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Dreizehntes Kapitel.

Eines Morgens erhielt Gertrude von ihrem Vater einen Brief:

Meine liebe Gerty,

ich habe grade von Madame Smith eine Rechnung von 110 Pfund für Deine Kleider erhalten. Darf ich mir vielleicht die Frage erlauben, wie lange das noch so weitergehen soll? Ich brauche Dir wohl nicht zu erzählen, daß ich nicht die Mittel habe, eine solche Verschwendung noch fernerhin zu unterstützen. Ich bin, wie Du weißt, immer ängstlich besorgt, daß Du Deiner Stellung entsprechend auftreten kannst. Aber wenn das nicht anders geht, als daß ich dabei jede Saison Hunderte von Pfund an Madame Smith wegwerfen muß, dann ist es besser, wenn Du die Gesellschaft aufgibst und zu Hause bleibst. Ich kann es tatsächlich nicht aufbringen. Soviel ich sehe, hat das ganze Gesellschaftsleben Dir nicht viel genützt. Vorigen Monat mußte ich 500 Pfund bei Franklands erheben, und es wäre noch schöner, wenn ich noch mehr erheben müßte, um Deine Kleidermacherin zu bezahlen. Wenn Du wenigstens eine Privatperson beschäftigtest, oder eine, die keine solche Preise macht. Madame Smith erklärt mir, sie will nicht länger warten, und sie verlangt für jedes einzelne Kleid 60 Pfund. Ich hoffe, Du hast mich jetzt richtig verstanden, daß diese Sache ein Ende haben muß.

Ich höre von Deiner Mutter, daß sich der junge Erskine mit Dir bei den Brandons aufhält. Ich halte nicht viel von ihm. Er ist nicht wohlhabend und wird es auch kaum werden, da er sich mit Poesie und dergleichen abgibt. Und dann habe ich gehört, daß ein Mann namens Trefusis jetzt sehr oft Beeches besucht. Er muß ein Narr sein, denn er trat bei der letzten Wahl in Birmingham als Kandidat auf und erhielt ganze zweiunddreißig Stimmen, weil er sich als Sozialdemokrat oder mit einem ähnlichen ausländischen Unsinn bezeichnete, statt wie ein Mann zu sagen, er sei ein Radikaler. Ich glaube, der Name blieb ihm in der Kehle stecken, denn seine Mutter war eine von den Howards auf Breconcastle. So fließt gutes Blut in ihm, obgleich sein Vater ein Niemand war. Ich wollte, er hätte Deine Rechnungen zu bezahlen. Er kann mich zehnmal kaufen und verkaufen, trotz meiner fünfundzwanzig Jahre Staatsdienst.

Da ich vorhabe, das Haus etwas instand setzen zu lassen, so wäre es mir lieb, wenn Du diesen Monat noch nicht zurückkämst, falls Du Dich nur irgendwie bei den Brandons halten könntest. Empfehle mich ihm und bestelle seiner Frau meine freundlichsten Grüße. Ich wäre Dir dankbar, wenn Du einige Schierlingblätter bekommen könntest und sie mir zuschicktest. Ich brauche sie für meine Salbe. Das Zeug, das die Apotheker verkaufen, taugt nichts. Deine Mutter leidet wieder an den Augen, und Dein Bruder Berkeley hat gespielt. Er scheint zu glauben, ich müßte seine Schulden bezahlen. Das alles macht mir vielen Kummer, und ich hoffe, daß Du bis zu Deiner Verheiratung vernünftiger bleibst und mir nicht mehr diese immerwährenden Rechnungen auf den Hals schickst. Du genießest das Leben und bist fern von allem Unangenehmen, aber es lastet doch schwer auf

Deinem Dich liebenden Vater
C. B. Lindsay.

 

Ganz schwache Falten, die ersten Anzeichen des beginnenden Alters, erschienen auf Gertrudes Gesicht, als sie den Brief las. Aber sie beeilte sich, die Grüße des Admirals ihren Wirtsleuten mitzuteilen, und besprach dann mit ihnen voll Mitgefühl den Gesundheitszustand ihrer Mutter. Nach dem Frühstück ging sie in die Bibliothek und schrieb ihre Antwort:

 

Brandon Beeches.
Dienstag.

Lieber Papa,

es sind drei Jahre her, daß Du zuletzt eine Rechnung an Madame Smith bezahlt hast, und damals machte es einschließlich meines Kleides für den Hof nur 150 Pfund aus. Ich sehe daher nicht ein, wie ich noch sparsamer sein kann, außer ich muß in Lumpen gehen. Es tut mir leid, daß Madame Smith zu so ungelegener Zeit um Bezahlung gebeten hat, aber als ich Dir im März vorigen Jahres riet, ihr etwas zu bezahlen, sagtest Du mir, ich sollte sie durch einen guten Auftrag beruhigen. Ich wundere mich gar nicht über ihre Unhöflichkeit, denn sie hat unter ihren Kundinnen eine Menge Kaufmannstöchter, die ihr für ihre Kleider mehr als 300 Pfund im Jahr bezahlen. Ich trage jetzt einen Rock, den ich vor zwei Jahren erhielt.

Sir Charles fährt Donnerstag in die Stadt, er wird Dir den Schierling mitbringen. Sage Mama, daß hier eine alte Frau wohnt, die ein wunderbares Mittel gegen schlechte Augen kennt. Sie will die einzelnen Bestandteile nicht nennen, aber es kuriert jeden. Es hat auch keinen Zweck, einem Augenarzt zwei Guineen zu geben, damit der uns erzählt, daß das Lesen im Bett schädlich für die Augen ist. Wir wissen ja doch ganz gut, daß Mama diese Gewohnheit nie aufgibt. Wenn Du Berkeleys Schulden bezahlst, dann vergiß nicht, daß ich noch von ihm drei Pfund bekomme.

Es ist noch eine andere Schulfreundin von mir hier auf Besuch, und ich glaube, Mr. Trefusis wird noch einmal das Vergnügen haben, ihre Rechnungen zu bezahlen. Er ist ein großer Liebling von Lady Brandon. Sir Charles war zuerst böse, weil sie ihn einlud, und wir wunderten uns alle darüber. Der Mann hat einen schlechten Ruf, und er führte einen Pöbelhaufen an, der die Mauern des Parks niederriß. Wir glaubten auch kaum, daß er den Mut haben würde, nach alledem noch zu erscheinen. Aber er scheint sich nichts daraus zu machen, ob wir ihn gern hier haben oder nicht, und er kommt, wenn er will. Da er interessant redet, betrachten wir ihn als ein Geschenk Gottes an diesem öden Platz. Es ist wirklich nicht solch ein Paradies, wie Du denkst. Aber Du brauchst keine Angst zu haben, daß ich früher zurückkomme, als ich dazu gezwungen bin.

Deine Dich liebende Tochter
Gertrude Lindsay.

 

Als Gertrude den Brief geschlossen und den ihres Vaters zerrissen hatte, dachte sie noch etwas über beide nach. Sie hätten sie vielleicht unglücklich gemacht, wenn sie vorher glücklich gewesen wäre. Aber hoffnungslose Unzufriedenheit war jetzt ihr gewöhnlicher Zustand und Fröhlichkeit ein seltener Zufall. Daher versetzten diese gegenseitigen Beschuldigungen in dem Briefwechsel mit ihrem Vater sie höchstens in eine schlechte Laune, aber sie wurde dadurch nicht im mindesten enttäuscht oder gedemütigt.

Um etwas Bewegung zu haben, beschloß sie, den Brief selbst zu dem Postamt im Dorfe hinzutragen und den Riverside Road zurückzukehren. Sie hatte dort Schierling stehen sehen. Sie gab sich Mühe, ungesehen hinauszukommen, denn sie fürchtete, daß Agatha sich anschließen wollte oder daß Jane vorschlagen würde, sie sollten nachmittags zum Postamt hinausfahren. Und Jane wäre den ganzen Tag verdrießlich gewesen, wenn der Ausflug nicht auf den Nachmittag verlegt worden wäre. Gertrude nahm zum Schutz gegen Stromer einen großen Bernhardinerhund namens Max mit. Dieses junge, lebhafte Tier hatte eine starke Zuneigung zu ihr und hatte das offen und stürmisch zum Ausdruck gebracht. Und sie, deren Gefühle zu Hause und in der Gesellschaft verhungert waren, hatte ihn mit mehr Freundlichkeit ermutigt, als sie jemals einem menschlichen Wesen gezeigt hatte.

Als sie im Dorf den Brief aufgegeben hatte, schlug sie einen Pfad ein, der zum Riverside Road führte. Max, der nicht wußte, warum sie den längsten Weg nach Hause wählte, war damit nicht zufrieden. Er blieb mitten auf dem Pfade stehen, wedelte heftig mit dem Schwanz und ließ ein mürrisches Bellen hören.

»Sei nicht so dumm,« sagte Gertrude ungeduldig, »ich gehe diesen Weg.«

Max verstand sie jetzt offenbar. Er lief hinter ihr her, überholte sie und verschwand in einer Wolke von Staub, die er aufgewirbelt hatte, als er genügend vorausgelaufen war und nun plötzlich halt machte. Als er zurückkam, küßte sie seine Schnauze und lief mit ihm um die Wette, bis sie ebenso keuchte wie er und stehen blieb, um Atem zu schöpfen, während er herumsprang und wütend bellte. Seit Jahren hatte sie nicht mehr solchen Spaß gehabt, und da ihr das einfiel, kamen ihr die Tränen in die Augen. Etwas verdrießlich bat sie Max, ruhig zu sein, ging langsam weiter, um sich abzukühlen, und spannte ihren Sonnenschirm auf zum Schutze gegen Sommersprossen.

Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel. Zur Rechten von Gertrude an einer Böschung stand Sallusts Haus und gab mit seinen zimtbraunen Wänden und dem gelben Fries der sonst ganz englischen Landschaft ein fremdartiges Gepräge. Sie ging vorbei, ohne daran zu denken, wer dort wohnte. Etwas weiter auf dem Wege, auf einem Stück wüsten Landes, das durch einen trockenen Graben und einen niedrigen Erdwall von der Straße getrennt war, stand ein fast sechs Fuß hoher Haufen von Schierlingspflanzen und vergiftete die Luft mit seinem Geruch. Sie kreuzte den Graben, nahm ein Paar Gartenhandschuhe aus ihrem aus Stroh geflochtenen Handkorb und machte sich eifrig an die Schierlingsblätter, indem sie die zartesten abriß, sie von den Stengeln befreite und den Korb mit dem Grün anfüllte. Sie vergaß Max, bis das Gefühl eines tödlichen Schweigens, als ob die ganze Erde erstarrt sei, sie veranlaßte, in unbestimmter Angst um sich zu blicken. Trefusis stand ganz in ihrer Nähe und beobachtete sie. Er hatte seine Hand dem Hunde zum Spielen überlassen, der versuchte, sie ganz in seinen Mund hineinzuziehen. Gertrude erblaßte und kam schnell zwischen den Sträuchern hervor. Dann hatte sie die seltsame Empfindung, als ob hoch über ihrem Kopfe irgend etwas geschehen sei. Sie hörte ein drohendes Knurren, einen befehlenden Ruf, und dann folgte eine unerklärliche Stille, bis sie sich liegend auf dem Rasenrand fand, wobei der aufgespannte Sonnenschirm ihr Gesicht schützte. Ein plötzliches Lecken von Max' feuchter, warmer Zunge an ihrem Ohr brachte sie wieder zur Bewegung. Sie setzte sich auf und sah Trefusis an ihrer Seite knien. Mit ruhigem Gesicht hielt er den Sonnenschirm, während an der andern Seite Max mit rastloser Ängstlichkeit sie beschnupperte.

»Ich muß nach Hause fahren,« sagte sie. »Ich muß sofort nach Hause fahren.«

»Durchaus nicht,« bemerkte Trefusis begütigend. »Sie haben grade Nachricht geschickt, es sei alles in Ordnung und Sie brauchten nicht zu kommen.«

»Haben sie das wirklich?« fragte sie matt. Dann fiel sie wieder hin, und es schien ihr, als ob eine sehr lange Zeit vergehe. Plötzlich fiel ihr ein, daß Trefusis sie sanft mit seiner Hand gestützt hatte, damit sie nicht zu hart zurückfiel. Sie erhob sich von neuem und kam diesmal mit seiner Hilfe auf ihre Füße zu stehen.

»Ich muß nach Hause fahren,« sagte sie wieder. »Es handelt sich um Leben und Tod.«

»Nein, nein,« entgegnete er sanft. »Es ist alles in Ordnung. Sie können sich auf mich verlassen.«

Sie sah ihn mit ernstem Blick an. Er hielt ihre Hand, um sie zu stützen, denn sie schwankte ein wenig. »Sind Sie sicher?« fragte sie und ergriff ihn beim Arm. »Sind Sie ganz sicher?«

»Vollständig sicher. Sie wissen doch, daß ich immer recht habe.«

»Ja, o ja! Sie sind immer aufrichtig gegen mich gewesen. Sie –« Hier kehrte plötzlich ihre Besinnung wieder. Sie ließ seine Hand fahren, als ob sie rotglühend geworden sei, und fragte scharf: »Wovon sprechen Sie eigentlich?«

»Ich weiß es nicht,« antwortete er und nahm lachend sein gleichgültiges Wesen wieder an. »Geht es Ihnen besser? Ich werde Sie nach Beeches fahren. Mein Stall liegt nur einen Steinwurf von hier entfernt. Ich kann in zehn Minuten ein Gespann haben.«

»Nein, danke sehr,« sagte Gertrude stolz. »Ich will nicht fahren.« Sie machte eine Pause und fügte etwas verwirrt hinzu: »Was ist geschehen?«

»Sie wurden ohnmächtig, und –«

»Ich wurde nicht ohnmächtig,« sagte Gertrude unwillig. »Ich bin in meinem Leben noch nicht ohnmächtig geworden.«

»Es ist aber so.«

»Verzeihen Sie, Mr. Trefusis. Ich wurde nicht ohnmächtig.«

»Sie sollen selbst urteilen. Ich kam über dieses Feld und sah, daß Sie Schierling sammelten. Schierling ist interessant durch die Geschichte des Sokrates, und Sie waren interessant als Dame, die Gift sammelt. So blieb ich stehen und sah Sie an. Gleich darauf kamen Sie aus dem Gebüsch heraus, als ob Sie eine Schlange gesehen hätten. Dann fielen Sie in meine Arme – was mich auf die Vermutung bringt, Sie seien ohnmächtig geworden – und Max, der glaubte, ich sei daran schuld, sprang mir fast an die Kehle. Sie wurden betäubt durch die Ausdünstung des Wasserschierlings, die Sie zehn Minuten oder noch länger eingeatmet haben müssen.«

»Ich wußte nicht, daß eine Gefahr dabei war,« sagte Gertrude niedergedrückt. »Ich fühlte mich schon vorher sehr müde. Daher habe ich auch das zweitemal so lange dagelegen. Ich konnte mir wirklich nicht helfen.«

»Sie haben nicht sehr lange dagelegen.«

»Nicht beim erstenmal. Ich weiß, das war nur für ein paar Sekunden. Ich muß mindestens noch zehn Minuten dagelegen haben, nachdem ich wieder zu mir gekommen war.«

»Sie waren ungefähr eine Minute lang ohne Besinnung, als Sie zum erstenmal fielen. Und nachdem Sie wieder zu sich gekommen waren, wurden Sie noch einmal für eine Sekunde ohnmächtig. Dann phantasierten Sie, und ich erfand passende Antworten, bis Sie mich plötzlich fragten, worüber ich redete.«

Gertrude errötete etwas bei dem Gedanken, sie könnte in ihrer Verwirrung unvorsichtig geredet haben. »Es war sehr töricht von mir, daß ich ohnmächtig wurde,« sagte sie.

»Es war nicht Ihre Schuld, Sie sind nur ein menschliches Wesen. Ich werde mit Ihnen nach Beeches gehen.«

»Danke sehr, ich will Sie nicht bemühen,« sagte sie schnell.

Er schüttelte seinen Kopf. »Ich weiß nicht, wie lange die Nachwirkung von diesem abscheulichen Giftkraut dauert,« sagte er. »Ich darf Sie jetzt nicht allein gehen lassen. Wenn Sie es vorziehen, will ich Sie durch meinen Gärtner hinfahren lassen, aber ich würde Sie am liebsten selbst begleiten.«

»Sie geben sich wirklich eine ganz unnötige Mühe. Ich will gehen. Ich bin wieder ganz wohl und brauche keine Hilfe.«

Sie brachen auf, ohne noch etwas zu sagen. Gertrude mußte alle ihre Willenskraft zusammennehmen, um vor ihm zu verbergen, daß sie schwindlig war. Eine betäubende Müdigkeit hatte sie ergriffen, und sie glaubte schon, daß sie nur träumte, als er sie aufweckte, indem er sagte:

»Nehmen Sie meinen Arm.«

»Nein, danke sehr.«

»Seien Sie nicht so unvernünftig eigensinnig. Sie werden sich an die Hecke anlehnen müssen, um sich zu stützen, wenn Sie meine Hilfe zurückweisen. Es tut mir leid, daß ich nicht darauf bestand, den Wagen zu holen.«

Gertrude hatte eine solche Sprache seit ihrer Kindheit nicht mehr gehört. »Ich fühle mich vollkommen wohl,« sagte sie scharf. »Sie sind wirklich sehr zudringlich.«

»Sie fühlen sich nicht vollkommen wohl, und Sie wissen das auch. Aber wenn Sie tapfer kämpfen, werden Sie vielleicht auch ohne meine Hilfe gehen können, und die Anstrengung wird Ihnen gut tun.«

»Sie sind sehr grob,« sagte sie hartnäckig.

»Ich weiß das,« entgegnete er ruhig. »Sie werden drei Klassen von Männern finden, die höflich gegen Sie sind – Sklaven, Männer, die viel von Ihren Manieren und nichts von Ihnen selbst halten, und solche, die Sie lieben. Ich gehöre zu keiner von diesen und gebe Ihnen daher Ihre schlechten Manieren mit Zinsen zurück. Weshalb widerstehen Sie Ihrem besseren Selbst und unterdrücken solche aufrichtigen und natürlichen Regungen. Sie kommen oft genug über Sie und bringen in Ihr Gesicht einen Blick, der einen Bären zahm machen würde. Aber Sie beeilen sich, diesen Blick auszulöschen, wie ein Dieb seine Laterne auslöscht, sobald er nur einen Fußtritt hört.«

»Mr. Trefusis, ich bin nicht daran gewöhnt, mich belehren zu lassen.«

»Eben deswegen belehre ich Sie. Ich war neugierig, was aus Ihrer guten Erziehung, auf die Sie, wie ich glaube, großen Wert legen, wohl unter gänzlich neuartigen Umständen würde, zum Beispiel, wenn ein Mann Ihnen seine aufrichtige Meinung sagt. Was ist nun das Ergebnis meines Versuchs? Anstatt mich freundlich und würdig zurückzuweisen, was ich trotz aller früheren Beobachtungen von Ihnen erwartet habe, verbitten Sie sich in grober Weise die angebotene Hilfe, die Sie wirklich brauchen, nennen mich selbst sehr roh, sehr zudringlich und tun, kurz gesagt, was Sie können, um meine Lage unangenehm und demütigend zu machen.«

Sie sah ihn hochmütig an, aber in seinem Gesicht lag nichts von Beleidigung oder Furcht, und er fuhr, da sie keine Antwort gab, fort.

»Ich würde alles das von einer arbeitenden Frau ohne Einwendung ertragen, denn sie schuldet mir weder feines Benehmen noch feine Gefühle. Aber Sie sind eine Dame. Das heißt, viele haben sich in schmutzigem Elend abgequält und haben gehungert, damit Sie weiße und zarte Hände, schöne Kleider und feine Manieren haben – daß Sie eine lebende Quelle von allem sind, was die Natur und das Leben schön macht. Wenn ein solches kostbares Ding wie eine Dame bei der ersten Berührung durch eine feste Hand zusammenbricht, dann fühle ich mich berechtigt, sie zu beklagen.«

Gertrude ging schnell vorwärts und sagte zwischen den Zähnen: »Ich will nichts mehr von Ihren lächerlichen Ansichten hören, Mr. Trefusis.«

Er lachte. »Meine armen Ansichten!« sagte er. »Jedesmal, wenn ich eine unbequeme Bemerkung mache, wird sie als Äußerung einer gewissen gefährlichen Verrücktheit, mit der ich behaftet sein soll, zur Seite geworfen. Wenn ich Sir Charles andeute, daß einer seiner Lieblingsmaler etwas nicht genau beobachtet hat, bevor er daranging, es zu zeichnen, dann entgegnet er: ›Sie kennen unsere verschiedenen Ansichten über diese Dinge, Mr. Trefusis.‹ Als ich Miß Wylies Vormund sagte, sein Auswanderungsplan sei nicht viel besser als ein Betrug, meinte er: ›Sie müssen mich entschuldigen, aber ich kann auf Ihre merkwürdigen Ansichten nicht eingehen.‹ Eine meiner augenblicklichen Ansichten ist die, daß Miß Lindsay unter dem Einfluß des Schierlings viel liebenswürdiger ist als unter dem des sozialen Systems, das sie so unglücklich gemacht hat.«

»Nun gut!« rief Gertrude sehr beleidigt. Dann sagte sie nach einer Pause: »Ich glaubte, ich sei in der Begleitung eines Gentleman.« Trefusis blieb völlig ungerührt, und sie fügte nach einer weiteren Pause hinzu: »Woran sehen Sie, daß ich unglücklich bin?«

»An einem gewissen Mangel in Ihrer Haltung. Ihnen fehlt die letzte Schönheit, die nur das Glück verleiht. Ich sehe es ferner an einem Mangel in Ihrer Stimme, der nie verschwinden wird, bis Sie es lernen, die zu lieben oder zu bemitleiden, mit denen Sie sprechen.«

»Sie irren sich,« sagte Gertrude mit ruhiger Verachtung. »Sie verstehen mich nicht im mindesten. Ich hänge sehr an meinen Freunden.«

»Dann habe ich Sie nie in ihrer Gesellschaft gesehen.«

»Auch darin irren Sie sich.«

»Wie können Sie denn so sprechen, blicken und handeln, wie Sie es tun?«

»Was meinen Sie damit? Wie blicke oder handle ich?«

»Wie einer von den Gitterstäben auf dem Belgrave Square blicken und handeln würde, wenn er Bewußtsein hätte. Er würde sich vor dem Urteil der andern Stäbe fürchten und Angst haben, aus der Reihe herauszufallen. Sie sind kalt, mißtrauisch, grausam gegen nervöse und unbeholfene Menschen, und Sie fürchten sich mehr vor der Kritik der Leute, mit denen Sie tanzen und essen, als vor Ihrem eigenen Gewissen. Wenn alles das nicht wäre, würden Sie den Blick eines Engels haben.«

»Danke sehr. Sie glauben wohl, Komplimentemachen gehöre zur Vollendung eines Gentleman?«

»Habe ich Ihnen schon viele gemacht? Meine letzte Bemerkung war nicht als Kompliment gemeint. Ich gebe Ihnen mein Wort, die Engel brauchten nicht lieblicher zu sein, als Sie wären, wenn Sie jenen Blick in den Augen und den Ton in der Stimme hätten, von dem ich vorhin sprach. Ich weiß nicht, wie das Ihr Mißfallen erregen kann, wenn Sie das hören. Wäre ich besonders hübsch, ich hätte es gern, wenn man mir so etwas sagte.«

»Es tut mir leid, daß ich es Ihnen nicht sagen kann.«

»Oh! Ha, ha! Was für eine Entgegnung, Miß Lindsay! Es tut Ihnen gar nicht leid. Sie sind sogar froh darüber.«

Gertrude wußte das und war ärgerlich über sich selbst. Nicht weil ihre Entgegnung falsch war, sondern weil sie dachte, sie paßte sich nicht für eine Dame. »Sie haben kein Recht, mich zu quälen,« rief sie gegen ihren Willen aus.

»Nein, das habe ich auch nicht,« bemerkte er demütig. »Und wenn ich es getan habe, so vergeben Sie mir, bevor wir voneinander scheiden. Ich will Sie jetzt nicht weiter begleiten. Max wird Lärm machen, wenn Sie auf der Allee ohnmächtig werden. Aber das wird wohl kaum geschehen, da Sie ja den ganzen Schierling vergessen haben.«

»Oh, es ist zum Tollwerden!« schrie sie. »Ich habe meinen Korb liegen lassen.«

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Ich werde ihn finden und ihn Ihnen gefüllt zuschicken.«

»Danke sehr. Es tut mir leid, daß ich Ihnen die Mühe mache.«

»Sie machen mir keine Mühe. Hoffentlich wollen Sie nicht den Schierling dazu benützen, um sich der Last des Lebens zu entledigen.«

»Unsinn. Ich brauche ihn für meinen Vater, der ihn als Heilmittel benützt.«

»Ich werde ihn morgen selbst bringen. Ist das früh genug?«

»Vollständig. Ich bin nicht in Eile. Danke vielmals, Mr. Trefusis. Adieu.«

Sie gab ihm ihre Hand und lächelte sogar ein wenig. Dann eilte sie davon. Er blieb stehen und sah ihr nach, wie sie unter den Buchen die Allee hinunterging. Einmal, als sie in einen Streifen Sonnenlicht trat, das durch eine Öffnung zwischen den Buchenkronen durchbrach, gab sie in ihrem violett und weißen Frühlingskleid ein so hübsches Bild, daß seine Augen leuchteten, als er sie sah. Er nahm sein Notizbuch heraus und trug ihren Namen und das Datum ein mit einem kurzen Bericht.

»Ich habe sie weich gemacht,« sagte er zu sich selbst, als er sein Buch wieder einsteckte. »Bevor ich von ihr scheide, soll sie eine oder zwei Lektionen lernen, die sie einmal ihren Kindern geben kann. Etwas schlecht erzogen ist sie auch, sonst würde sie nicht so viel auf ihre Erziehung geben. Henrietta pflegte gerade so ein Kleid zu tragen. Es freut mich, daß keine Gefahr dabei ist, wenn sie an mir Gefallen findet.«

Er wandte sich um und sah ein altes Weib vorbeigehen, das unter einer Last Reisig gebeugt war. Er sah sie neugierig an. Sie warf ihm einen finsteren Blick zu und eilte weiter.

»Hallo,« sagte er.

Sie ging noch ein paar Schritte. Dann aber sank ihr Mut, und sie blieb stehen.

»Sie sind doch Mrs. Hickling?«

»Jawohl, Eure Gnaden.«

»Sie sind die Frau, die letzten Winter ein altes Holzgitter, das auf Sir Charles Besitztum lag, fortnahm und als Brandholz benützte. Sie mußten dafür sieben Tage ins Gefängnis gehen.«

»Sie können mich wieder hinschicken, wenn Sie wollen,« entgegnete sie, und ihre Stimme knirschte zornig. »Aber der Herr wird es Ihnen eines Tages vergelten. Verflucht seien die, die die Armen und Notleidenden bedrängen. Das ist eine von den sieben Todsünden.«

»Die grünen Latten, die Sie da auf dem Rücken haben, sind die Reste meiner Gartentüre,« sagte er. »Die erste Hälfte haben Sie letzten Samstag fortgeholt. Das nächstemal, wenn Sie Feuerung gebrauchen, dann kommen Sie ins Haus und verlangen Sie Kohlen. Meinen Zaun können Sie in Ruhe lassen. Ich denke, das Feuer wird Sie auch wärmen, wenn Sie den Brennstoff nicht gestohlen haben. Und jetzt sagen Sie mir als Vergütung für das Gitter etwas, was ich wissen möchte.«

»Oh, Sie sind ein gütiger Herr. Gottes Segen –«

»Wozu braucht man Schierling?«

»Schierling, gütiger Herr? Natürlich für die Skrofeln.«

»Skrofeln!« rief er und fuhr zurück. »Der Vater von diesem schönen Mädchen!« Er wandte sich nach Hause zu und schlenderte mit gesenktem Kopf weiter, indem er murmelte: »Alles faul bis auf die Knochen. O Kultur! Kultur! Kultur!«


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