Hermann Sinsheimer
Peter Wildangers Sohn
Hermann Sinsheimer

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Abends saß er wieder vor dem Tor. Der Himmel hatte keine Sterne und die Dunkelheit war so dicht, daß man sie hätte mit Händen greifen können. Ein stiller Wind kühlte die Straße. Konrad freute sich der Nacht. Er dachte an den kommenden Tag wie an eine Verheißung und dachte des verflossenen Tages wie einer vollbrachten Tat. So oft er Schritte hörte, kam ihm das Mädchen in den Sinn, das er geküßt hatte. Aber er mußte eine Stunde warten, bis es wirklich kam.

Es sah ihn nicht und wollte leise ins Haus schleichen. Aber er griff aus dem Dunkel, das ihn mutig machte, mit festen Händen nach ihm und zog es an sich. Das Mädchen fügte sich ohne Widerstreben seinen Küssen. Er geleitete es küssend bis vor die Magdkammer. Dort ließ er es los und ging in sein eigenes Zimmer. Wenn er sich nicht getäuscht hatte, lachte das Mädchen, als er von ihm ging. Er wäre 42 gerne wieder umgekehrt, wagte es aber nicht. Etwas Säuerliches lag ihm in Mund und Nase.

Am nächsten Tage fuhren Vater und Sohn mit dem ersten Zug nach der Stadt, wo das zuständige Amtsgericht war. Wildanger war auf acht Uhr vorgeladen. Vorher hatte er noch allerhand zu besorgen und ging unbekümmert um die frühe Stunde seinen Geschäften nach. Er klingelte seinen Rechtsanwalt aus dem Bett, holte zwei Lieferanten vom Frühstückstisch weg und überfiel den Tierarzt, als er gerade eine eilige Fahrt in ein benachbartes Dorf antreten wollte. Ueberall wurde er eher mit Flüchen als mit Freuden empfangen, aber nirgends abgewiesen. Denn er war angesehen wegen seines Geldes und gefürchtet wegen seiner Rücksichtslosigkeit. Schlag acht stand Wildanger Vater und Sohn vor dem Zimmer des Vormundschaftsrichters. Der Alte sah Konrad nicht an, seine Augen waren auf die Tür gerichtet, als ob sie durch sie hindurchschauen könnten. Dann klopfte er leise an und trat ein. Konrad folgte ihm.

Der alte Oberamtsrichter dankte nicht für den Gruß, sondern sagte nur sehr jovial: »Aha, der Herr Wildanger!« Dann ließ er sich von seinem Schreiber einen Akt reichen und begann, wie wenn 43 er ein Gespräch fortsetzte: »Das vierte also, Herr Wildanger?«

Wildanger bejahte zaghaft und hob bedauernd die Hand.

Der Richter lächelte gutmütig:

»Fruchtbar ist Ihre Tochter, da ist nichts zu machen.«

»Schlecht ist sie, Herr Oberamtsrichter.«

»Der König braucht Soldaten.«

»Ich hab' sie erzogen, wie jeder gute Vater sein Kind erzieht.«

»Die Liebe ist halt ein störrisches Gefühl.«

»Und die Schande ein hartes Los!«

»Und immer ist ein anderer der Vater.«

»Sie ist eine – – –« Peter Wildanger ließ den Satz unvollendet.

»Liebe ist ganz schön. Aber etwas unvorsichtig ist das Mädel.«

»Sie bringt mich ins Grab.«

»Sie findet auch mal noch einen, der sie heiratet.«

»Aber was für einen!«

»Einen Armseligen nimmt Ihre Tochter nicht. Die weiß, was sie will.«

Der Oberamtsrichter wurde immer jovialer, Wildanger grimmiger. Konrad stand unternehmungslustig dabei und fraß jedes Wort in sich hinein, das gesprochen wurde. Der Anblick des nüchternen Zimmers und der vielen Akten, die auf den Tischen und Stühlen lagen, machte für ihn das Gespräch wichtig. Es war ihm, als ob, was die beiden miteinander sprachen, nicht von ungefähr, sondern nach einem bestimmten Plan und zu einem bestimmten Zweck gesprochen werde.

Der Oberamtsrichter sagte begütigend:

»Schließlich ist die Lisbeth ja doch Ihr leibliches Kind, Wildanger!«

Diese Worte machten den tiefsten Eindruck auf Konrad. Schon daß der alte Herr sie besonders mild aussprach und daß er seine Schwester beim Vornamen nannte und das Wort Kind brauchte, tat auf Konrad eine besondere Wirkung. Er machte unwillkürlich einen Schritt vorwärts.

Der Richter wurde jetzt erst auf ihn aufmerksam.

Er fragte:

»Ist das Ihr Sohn?«

Wildanger gab hastig Antwort:

»Ja! Er soll studieren.«

Der Oberamtsrichter musterte Konrad und fragte: »Haben Sie Ihre Schwester lieb?« 45

Konrad antwortete: »Ja!« Das Wort klang zuversichtlich.

»Na, dann trösten Sie sich über diese Dinge, die Sie jetzt gehört haben. Sie sind ja noch zu jung, um das zu verstehen.«

Konrad machte eine abwehrende Handbewegung.

Wildanger fuhr dazwischen:

»Er soll sich ein abschreckendes Beispiel daran nehmen. Darum hab' ich ihn mitgenommen.«

Da geriet in Konrad alles ins Wirbeln. Er trat ganz hart vor den Schreibtisch des Richters und sagte beflissen und hastig:

»Lisbeth kann doch machen, was sie will. Sie steht ja auf eigenen Füßen!«

Der Oberamtsrichter lachte laut auf. Wildanger griff nach Konrad, erreichte ihn aber nicht, Konrad sagte Adieu und ging hinaus.

Wildanger hatte vor innerer Wut und der Richter vor innerer Fröhlichkeit kaum die Fassung, die Formsache der Vormundschaftsbestellung zu erledigen. Nach zwei Minuten war Wildanger Vormund seines vierten Enkels.

Konrad wartete vor dem Gerichtsgebäude auf seinen Vater. Dieser kam, in der Hand ein grünes Heftchen, das seine Bestellung als Vormund enthielt. 46 Er drückte es seinem Sohne wild in die Hand und sagte dazu: »Da, du Lump!« Konrad nahm das Heftchen und ging, ohne einen Laut von sich zu geben, neben dem Alten her.

Wildanger ging noch rascher als sonst. Man konnte seinem fast grünen Gesicht ansehen, wie er innerlich Schimpfwort auf Schimpfwort häufte. Er war über das Verhalten Konrads dermaßen außer sich, daß er sogar Angst davor bekam, seine Wut aufkommen zu lassen.

Konrad dagegen fühlte sich sehr leicht. Er hatte sich in einem, wie ihm schien, feierlichen Augenblick zu seiner Schwester bekannt. Er spürte eine junge, neue Ueberlegenheit über seinen Vater. Erst als sie schon wieder in X. und vor ihrem Hause waren, begannen in ihm wieder bange Gefühle wach zu werden. Er versah sich des Allerschlimmsten vom Zorn des Vaters.

Und es kam, wie er befürchtete. Kaum hatte sich die Tür zum Wohnzimmer hinter ihm geschlossen, da stürzte Wildanger auch schon auf seine Frau zu und brüllte sie an:

»Deine Tochter ist eine Hure, dein Sohn ein Lump.«

Die Frau schreckte aus einem Halbschlaf auf und 47 starrte ihren Mann ratlos an. Konrad stand in der Türe, ohne sich zu rühren. Seine Mutter tat ihm leid. Er sah, daß sich ihre Augen feuchteten. Aber auch er selbst tat sich jetzt leid. Hier, zwischen diesen vier Wänden, in denen er schon so viele und schwere Demütigungen von seinem Vater erduldet hatte, kam ihn die Angst an. Er wäre am liebsten davongelaufen.

Das Geschehene und überhaupt der Inhalt seiner letzten Tage kam ihm wie etwas Unwirkliches vor. Hatte er das nicht ersonnen, um sich über seine Schwäche hinwegzutäuschen? Hatte er es nicht geträumt, weil er's nie erleben konnte? Der Schweiß hing ihm am ganzen Körper. Er zitterte vor seinem Vater.

Dieser stand zwischen Frau und Sohn, wie ein kleines häßliches Tier, in dem die Lust, zu bellen und zu beißen, jeden andern Instinkt erstickt hat. Er wollte seine Frau büßen lassen für ihre Kinder und seinen Sohn fürchterlich strafen für seine freche Unbotmäßigkeit.

Schließlich stürzte er sich auf Konrad. Der Junge stand da, wie wenn er den Angriff sehnlichst erwartet hätte. Er tat nichts, ihn abzuwehren. Der Vater schlug und würgte ihn wie einen 428 widerspenstigen toten Gegenstand. Kein Laut durchbrach die Stille des Zimmers.

Als er von ihm abließ, tat er's sichtlich, weil er müde war. Keuchend verließ er das Zimmer.

Nun wagte Frau Wildanger hörbar zu weinen. Konrad setzte sich auf den nächsten Stuhl und sah zu Boden. Sein dunkelblondes Haar, das fast grau zu sein schien, hing ihm in die niedere Stirne, von seinen Augen sah man wenig, daß man hätte glauben können, er sei blind. Seine Lippen waren dünne, zitternde Striche von unbestimmter Farbe. Die Mutter wagte nicht, ein Wort zu sprechen. Ihr war dieser ganze Vorgang unheimlich. Sie versuchte zu essen. Aber die Wurstscheibe, die sie in den Mund schob und kaute, ballte sich vor dem Schlund zusammen. Sie vermochte sie nicht zu schlucken. Sie saß mit verweinten Augen wie ein geschlagenes Tier da und fühlte eine große, große Müdigkeit in sich.

Konrad blieb minutenlang unbeweglich. Nur sein Atem ging rasch und der Schweiß lief ihm in dicken Strähnen über das Gesicht. In ihm glühte alles. Er spürte keinen Schmerz von den Schlägen des Vaters. Aber er fühlte, wie etwas in ihm aufgärte, ein entsetzlich wildes Gefühl, dem er selber keinen 49 Namen hätte geben können, von dem er aber spürte, daß es ihn fortriß, über sich selbst hinaus. Und das tat ihm wohl.

Schließlich schnellte er vom Stuhle auf. Sein Blick fiel auf seine Mutter, und er wollte, einem ersten primitiven Triebe folgend, auf sie zustürzen. Da merkte er, daß sie eingeschlafen war. Ihre Atemzüge waren tief und regelmäßig und klangen halb wie Schnarchen, halb wie Seufzen. Das schlug alle Wildheit in Konrad nieder. Er wurde ganz ruhig. Aber er faßte in diesem Augenblick einen bitteren Haß auf seine Mutter.

So schlich er leise zur Tür. Als er die Klinke erfaßte, sah er, daß ihm sein Vater die Hand blutig gekratzt hatte. Das brachte ihn um alle Besinnung. Er stürzte zurück und auf seine Mutter los, beugte sich über den Tisch, nahm sie bei den Schultern, schüttelte sie und brüllte wie sein Vater:

»Mutter, Mutter, du schläfst?«

Er hätte am liebsten so sinnlos auf sie eingeschlagen, wie vorhin der Vater auf ihn. Aber er stürzte fort – hinauf in sein Zimmer. Ein dumpfes Schluchzen, das sich aber nicht in Weinen lösen konnte, schütterte durch seinen Körper. 50

Oben begann er, ohne sich zu besinnen, einen Brief an Lisbeth zu schreiben. Er schrieb sachlich und knapp:

»Liebe Schwester! Nächsten Sonntag werde ich Dich besuchen. Es ist nicht recht, daß ein Bruder seine Schwester gar nicht kennt. Ich will Dir von dem Vater und von der Mutter erzählen. Aber ich will auch einmal Deine Kinder sehen. Denn ich bin doch ihr Onkel. Hoffentlich bist Du nicht böse, daß ich zu Dir komme.«

Er fügte auch herzliche Grüße bei und unterschrieb: »Dein Dich liebender Bruder Konrad.«

Den Brief trug er sofort zum Bahnhof, und da gerade ein Zug in der Richtung, die der Brief nehmen mußte, fällig war, wartete er und warf den Brief selbst in den Postwagen. Dann schlug er sich feldein und lief leichten Mutes in der Mittagsonne umher. Die Bauern auf dem Felde grüßte er laut und fast fröhlich. Sie schickten sich gerade an, Mittagspause zu machen. Kinder oder Großmütter trugen ihnen das Essen zu.

Konrad dachte daran, daß es nun auch für ihn Zeit sei, zum Mittagessen nach Hause zu gehen. Aber es kam ihm nicht in den Sinn, es auch wirklich zu tun, trotzdem er starken Hunger verspürte. Der 51 Zufall wollte es, daß die Taglöhner seines Vaters auf einem Felde arbeiteten, an dem er vorbeikam. Auch sie ließen sich von ihren Kindern das Essen bringen. Konrad blieb stehen und unterhielt sich mit ihnen. Sie luden ihn zum Mitessen ein. Trotzdem das nicht ernst gemeint sein konnte, setzte er sich zu ihnen. Er merkte auch sogleich, daß sie nicht eben sehr bereit waren, mit ihm zu teilen, aß ein paar Bissen und ging seines Weges weiter.

Ein Taglöhner sagte hinter ihm:

»Wie der Alte! Tät uns das bißchen Essen wegessen.«

Ein anderer setzte hinzu:

»Dem sitzt der Geiz und die Habsucht im Blut.«

Konrad hörte alles und wurde bis in die Haare hinein rot. Er war plötzlich übersatt geworden. Trotzdem riß er von einem Kirschbaum, dessen Aeste über den Weg hingen, sinnlos ein paar schon überreife Kirschen ab und steckte sie in den Mund.

Der Weg, den er ging, endigte in einem Kastanienwäldchen. Alte riesige Bäume überschatteten einen hohen Rasen. Konrad erinnerte sich, daß sein Vater das Gras und den Ertrag der Bäume alljährlich von der Gemeinde ersteigerte und ein erkleckliches Sümmchen daran verdiente. In einer plötzlichen 52 Aufwallung spuckte er, von einem Ekel an seinem Vater erfaßt, einen Baum an. Dann legte er sich ins Gras.

Er wollte schlafen, aber es gelang ihm nicht. Ein graues Gefühl der Bosheit überkam ihn. Er freute sich, daß der Alte ihn jetzt fluchend suche oder suchen lasse, daß er die Mutter ausschimpfe und quäle und daß sie unglücklich sei, weil man ihr die Ruhe beim Essen störe. Auch Lisbeth hatte plötzlich seine Sympathien verloren. Er machte ihr Vorwürfe: Warum ist sie nicht zu Hause geblieben oder warum kehrt sie nicht zurück? Zu zweien könnten sie, Lisbeth und er, den Alten schon klein bringen. Und er freute sich hinwiederum, daß sie bei fremden Leuten sich müde arbeiten müsse, daß sie das gedrückte Leben einer Magd führe und wegen ihrer Bankerte schief angesehen werde.

Er lag auf dem Rücken, hatte die Hände unterm Kopf und schlug mit den Beinen alles erreichbare Gras nieder. So wohl hatte er sich lange nicht gefühlt. Schon lange auch nicht mehr so stark! Er hatte große Lust aufzuspringen und Aeste von den Bäumen abzureißen und sie zu zertreten. Aber er begnügte sich damit, auf dem Rücken fortzurutschen 53 und immer wieder das Gras mit den Beinen niederzuschlagen.

Manchmal gingen Leute über den schattigen Platz ins Feld. Er sorgte dafür, daß ihn niemand sah. Es gefiel ihm sehr, den Gesprächen zu lauschen, die sehr ungeniert geführt wurden, weil die Leute sich keines Lauschers versahen.

Zwei alte Weiber blieben im Schatten eines Baumes stehen und schimpften gehässig über alles, was ihnen im Dorf zuwider war, vor allem auf die jungen Burschen und Mädchen, die es, wie die beiden Alten behaupteten, miteinander hatten. Da war kaum ein Mädchen im Dorf, denen die zwei Vetteln nicht etwas Schlechtes nachsagten. Vom Bürgermeister sagte die eine kichernd, er schlafe öfter bei seiner Magd als bei seiner Frau. Da schluchzte die andere vor Lachen und meinte, das werde keinen großen Wert haben.

Konrad teilte ganz hemmungslos die Freude der beiden und erinnerte sich an das, was der alte Bürgermeister jüngst zu ihm wegen der Lisbeth gesagt hatte. Er fühlte sich jetzt förmlich gerächt, trotzdem jener nichts Böses gewollt hatte.

Dann kamen ein paar Burschen hart an ihm vorbei. Sie erzählten grobe Zoten und bemühten sich, 54 möglichst oft gemeine Ausdrücke zu gebrauchen. Je ekelhafter einer von den Weibern und von dem, was man Liebe nennt, sprach, desto freudiger stimmten ihm die andern zu.

Konrad war nicht abgeneigt, es den Burschen gleichzutun. Er mußte an die Magd denken, die er geküßt hatte. Wenn sie nur jetzt bei ihm wäre! Jetzt wäre er allem, was ihn reizte, auf den Grund gegangen. Er griff sich in seinem überheißen Verlangen mit beiden Fäusten unbarmherzig ins Haar, so daß er Schmerz verspürte.

Nach einer langen Weile, während der er sich gequält im Grase herumgewälzt hatte, kamen zwei junge Mädchen heran. Sie hatten ziemlich kurze Röcke an, so daß Konrad ihre drallen Waden sehen konnte. Die eine hatte auch ihre Aermel hochgekrempelt. Konrads Augen wurden heiß, daß ihm fast die Tränen kamen. Die beiden Mädchen flüsterten unhörbar miteinander und gingen rasch vorüber.

Aber Konrad behielt ihr Bild im Auge. Er zog ihnen in Gedanken die Kleider aus und weidete sich an ihren nackten Körpern. Nun kehrte er mit seinen Wünschen zu der kleinen Magd zurück und ersann sich allerhand Zärtlichkeiten für sie. Er geriet dabei 55 förmlich in Aufruhr, bis er das Liegen nicht mehr ertrug und aufsprang.

Er rannte wie besessen durch das Gras auf den Weg. Hier schlenderte er langsam zum Feld seines Vaters. Als er sah, daß man da Garben band und fertige Garben zu Haufen zusammenschichtete und von den Haufen Garben auf einen Wagen lud, kam ihn die Lust an, mitzuhelfen. Er zog seine Jacke und seine Weste aus, nahm eine große Gabel zur Hand und arbeitete, ohne viel zu reden, mit. Daß auch keiner der Arbeiter und Arbeiterinnen ein Wort darüber verlor, fand er sehr schön; es erinnerte ihn an den Homer.

Konrads Fleiß hielt stand; er arbeitete mit, bis auch die letzte Garbe aufgespießt und der letzte Wagen hoch beladen war. Da kam sein Vater, um nachzusehen, ob die Arbeit bald geschafft sei. Als er Konrad sah, stutzte er. Er wollte auf ihn losfahren, weil er nicht beim Essen war. Aber er empfand eine Art von Scheu vor dem arbeitenden Jungen und schimpfte auf die andern ein, daß sie viel zu lange Zeit gebraucht hätten, um den Acker zu räumen.

Konrad, der gerade noch einige volle Aehren auf der Gabel hatte und sie auf den Wagen werfen wollte, krampfte vor Wut seine Hände um den Gabelstiel 56 und schüttelte die Aehren wieder zu Boden. Sein Vater stand mit dem Rücken gegen ihn. Da schoß dem Jungen ein verbrecherischer Gedanke durch den Kopf: jetzt könnte er den Vater nieder- und zu Tode rennen!

Dann ging er neben seinem Vater, wie wenn nichts vorgefallen wäre, hinter dem Erntewagen her. Man hatte die Ladung zu breit geschichtet, so daß der Wagen im Hoftor stecken blieb. Ohne ein Wort zu verlieren, griff der alte Wildanger in die Speichen des linken und der junge in die des rechten Hinterrades; so halfen beide den Widerstand überwinden. Dabei wurden viele Aehren zu Boden gestreift. Wildanger war wie ein Wiesel hinter ihnen her und sammelte sie bis auf die letzte ein. Konrad stand dabei und sah zu. Seine Arbeitslust hatte ein Ende.

Im Zimmer saß die Mutter. Konrad grüßte kurz und kümmerte sich nicht um ihre vorwurfsvollen Blicke. Er trat an den Tisch und aß von den Tellern, die da standen, Käse, Wurst und kaltes Fleisch. Ein Glas Wein, das die Mutter zur Hälfte getrunken hatte, leerte er vollends. Dann ging er in sein Zimmer, nahm ein Buch und las.

Er fühlte sich zum erstenmal in seinem Leben von 57 seinen Eltern losgelöst. Sie gingen ihn von dieser Stunde nichts mehr an.

Nach dem Abendessen, das vom alten Wildanger merkwürdig einsilbig eingenommen wurde, ging Konrad in den Stall. Er sah nach der jungen Magd. Sie war aber nicht zu finden, auch in der Küche und im Schuppen nicht, wo sonst die Mägde abends zu sitzen pflegten. Konrad ging am Bahnhof vorbei ins Feld. Neben dem Bahngeleise lief ein schmaler Pfad, der auf beiden Seiten mit fast mannshohen Hecken bepflanzt war. Diesen Pfad ging Konrad ohne bestimmte Absicht. Aber als er mehreren Pärchen aus dem Dorfe begegnete, wurde er aufmerksam.

Die Abendsonne lag, ein müdes Feuer, am Himmel. Zerzauste Wölkchen brachten durch ihre mattrote Farbe einige Abwechslung in das sterbende Blau. Konrad sah abgespannt in den hereinbrechenden Abend. Ohne sich über den Grund Rechenschaft zu geben, kam er aus einem sorglosen Gehen ins Schleichen. Er spähte vorsichtig nach Menschen aus. Plötzlich wußte er, warum: er sah die Magd auf der Böschung, die zum Geleis führte, sitzen. Er fing an, irgendein Lied vor sich hinzuträllern und tat so, als ob er das Mädchen nicht beachte. In der Tat 58 schickte er sich auch an, an ihr vorbeizugehen. Da kicherte sie. Er blieb stehen und fragte:

»Was lachst du?«

»Ueber dich halt,« erwiderte sie sehr offen.

»Warum über mich?« fragte er weiter und seine Stimme zitterte vor Erregung.

»Weil du so ein komischer Teufel bist.«

Das Mädchen lachte von neuem, bog dabei seinen Oberkörper zurück, so daß seine Brüste stark hervor traten. Konrads Kopf wurde heiß.

Das Mädchen schrie vor Lachen:

»Weil du mich im Dunkeln geküßt hast und jetzt so vorbeigehst, wo ich doch allein hier sitze. Du Dummkopf, du!«

Nun verlor Konrad die Besinnung. Er stürzte auf das Mädchen, küßte es, biß es, schlug es, daß es vor Wollust und Schmerz aufheulte, und sprang davon.

Das Mädchen blieb zurück; es wischte mit dem Handrücken Augen und Gesicht und murmelte halb weinend, halb lachend: »Du Dummkopf!«

Konrad lief wie ein Verfolgter durchs Feld. Erst nach langen Minuten kam er zur Ruhe und setzte sich auf einen Feldstein. Er sah in die untergehende Sonne. Sie selbst lag schon hinter den Bergen. Aber 59 ein Meer von Blut zeigte sie noch an. Konrad tat die rote Farbe wohl. Sie war wie ein Bild der Ruhe, die nun in ihm war.

Er hatte noch nie in seinem Leben einen Menschen ernstlich zu schlagen gewagt. Er war von jeher immer selbst der Geschlagene, der jede Mißhandlung ergeben und still ertrug. Daß er den Spott der Magd so leicht und – er sprach für sich das Wort geradezu aus – so schön überwältigt hatte, erfüllte ihn mit großer Befriedigung. Er kam sich vor wie ein Sieger, wie einer, der seine erste Schlacht gewonnen hat. Sein Gefühl hatte etwas Farbe bekommen und seine Augen waren merklich größer geworden. Seine Hände lagen zu Fäusten geballt, auf seinen Knien.

In dieser Stimmung und Stellung dachte er an seinen Vater und lachte – an seine Mutter und lachte – an seine Schwester und lachte. Beim Lachen zog er die Schultern langsam hoch und ließ sie jäh wieder sinken.

Erst als es vollkommen dunkel war, ging er nach Hause, aber auf einem andern Wege, als er gekommen war. Vor dem Hoftor setzte er sich noch einmal. Er wartete auf die junge Magd. Sie kam aber 60 nicht mehr. Da ging er ins Haus und in sein Zimmer.

Als er eine Viertelstunde im Bett lag, wurde plötzlich die stets unverschlossene Tür aufgerissen, eine Gestalt erschien im Dunkeln und rief kichernd: »Du Dummkopf!« Wie ein Blitz verschwand die Erscheinung wieder. Es war die junge Magd. Konrad hatte sie erkannt.

Er lachte fröhlich über diesen Streich und wühlte sich trotz der Hitze tief in die Kissen. 61

 


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