sie sprach. Aber als er sich nach kurzem Besinnen – Karla verschwand sofort vom Fenster – auf den Heimweg machte, da glaubte er sich zu erinnern, daß sie nur geflüstert habe, daß es ein Selbstgespräch gewesen und daß darin in irgendeiner Verbindung das Wort »Lieber« gewesen sei.

Er ging ins Feld, arbeitete dort und freute sich mächtig. Dabei führte er für sich lange Unterhaltungen mit der blassen, schlanken Lehrerin über Mann und Frau, über Liebe und Treue, über Mut und Vertrauen.

Sein Vater arbeitete auf dem gleichen Feld. In den Pausen seiner unwirklichen Unterhaltung sah Konrad zu ihm hin und lächelte mitleidig. Und wenn Konrad manchmal in der Arbeit einhielt, weil ihn das gerade angesponnene Thema zu stark in Anspruch nahm, und nach den fernen Bergen sah, blinzelte der Alte nach ihm und lächelte ebenfalls – zwar auch mitleidig, aber daneben ein bißchen verlegen. 98

Konrad ging vor dem Vater nach Hause. Die Mutter schlief, einen Strickstrumpf in beiden Händen. Der Wollknäuel lag mitten in der Stube am Boden und eine Katze spielte mit ihm.

»Ein Märchen,« sagte sich Konrad. »Lauter Tote spielen darin eine Rolle. Ich bin der einzig Lebendige.«

Er besann sich einen Augenblick. Dann fügte er hinzu:

»Ich und Karla Birn sind die Lebendigen. Die spielt auch mit.«

Als der Vater heimkam, dunkelte es schon längst. Er trat mit einem unerklärlichen Lächeln ins Zimmer. Er roch nach Bier. Konrad merkte es und lächelte ebenfalls. Er fühlte, daß er irgendwie seines Vaters habhaft geworden sei, und sein Selbstbewußtsein schwoll an.

In der Tat war Peter Wildanger aus einer gewissen Scheu vor Konrad nicht gleich nach Hause gegangen, sondern, jeder Gewohnheit zuwider, in einem Wirtshaus eingekehrt. Dort hatte er den alten Lehrer getroffen und von ihm, der ein bitterer Lächler war und den Leuten Angenehmes und Unangenehmes gerne auf zweideutige Art sagte, Andeutungen über Konrad und Karla Birn gehört. 99 Der alte Wildanger, den der Lehrer in Harnisch zu bringen hoffte, nahm die anzüglichen Bemerkungen über Konrad wiederum mit einem Lächeln hin.

Und mit fast heiteren Mienen standen sich die beiden gegenüber. Konrad hielt dem musternden Blick seines Vaters stand. Dieser war einige Sekunden verlegen. Er ging zum Fenster und schloß es. Dann gab er der Katze einen sanften Tritt, hob den Wollknäuel auf und wickelte die Wolle, die am Boden schleifte, bis er am Tisch angelangt war, hinter dem seine Frau immer noch schlief. Da schlug er plötzlich auf den Tisch, daß die Teller, die fürs Nachtessen dastanden, laut aufhüpften.

Die Frau erwachte jäh, blinzelte in der halbdunklen Stube herum und zündete, nachdem sie sich schwerfällig erhoben hatte, seufzend die Lampe an. Ein Gruß wurde nicht gewechselt.

Als Peter Wildanger in plötzlicher Laune auf den Tisch geschlagen hatte, stieß er mit dem Kopf jäh nach Konrad herum. Dieser war eine Sekunde betroffen, dann aber quoll es in ihm wie Lachen auf.

Da schrie ihn der Alte an:

»Du!«

Dieses Du klang wie der Schrei eines wilden Tieres in der Nacht, lang und unbarmherzig. 100

Die Mutter suchte in ihrem ahnungslosen Schreck gierig nach Brosamen auf dem Tisch und schob, obwohl sie keine fand, Daumen und Zeigefinger immer wieder in den Mund.

Der Alte stürzte nun auf Konrad, beide Fäuste erhoben, zu. Dieser aber stieß ihn zurück und eilte hinaus.

Nun ergoß sich eine Flut von Schimpfworten hinter ihm her und auf die arme dicke Frau hinter dem Tisch, die so entsetzt war, daß sie nicht einmal ans Weinen dachte. Peter Wildanger aber wurde nicht müde, sie als die Mutter eines Bankerts, eines Hurenbubs, eines Drecklumpen anzusprechen.

Langsam war ihm zu Bewußtsein gekommen, daß er ein paar Stunden einem weichen und, wie er hinzufügte, schlechten Gefühl nachgegeben und seinen Sohn ästimiert habe. Er schalt sich selbst dumm und feig und wollte nicht zur Ruhe kommen. Da die Frau sein Toben nicht einmal mit Weinen quittierte, wurde er immer wilder und lief schließlich zur Tür hinaus und auf die Straße.

Hier saß Konrad auf dem Prellstein am Tor und sah aus, als ob er mit Interesse dem Schimpfen des Vaters zugehört hätte.

Wildanger stürzte sich auf ihn, ehe er sich fassen 101 konnte, und in der schon dunklen Straße rangen nun Vater und Sohn – denn Konrad wehrte sich – miteinander. Die Straße war leer. Der Himmel stand in sanftem Licht weniger Sterne dar über. Und die Luft war von leise rauschendem Winde bewegt.

Die beiden rissen, stießen und schlugen sich mit angehaltenem Atem. Es sah aus, als ob sie sich vor einem Erstickungstod in Krämpfen windeten. Schließlich fiel Konrad zu Boden. Der Alte verschwand durch das Tor in den Hof und von da in den Stall.

Dort warf er sich, der Mägde und des Knechtes nicht achtend, auf einen Haufen Spreu und schlief ein. Und er schlief so bis zum Morgen.

Seine Frau aber wartete und wartete. Schließlich schlief auch sie, wo sie saß, ein; auch sie erwachte erst, als die erste Sonne ins Zimmer fiel.

Die Mägde und der Knecht aßen kichernd ihr Abendessen in der Küche.

Konrad stand nach einer Weile auf, säuberte sich, strich sich oft über Gesicht und Haar und ging die Straße entlang zum Schulhaus.

Er war glücklich. Er sagte hörbar vor sich hin und es klang wie unterdrückter Jubel: 102

»Ich habe die Leiche geschlagen, ich habe die Leiche geschlagen.«

Er dachte immer noch an seinen Einfall mit dem Märchen.

Im Schulhaus sah er hinter den vielen Blumen im Zimmer Karla Birns noch Licht.

Um den Schulhof war ein Eisengitter gezogen. An dieses preßte er seinen heißen Körper und sein glühendes Gesicht und starrte zu dem einen Fenster hinauf. Die andern lagen im Dunkel.

So stand er wohl eine halbe Stunde, bis Karla Birn von ungefähr ans Fenster trat. Sie war gerade beim Lesen und hatte, da sie kurzsichtig war, eine Brille auf. Das machte sie nicht schöner. Ihr Haar war unordentlich, ihr Gesicht ganz vorn an den Spitzen der Backenknochen heftig gerötet. Sie hatte ihre Bluse, die vorne geknöpft war, ganz offen und die Aermel hoch aufgekrempelt. Es war ihr heiß geworden. Sie las ein schwärmerisch geschriebenes Buch: »Vom Glück der Ehe«, in dem die harmlosesten Dinge von einer anonymen Verfasserin geheimnisvoll und pastoral vorgetragen wurden.

Konrad geriet beim Anblick des Mädchens in Entzücken. So war noch nie eine Frau vor seinen 103 Augen gestanden. Er rührte sich nicht und genoß den Anblick lange und ungestört.

Schließlich zwang sich ihm ein leiser Ruf durch die Zähne:

»Fräulein!«

Erst als er ihn wiederholte, wurde Karla Birn aufmerksam. Sie suchte im Dunkel nach dem Rufer und dachte gar nicht an ihre Kleidung.

Da rief Konrad:

»Ich bin's – Konrad Wildanger.«

Nun erst raffte Karla Birn rasch ihre Bluse zusammen und trat einen kleinen Schritt vom Fenster zurück, um sie zuzuknöpfen.

Konrad konnte ihr dabei zusehen und schwieg, wie bei einer heiligen Handlung.

Dann beugte sich Karla Birn weit über ihre Blumen hinaus und rief sehr zärtlich hinunter:

»Gute Nacht, Herr Wildanger.«

Dann schloß sie das Fenster, zog sich träumerisch aus und legte sich zu Bett.

Konrad wartete unten, bis das Licht erlosch und ging glückselig nach Hause.

Das Tor war noch offen. Er schloß und verriegelte es und ging in sein Zimmer. 104

Dort legte er sich, noch müder von dem eben genossenen Glück als von der Arbeit und dem Raufen mit dem Vater, zu Bett und schlief leicht und frei ein. 105

 


 << zurück weiter >>