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Fünftes Kapitel

Was zwischen Smilasch und Henrietta vorgefallen war, erfuhr sonst niemand. Agatha hatte gesehen, daß Henrietta seinen Hals mit ihren Armen umschlang, aber sie war schon fort, als sie ›Sidney, Sidney‹ rief, und sah nicht mehr, wie er ihr Gesicht gegen seine Brust drückte, um ihre Stimme zu dämpfen, und wie er sagte: »Mein einziges Lieb, ich flehe dich an, schreie nicht. Verflucht, wir haben die ganze Bande im Augenblick hier. Still!«

»Verlaß mich nicht mehr, Sidney,« flehte sie und klammerte sich fester an ihn an, denn sie las in seinem bestürzten Blick, der nach dem Eingang der Gebüschanpflanzung gerichtet war, daß er sie im Stich lassen wollte. Ein Geräusch von Stimmen, das aus dieser Richtung kam, beendete seine Unentschlossenheit.

»Wir müssen fortlaufen, Hetty,« sagte er. »Halte dich fest an meinem Hals und erwürge mich nicht. Also los!« Er hob sie empor und rannte eiligst davon. Als sie an eine Mauer kamen, setzte er sie hinauf, kletterte selbst hinüber und fing sie in seinen Armen auf. Dann trug er sie mühsam schwankend quer durch die Felder und taumelte über jeden kleinen Erdhügel, während sie in unzusammenhängenden Worten ihm Vorstellungen machte. »Du wirst mit jeder Sekunde ein paar Pfund schwerer, mein Schatz,« sagte er keuchend. »Wenn du dich nicht grade hältst, brichst du mir den Rücken. Oh, Himmel, hier ist ein Graben!«

»Laß mich herunter,« schrie Henrietta in einer Ekstase von Entzücken und Angst. »Du wirst dir Schaden zufügen, und – oh, bitte, nimm mich –«

Er arbeitete sich, während sie sprach, durch einen trockenen Graben und kam auf einen Wiesenplatz, der an den Leinpfad des Kanals anstieß. Hier am Abhang einer Aushöhlung, wo das Moos trocken und weich war, setzte er sie nieder, warf sich selbst, auf seine Ellbogen gestützt, vor ihr hin und sagte keuchend:

»Nessus, der Dejanira davontrug, war nichts gegen mich! Huh – ja! Nun, mein Liebling, bist du froh, daß du mich wiedersiehst?«

»Aber –«

»Bitte, komm mir nicht mit aber, wenn du nicht wünschst, daß ich noch einmal und für immer verschwinde. Ich armer Kerl habe mich, seitdem ich von dir fortgelaufen bin, mehr als einmal unaussprechlich nach dir gesehnt. Du hast dir natürlich nichts daraus gemacht?«

»O wohl. Natürlich tat ich das. Warum hast du mich verlassen, Sidney?«

»Damit nicht noch etwas Schlimmeres kam. Aber wir wollen nicht die wenigen Augenblicke, die wir haben, mit Auseinandersetzungen verschwenden. Gib mir einen Kuß.«

»Dann willst du mich also wieder verlassen. O Sidney –«

»Denk nicht an morgen, Hetty. Sei wie die Sonne und die Wiese, die sich nicht im geringsten um den kommenden Winter kümmern. Warum blickst du auf den abscheulichen Kanal, der träge seine Schlammladung von einem Ort zum andern wälzt, bis er sie in die See ausspeit – grade wie eine übervölkerte Straße ihre Ladung langsam auf den Kirchhof bringt? Sieh mich an und gib mir einen Kuß!«

Sie gab ihm mehrere und sagte schmeichelnd, noch immer ihren Arm auf seiner Schulter: »Du sagst das alles nur, um mich zu erschrecken, Sidney, ich weiß das wohl.«

»Du bist die helle Sonne für meine Augen,« sagte er und umarmte sie. »Ich fühle, wie mein Herz und mein Kopf unter deinem Lächeln versengt werben, und ich werfe sie dir mit Entzücken als Beute zu. Wie glücklich bin ich, daß ich eine Frau habe, die mich deswegen nicht verachtet – die mich eher noch mehr liebt!«

»Sei nicht närrisch!« sagte sie mit unbestimmtem Lächeln. Dann begriff sie halb, was er meinte. Sie stieß ihn voll Schmerz zurück und sagte ärgerlich: »Du verachtest mich ja.«

»Nicht mehr, als ich mich selbst verachte. Ober vielmehr nicht einmal so viel, denn manche Gefühle, die tatsächlich niedrige sind, scheinen äußerlich liebenswert zu sein.«

»Du willst mich wieder verlassen. Ich fühle es. Ich weiß es.«

»Du glaubst, du weißt es, weil du es fühlst. Auch kein schlechter Grund.«

»Dann verläßt du mich also wirklich?«

»Du weißt und fühlst es doch? Ja, meine angebetete Hetty, das tue ich sicherlich.«

Sie brach in verzweifelte Schmerzensrufe aus, und er zog ihren Kopf an sich heran und küßte sie in einer zarten Weise, der sie nicht widerstehen konnte, und mit einem verzerrten Gesicht, das sie nicht sah.

»Meine arme Hetty, du verstehst mich nicht.«

»Ich verstehe nur, daß du mich hassest und daß du von mir fortgehen willst.«

»Das würde leicht zu verstehen sein. Aber das Seltsame liegt darin, daß ich dich liebe und daß ich von dir fortgehen will. Nicht für immer. Nur für eine Zeit.«

»Aber ich will nicht, daß du fortgehst. Ich lasse dich nicht gehen,« sagte sie, und ein Zug von Heftigkeit mischte sich in ihr Flehen. »Warum willst du mich verlassen, wenn du mich liebst?«

»Wie soll ich das wissen? Ich kann dir ebensowenig das Wie und Warum meines Handelns erklären, wie ich mich selbst an einem Gürtel hochheben und in eine andere Provinz bringen kann, was man ja gegen die eingewendet hat, die das Perpetuum mobile erfinden wollen. Ich bin zu sehr Pessimist, um auf meine eigenen Gefühle Rücksicht zu nehmen. Weißt du, was ein Pessimist ist?«

»Ein Mann, der glaubt, die andern seien ebenso abscheulich wie er selbst, und der sie dafür haßt.«

»Ungefähr so. Die moderne englische feine Gesellschaft, von der ich ausgegangen bin, scheint mir so verdorben zu sein, wie sie nur bei ihrer Einbildung auf ihre Kultur und bei ihrem Mangel an Ehrenhaftigkeit sein kann. Ein scheinheiliger Mob, der die Lüge liebt, die Wirklichkeit haßt, der Unsinn schreibt und schwatzt, der nach Reichtum, Vergnügen und Berühmtheit jagt, der die Furcht vor der Hölle verloren hat, aber sie noch nicht durch die Liebe zur Gerechtigkeit ersetzt hat, ein solcher Pöbel strebt nur danach, sich den Löwenanteil vom Wohlstand zu sichern, und er erpreßt ihn aus den Händen der Gesellschaftsklassen, die ihn schaffen, indem er sie mit Verhungern bedroht. Wenn du mich mit törichten Redensarten unterbrichst, Hetty, werfe ich dich in den Kanal und sterbe nachher vor Kummer über meine verlorene Liebe. Du weißt, was ich nach der herkömmlichen Beschreibung bin: ein steinreicher Gentleman. Weißt du, welchen verruchten Ursprung dieses Geld und diese Vornehmheit haben?«

»Oh, Sidney, hast du irgend etwas getan?«

»Nein, meine innigst Geliebte, ich bin ein Gentleman und habe nichts getan. Daß ein Mann nichts zu tun braucht und doch nicht verhungert, das ist seltsamerweise kein Widerspruch. Jeder Pfennig, den ich besitze, ist gestohlenes Geld. Aber es war gesetzlich erlaubter Diebstahl, und was für dich von einigem praktischen Wert ist, ich könnte es den rechtmäßigen Eigentümern durchaus nicht zurückgeben, selbst wenn ich wollte. Weißt du, was mein Vater war?«

»Was geht uns das jetzt an? Sei nicht so abscheulich und voll von diesen lächerlichen Ideen, lieber Sidney. Ich habe nicht deinen Vater geheiratet.«

»Nein, aber du hast – natürlich nur zufällig – meines Vaters Vermögen geheiratet. Der Halsschmuck, den du da trägst, ist mit seinem Gelde gekauft, und ich kann fast die Blutflecken sehen –«

»Halt, Sidney. Ich kann diese Art von Übertreibung nicht leiden. Es ist alles Unsinn. Bitte, sei lieb zu mir.«

»Ich weiß, daß Schweißflecken daran sind.«

»Du abscheulicher Mensch!«

»Natürlich nicht von dir, mein Herzchen, aber von den unglücklichen Menschen, die Sklavenarbeit tun, damit wir müßig leben können. Ich will dir erklären, warum wir so reich sind. Mein Vater war ein schlauer, energischer und ehrgeiziger Baumwollhändler, der unter einem Austausch jeder Art nur ein Geschäft verstand, bei dem der eine verliert und der andere gewinnt. Er machte es sich zur Aufgabe, so oft wie möglich diesen Austausch vorzunehmen und dabei stets der gewinnende Teil zu sein. Ich weiß nicht genau, woher er stammte, denn er schämte sich sowohl seiner Vorfahren wie auch seiner Verwandten, woraus ich nur schließen kann, daß sie ehrliche und darum erfolglose Leute waren. Jedenfalls erwarb er etwas Kenntnis vom Baumwollhandel, legte etwas Geld zurück, erborgte noch mehr, was man ihm gerne anvertraute, weil er im Ruf stand, die Leute im Geschäft übers Ohr zu hauen, und fing dann, wie er mir später wörtlich erzählte, für sich selbst an. Er kaufte eine Fabrik und etwas Rohbaumwolle. Nun mußt du wissen, wenn ein Mann eine Zeitlang an einem Stück Rohbaumwolle arbeitet, kann er sie in ein Stück gewebte Baumwolle verwandeln, fertig für Bettücher, Hemden und dergleichen. Die gewebte Baumwolle ist wertvoller als die Rohbaumwolle, sie kostet Abnutzung der Maschinen, Abnutzung der Fabrik, Zinsen für das Grundstück, auf dem die Fabrik gebaut ist, und menschliche Arbeit oder Abnutzung von Menschenleben, die durch Nahrung, Obdach und Rast bezahlt wird. Verstehst du das?«

»Das lernten wir alles auf der Schule. Ich sehe aber nicht ein, was das mit uns zu tun hat, du arbeitest doch nicht im Baumwollhandel.«

»Du lerntest sicherlich genau so viel, als man es für gut fand, dich zu lehren, aber ich glaube nicht, daß du alles lerntest. Als mein Vater für sich anfing, gab es viele Männer in Manchester, die auch gerne auf diese Art gearbeitet hätten. Aber sie besaßen keine Fabrik, um darin zu arbeiten, keine Maschinen, um damit zu arbeiten, keine Rohbaumwolle, um daran zu arbeiten, einfach, weil alle diese unentbehrlichen Produktionsmittel sich schon in festem Besitz befanden. So standen sie da mit leerem Magen, zitternden Gliedern und hungrigen Frauen und Kindern in einem Land, das sie ihr eigenes Vaterland nannten, in dem aber jeder Fetzen Boden, jede mögliche Nahrungsquelle fest verschlossen im Besitz anderer war und von bewaffneten Soldaten und Polizisten bewacht wurde. In dieser hilflosen Lage waren die armen Teufel dann gezwungen, um Zulaß zu der Fabrik und zu der Rohbaumwolle zu bitten und mit allem zufrieden zu sein, wenn sie nur ihr Leben fristen konnten. Mein Vater bot ihnen die Benutzung seiner Fabrik, seiner Maschinen und seiner Rohbaumwolle unter folgenden Bedingungen an: Sie mußten lange und schwer arbeiten, von früh bis spät, und seiner Rohbaumwolle neuen Wert hinzufügen, indem sie sie verwebten. Aus diesem so von ihnen geschaffenen Mehrwert mußten sie ihn entschädigen für das, was er ihnen lieferte: nämlich Miete, Obdach, Gas, Wasser, Maschinen, Rohbaumwolle und alles andere, und sie mußten ihn für seine eigenen Dienste als Direktor, Leiter und Kaufmann bezahlen. Soweit verlangte er nichts, als was ihm grade gebührte. Aber nachdem dies alles bezahlt war, blieb noch ein Betrag, den sie nur ihrer eigenen Arbeit verdankten. ›Von allem diesen‹, sagte mein Vater, ›sollt ihr grade genug bekommen, damit ihr nicht verhungert, und den Rest gebt ihr mir als Geschenk, weil ich es so gut verstehe, Geld anzusammeln. Das ist das Geschäft, wie ich es vorschlage. Es ist nach meiner Meinung angemessen und darauf berechnet, sparsame Gewohnheiten bei euch herbeizuführen. Wenn ihr es nicht in dem Licht seht, könnt ihr euch selbst eine Fabrik und Rohbaumwolle anschaffen. Meine braucht ihr nicht zu benutzen.‹ In andern Worten, sie konnten zum Teufel gehen und verhungern – Hobsons Wahl! – denn alle andern Fabriken waren im Besitz von Männern, die keine besseren Bedingungen anboten. Die Leute in Manchester ertrugen aber das Verhungern nicht, und sie konnten auch nicht sehen, wie ihre Kinder verhungerten, so nahmen sie also seine Bedingungen an und gingen in die Fabrik. Die Bedingungen, weißt du, waren von der Art, daß sie nicht, wie er, sich Geld zurücklegen konnten. So schufen sie einen großen Reichtum und lebten sehr ärmlich, so daß der Überschuß, den sie für nichts meinem Vater gaben, sehr groß war. Er kaufte damit noch mehr Baumwolle, noch mehr Maschinen und noch mehr Fabriken. Er beschäftigte immer mehr Menschen, die für ihn Reichtum schafften, und sah sein Vermögen anwachsen wie einen herabrollenden Schneeball. Er wurde enorm reich, aber die Arbeiter waren nicht besser daran als im Anfang, und sie durften nicht aufsässig werden und mehr von dem Geld verlangen, das sie schufen, denn draußen gab es immer genug hungrige Lumpen, die gerne zu den alten Bedingungen ihre Plätze einnahmen. Oft hatte er es mit einer Krisis zu tun, so zum Beispiel, wenn er in seinem Eifer, sein Lager zu vergrößern, durch seine Leute mehr Baumwolle verarbeiten ließ, als das Publikum brauchte. Oder wenn er nicht genug Rohbaumwolle bekommen konnte, wie es während des amerikanischen Bürgerkrieges vorkam. Dann paßte er sich den Umständen an, indem er so viele Arbeiter entließ, wir es nach dem Absatz oder dem Baumwollvorrat nötig war. Sie verhungerten natürlich oder fielen der öffentlichen Wohltätigkeit zur Last. Während des Bürgerkrieges ging eine gewaltige Liste rund für diese armen Unglücklichen, und mein Vater zeichnete hundert Pfund trotz seiner eigenen großen Verluste, wie er sagte. Dann kaufte er neue Maschinen, und da an diesen die Frauen und Kinder ebensogut arbeiten konnten wie die Männer, und da sie billiger und lenksamer waren, setzte er ungefähr siebzig von jedem Hundert seiner Hände (so nannte er die Männer) auf das Pflaster und ersetzte sie durch ihre Frauen und Kinder, die schneller als je für ihn Geld machten. Zu dieser Zeit hatte er es längst aufgegeben, seine Fabriken selbst zu leiten, und er bezahlte tüchtigen Menschen, die selbst kein eigenes Vermögen hatten, ein paar hundert Pfund im Jahr, weil sie das für ihn besorgten. Er erwarb auch Aktien von anderen Unternehmungen, die nach denselben Grundsätzen geleitet wurden. Er steckte Dividenden ein, die in Gegenden erworben waren, die er nie besucht hatte, und von Männern, die er nie gesehen hatte. Er kaufte sich von einer armen und bestechlichen Wählerschaft einen Sitz im Parlament und half die Gesetze bewahren, durch die er groß geworben war. Später, als der Ruf seines Reichtums sich immer mehr verbreitete, brauchte er niemand mehr zu bestechen, denn die modernen Menschen verehren die Reichen als Götter und wählen einen Mann zu ihrem Leiter aus keinem andern Grunde, als weil er ein Millionär ist. Er äffte den Adligen nach, wohnte in einem Palast in Kensington und kaufte einen Teil von Schottland, um daraus einen Jagdgrund zu machen. Es ist leicht genug, Jagdgründe anzulegen, denn Bäume sind da nicht notwendig. Man jagt einfach die Bauern davon, zerstört ihre Häuser und macht eine Wüste aus dem Land. Zwar schoß mein Vater selbst nicht viel, er überließ gewöhnlich während der Saison die Jagd andern, die das taten. Er verschaffte sich auch eine Frau von adligem Geblüt – das unbefriedigende Resultat steht vor dir. So gelang es Jesse Trefusis, dem armen Handelsmann, ein Plutokrat und Landedelmann zu werden. Und so bin ich, der ich nie in meinem Leben die geringste Arbeit getan habe, überladen mit Reichtum, während die Kinder der Männer, die diesen ganzen Reichtum geschaffen haben, Sklavenarbeit tun wie ihre Väter, oder verhungern, oder im Arbeitshaus, auf den Straßen oder Gott weiß wo sich herumtreiben. Was denkst du darüber, mein Lieb?«

»Welchen Zweck hat es, sich deshalb zu quälen, Sidney? Du kannst das jetzt nicht mehr ändern. Übrigens, wenn dein Vater sich Geld sparte und die andern waren gleichgültig, dann verdiente er es, daß er ein Vermögen machte.«

»Zugegeben! aber er machte gar kein Vermögen. Er nahm das Vermögen, das die andern machten. In Cambridge lehrte man mir, seine Reichtümer seien der Lohn seiner Sparsamkeit – jener Sparsamkeit, die es ihm ermöglichte, so viel zurückzulegen. Das beruhigte mein Gewissen, bis ich anfing, mich zu wundern, wie ein Mann einen andern veranlassen konnte, ihn für eine Tugend zu bezahlen. Dann kam die Frage: woran sparte mein Vater? Die Arbeiter sparten an Essen, Trinken, frischer Luft, guten Kleidern, anständigem Wohnen, an Feiertagen, Geld, an der Gesellschaft ihrer Familien und fast an allem, was das Leben lebenswert macht. Das war vielleicht der Grund, weshalb sie ungefähr zwanzig Jahre früher starben, als Leute in unseren Kreisen. Aber niemand belohnte sie für ihre Sparsamkeit. Die Belohnung bekam mein Vater, der an gar nichts von allen diesen Dingen sparte, sondern sie nach Herzenslust genoß. Übrigens, wenn Geld der Lohn für Sparsamkeit war, dann mußte er logischerweise zehnmal so viel sparen, wenn er fünfzigtausend Pfund im Jahr einnahm, als wenn er nur fünftausend hatte. Hier lag ein Problem für meinen jungen Kopf. Man suche etwas, an dem mein Vater sparte und in dem die Arbeiter schwelgten, etwas, an dem er mehr und mehr sparte, je reicher er wurde. Das einzige Ding, welches paßte, war schwere Arbeit, und da ich niemals einen vernünftigen Mann gesehen habe, der einem andern etwas für sein Faulenzen bezahlt, so begann ich zu begreifen, daß die wunderbaren Einnahmen meines Vaters durch Gewalt erzwungen waren. Um gerecht gegen ihn zu sein, er selbst rühmte sich nie seiner Sparsamkeit. Er betrachtete sich als schwer arbeitenden Mann und beanspruchte sein Vermögen als Lohn für sein Risiko, seine Berechnungen, seine Sorgen und seine Reisen, die er in jeder Jahreszeit und zu jeder Stunde unternehmen mußte. Dies beruhigte mich etwas, bis mir der Gedanke kam, wenn er ein Jahrhundert früher gelebt und sein Geld in einem Pferd und in einem Paar Pistolen angelegt hätte und Straßenräuber geworden wäre, daß dann seine Absicht – den andern die Frucht ihrer Arbeit zu entreißen, ohne ihnen etwas Gleichwertiges zurückzugeben – genau dieselbe und sein Risiko viel größer gewesen wäre, denn er riskierte dabei an den Galgen zu kommen. Fortwährendes Arbeiten, während ihm die Beamten auf den Hacken saßen, und Berechnungen, ob er die Post nach Dover berauben sollte, würden ihm übergenug Tätigkeit und Sorgen gegeben haben. Überhaupt, wenn das Parlamentsmitglied Jesse Trefusis, der als Millionär in seinem Palast in Kensington starb, ein Straßenräuber gewesen wäre, ich könnte keinen tieferen Ekel vor den sozialen Einrichtungen empfinden, die eine solche Laufbahn wie die seine nicht nur möglich, sondern auch in den Augen seiner Zeitgenossen zu einer ehrenvollen machten. Die meisten Menschen betrachten es als ihre Aufgabe, ihm nachzustreben, und hoffen in derselben Art zu einem reichen und müßigen Leben zu kommen. Darum wende ich ihnen den Rücken. Ich kann nicht bei ihren Festgelagen sitzen, da ich weiß, wieviel diese an menschlichem Elend kosten, und da ich sehe, wie wenig menschliches Glück sie hervorbringen. Was ist deine Meinung, mein Schatz?«

Henrietta schien etwas gequält zu sein. Sie lächelte matt und sagte in liebkosendem Ton: »Es war nicht deine Schuld, Sidney. Ich tadle dich nicht.«

»Ihr ewigen Mächte!« rief er aus und saß kerzengrade da, indem er den Himmel anflehte, »hier dieses Weib glaubt, das einzige, was mich an der Sache interessiert, sei, ob sie über mich persönlich deswegen etwas Schlechtes denkt!«

»Nein, nein, Sidney. Nicht nur ich allein, niemand denkt deshalb etwas Schlechtes von dir.«

»Ganz recht,« entgegnete er in höflicher Wut. »Niemand sieht etwas Schlimmes darin. Das ist ja grade das Schlimme an der Sache.«

»Übrigens,« bemerkte sie nachdrücklich, »stammt deine Mutter aus einer der ältesten Familien Englands.«

»Und was kann ein Mann mehr verlangen als Reichtum und adlige Abstammung! Kann ein Mann glücklicher sein, als ich es sein müßte, der von einem Monopolbesitzer aller Wohlstandsquellen und Produktionsmittel, von Land und Maschinen, abstammt? Dieser selbe Grund und Boden, auf dem wir hier stehen, war das Eigentum des Vaters meiner Mutter. Wenigstens erlaubte ihm das Gesetz, ihn als solches zu benutzen. Als er ein Knabe war, da hauste hier ein leidlich glückliches Geschlecht von Bauern, die den Boden pflügten und für die Erlaubnis, daß sie das tun durften, ihm eine Rente zahlten. Sie erzielten genug, um seine großen Ansprüche und ihre kleinen Bedürfnisse zu befriedigen, ohne daß sie sich dabei zu Tode arbeiteten. Aber mein Großvater war ein schlauer Mann. Er begriff, daß Kühe und Schafe durch ihr Fleisch und ihre Wolle mehr Geld einbrachten als die Bauern durch ihre Landwirtschaft. So machte er klare Bahn. Das heißt, er vertrieb die Bauern aus ihren Hütten, grade wie es später mein Vater auf seinem Jagdgebiet machte. Oder, wie es aus seinem Grabstein hieß, er entdeckte seinem Vaterlande neue Wohlstandsquellen. Ich weiß nicht, was aus seinen Bauern geworden ist. Er wußte es jedenfalls nicht, und ich glaube auch nicht, daß es ihn irgendwie kümmerte. Wahrscheinlich gingen die Alten ins Arbeitshaus, und die Jungen drängten sich in die Städte und arbeiteten in Fabriken, wie sie mein Vater besaß. Auf ihren früheren Wohnstätten hauste jetzt das Vieh, und es machte sich für das Futter, das man ihm reichte, so gut bezahlt, daß mein Großvater unter den Bedingungen der Manchestermänner Arbeiter mietete, die diesen Kanal hier gruben. Mein Vater beteiligte sich mit Aktien an dem Unternehmen. Als der Kanal fertig war, legten sie Schiffahrtsabgaben darauf, die ihre Erben noch heute beziehen. Und die Söhne der Arbeiter, die ihn gruben, und des Ingenieurs, der ihn zeichnete, bezahlen die Abgaben, wenn sie zufällig darauf fahren oder Güter darauf befördern. Ich erinnere mich meines Großvaters noch sehr gut. Er war ein vornehmer Mann, ein vollkommener Gentleman in seinem Benehmen. Aber im ganzen, glaube ich, war er schlechter als mein Vater, der nun einmal im Räderwerk eines fehlerhaften Systems steckte und entweder andere berauben mußte oder von ihnen beraubt wurde. Aber mein Großvater – der alte Schuft! – war nicht in einer solchen Verlegenheit. Er war Herr und Meister über seinen Anteil an dem alten, lustigen England, kein Mensch konnte ihn zum Sklaven machen, und er hätte wenigstens leben und leben lassen sollen. Mein Vater folgte ja seinem Beispiel, als er sich die Jagdgründe anlegte, aber das war auch der Höhepunkt seiner Schlechtigkeit, während es bei meinem Großvater nur der Anfang war. Doch wie es auch sei und wem auch die Palme gebührt, die beiden sind unsere Vorbilder, denen wir alle nachstreben.«

»Nicht alle, Sidney. Wir zwei doch nicht. Ich hasse Unternehmer und Großgrundbesitzer. Wir gehören zu den Kultur- und Künstlerklassen, und wir können uns von Handelsleuten fernhalten.«

»Ja, und wir verzehren inzwischen verschiedene tausend Pfund von Renten und Zinsen. Nein, mein Schatz, so machen es die Leute, die selbst im Himmel leben und nicht an die Hölle erinnert werden wollen, die aber nichts dagegen haben, daß eine außerhalb ihres Bewußtseins existiert. Ich habe vor meinem Vater mehr Achtung – ich meine, ich verabscheue ihn weniger – weil er das Ausbeuten und Stehlen selbst besorgte, als die gefühlvollen Faulenzer und Feiglinge, die ihm Geld gaben, damit er damit andere ausbeutete und bestahl, und die nach gar nichts fragten, wenn er nur die Zinsen pünktlich bezahlte. Und was deine Freunde, die Künstler, angeht, das sind die Allerschlimmsten.«

»Oh, Sidney, du hast dir in den Kopf gesetzt, alles häßlich zu finden. Künstler halten keine Fabriken.«

»Nein, aber die Fabriken sind auch nur ein Teil in dem Räderwerk des Systems. Seine Grundlage ist die Tyrannei der Gehirnkraft, die unter zivilisierten Menschen tun kann, was Muskelkraft unter Schuljungen und Wilden tut. Der Schuljunge sagt: ›Ich bin stärker als du, folglich mußt du für mich Dienste tun.‹ Der Erwachsene befiehlt: ›Ich bin schlauer als du, darum mußt du für mich Dienste tun.‹ Diese Zustände, denen wir uns unterwerfen, sind an und für sich schlimm genug, sie werden aber unerträglich, wenn die mittelmäßigen oder schwachsinnigen Abkömmlinge dieser schlauen Burschen den Anspruch erheben, ihre Vorrechte zu erben. Nun hängen aber keine Menschen so sehr an der unbeschränkten Herrschaft von Genie und Talent wie deine Künstler. Der große Maler ist nicht damit zufrieden, daß er gesucht und bewundert wird, weil seine Hände, was auch tatsächlich der Fall ist, mehr können als gewöhnliche Hände – nein, er will auch so ernährt werden, als ob sein Magen, was nicht der Fall ist, mehr Nahrung brauchte als gewöhnliche Mägen. Ein Tagewerk ist ein Tagewerk, nicht mehr und nicht weniger, und wer einen Tag arbeitet, braucht dafür Unterhalt und Schlaf und Mußezeit, ob er nun Maler oder Bauer ist. Aber der Halunke von einem Maler, Dichter, Romanschreiber, oder was er sonst für eine Luxusbeschäftigung hat, ist nicht damit zufrieden, daß er in der allgemeinen Achtung höher steht als der Bauer, er will auch mehr Geld haben, als ob der Tag im Atelier oder im Studierzimmer mehr Stunden hätte als auf dem freien Feld. Als ob er mehr Nahrung brauchte, um seine Arbeit leisten zu können, als der Bauer. Er spricht von der höheren Art seiner Arbeit, als ob diese höhere Wertschätzung sein eigenes Verdienst sei – als ob er das Recht hätte, weniger für seinen Nachbarn zu tun, als sein Nachbar für ihn tut, als ob der Bauer nicht leichter ohne ihn auskäme, als er ohne den Bauer – als ob der Wert der berühmtesten Gemälde nicht zweifelhafter wäre als der einer graden Ackerfurche – als ob nicht ebensoviele Jahre des Lernens dazu gehörten, die Hand und das Auge eines Maurers und eines Schmiedes auszubilden als die eines Künstlers – als ob, um es kurz zu sagen, der Kerl ein Gott wäre, wie ihm die phantasierenden Kunstverehrer seit Jahren versichert haben. Die Künstler sind die Hohenpriester des modernen Molochs. Neun Zehntel von ihnen sind kranke Geschöpfe, die grade noch vernünftig genug sind, aus ihrer Nervosität ein Geschäft zu machen. Die einzige Eigenschaft von ihnen, die mir etwas Achtung abnötigt, ist eine gewisse erhabene Selbstsucht, die sie veranlaßt, lieber zu verhungern und ihre Familie verhungern zu lassen, als etwas zu tun, was sie nicht lieben.«

»Wahrhaftig, du bist ganz im Unrecht, Sidney. In der Gladeschule war ein Mädchen, das seine Mutter und zwei Schwestern durch Zeichnen ernährte. Übrigens, was kannst du tun? Die Leute sind nun einmal so.«

»Ja, ich bin durch die Torheit der Leute Grundbesitzer und Kapitalist, aber sie können mir das ja wieder abnehmen. Ich selbst habe keine Möglichkeit, aus meiner Lage herauszukommen, außer wenn ich meine Sklaven an Menschen abgebe, die sie nicht besser behandeln als ich selbst, und selbst ein Sklave werde, was mir nicht so bald einfallen wird. Nein, meine Geliebte, ich muß um deinetwillen und um meinetwillen meinen Fuß auf ihren Nacken halten. Aber du gibst nicht viel um solches langweiliges Zeug. Mein Gewissen quält mich, weil ich dir, mein Engel, Verdruß damit machte. Du willst wissen, warum ich hier wie ein Einsiedler in einer zweizimmerigen Hütte wohne, statt mit meinem schönen und angebeteten Weib die Freuden des Londoner Gesellschaftslebens zu genießen?«

»Aber du willst doch nicht etwa hier bleiben, Sidney?«

»Allerdings, und ich will dir auch sagen, warum. Ich will helfen, diese Manchesterarbeiter, die die Sklaven meines Vaters waren, zu befreien. Um das fertig zu bringen, müssen alle ihre Mitsklaven in der ganzen Welt zu einer großen internationalen Vereinigung zusammentreten. Sie müssen geloben, die Arbeit der ganzen Welt gerecht zu verteilen, die Produkte der Arbeit gerecht zu verteilen, keinem erwachsenen, rüstigen Faulenzer oder Simulanten einen Pfennig zu geben und jeden in der Gemeinschaft als Ungeziefer zu betrachten, der mehr als seinen Anteil vom allgemeinen Wohlstand haben will und weniger als seinen Anteil an der Arbeit geben will. Es ist sehr schwer, das durchzuführen, denn die Arbeiter, wie alle Leute, denen man helfen will, sehen ihre eigenen Vorteile nicht ein und helfen oft ihren Unterdrückern, ihre eigenen Retter unter den Klängen des Rule Britannia oder eines ähnlichen verlogenen Unsinns zu vertreiben. Wir müssen ihre Köpfe erst davon befreien und inzwischen fleißig die internationale Arbeitervereinigung ausbauen. Ich mache jetzt Propaganda für ihre Grundsätze. Der angeblich zum Regieren, in Wirklichkeit aber zum Unterdrücken der Nation organisierte Kapitalismus würde bald genug unserer Vereinigung Einhalt gebieten, wenn er unsere Absicht verstände. Aber er glaubt, wir seien mit Pulverkomplotten und Verschwörungen zur Ermordung gekrönter Häupter beschäftigt, und so geht, während die Polizei in tölpelhafter Weise nach Beweisen hierfür sucht, unser wirkliches Werk ungestört weiter. Ob ich selbst wirklich die Sache fördere, das ist mehr, als ich sagen kann. Ich verbrauche eine Menge Freimarken, bezahle vielen gleichgültigen Lesern die Lektüre, bestreite die Papierkosten für Pamphlete und Zettel, auf denen die Arbeiter als das Salz der Erde gepriesen werden, bin Redakteur und Herausgeber einer kleinen sozialistischen Zeitung und tue im allgemeinen, was in meinen Kräften steht. Es ist besser, wenn ich meinen übel erworbenen Reichtum auf diese Weise verwende, als in einem teuren Haushalt und mit einem Gefolge von Dienern. Ich ziehe meinen gewöhnlichen Anzug und meine zweizimmerige Hütte deinem hübschen, lieben Hause vor, und deinen hübschen, lieben Spielereien, und der hübschen, lieben Vernachlässigung aller Arbeit, die mir am Herzen liegt. Vielleicht mache ich auch einmal wieder Feiertage, und dann werden wir neue Flitterwochen verleben.«

Für einen Augenblick schien es, als wollte Henrietta zu weinen anfangen. Dann rief sie plötzlich mit Begeisterung: »Ich will bei dir bleiben, Sidney. Ich will an deiner Arbeit teilnehmen, ganz gleich, was es ist. Ich will mich als Bauernmädchen kleiden und einen kleinen Milcheimer tragen. Die Welt ist nichts für mich, wenn du nicht bei mir bist, und ich würde gerne hier leben und nach der Natur zeichnen.«

Er wich zurück und errötete, ohne daß er seine Bestürzung verbergen konnte. Sie war entschlossen, sich nicht vertreiben zu lassen, sie klammerte sich an ihn an und hielt ihn fest. Dieses war die Bewegung, die Wickens Jungen, der im benachbarten Graben saß, zum Lachen brachte. Trefusis war froh über die Unterbrechung, und als er dem Jungen zwei Pence gab und ihn fortwies, hoffte er halbwegs, daß er bleiben würde. Aber obgleich der Junge meistens sehr eigensinnig war, zeigte er sich diesmal ganz artig. Er verschwand auf die Landstraße, wo er einen seiner Pence einem Phantasiespieler gab und mit ihm Kopf oder Schrift spielte, bis das Erscheinen von Fairholmes Gruppe ihn aus seinem Doppelzustand herausriß.

Inzwischen war Henrietta mit dringendem Bitten auf ihren Vorschlag zurückgekommen.

»Wir würden so glücklich sein,« sagte sie. »Ich würde dir den Haushalt führen, und du könntest soviel arbeiten, wie du wolltest. Unser Leben wäre ein langes Idyll.«

»Mein Lieb,« sagte er und schüttelte seinen Kopf, als sie ihn flehend ansah. »Ich habe zuviel Manchester Baumwolle in meinem Wesen für lange Idylle. Und in Wahrheit, die erste Bedingung, wenn du mit mir arbeiten willst, ist, daß du fortgehst. Solange du bei mir bleibst, kann ich nur mit dir kosen. Du bezauberst mich. Wenn ich mich einen Augenblick von dir freimache, dann seufze ich schon voll Reue über die Stunden, die ich durch deine Verführung verloren habe und über die nutzlos vergeudete Energie.«

»Wenn du mit mir nicht leben willst, dann hattest du auch kein Recht, mich zu heiraten.«

»Ganz richtig. Aber das ist weder deine noch meine Schuld. Wir haben gefunden, daß wir uns zu sehr lieben – daß unser Verkehr uns an unserer Betätigung hindert, und darum müssen wir voneinander scheiden. Nicht für immer, mein Lieb, nur bis du eigene Sorgen und eigene Arbeit gefunden hast, die dein Leben ausfüllen und dich daran hindern, meines zu vergeuden.«

»Ich glaube, du bist von Sinnen,« sagte sie verdrießlich.

»Die Welt ist heutzutage von Sinnen und galoppiert zum Teufel, so schnell die Habgier sie antreiben kann. Ich halte mich einfach von diesem Rennen fern, weil ich das Ziel nicht liebe. Hier kommt eine Barke, deren Führer mir ergeben ist, weil er glaubt, ich wollte einen Aufruhr zur Abschaffung von Schleusengebühren und Zöllen veranstalten. Wir wollen an Bord gehen und nach Lyvern fahren. Von dort kannst du nach London zurückkehren. Du telegraphierst am besten von der Umsteigestation nach der Anstalt. Sie müssen jetzt die reine Treibjagd auf uns machen. Ich werde dir meine Adresse geben, und wir können uns schreiben oder auch treffen, so oft wir wollen. Oder du kannst dich auch von mir scheiden lassen, weil ich dich verlassen habe.«

»Ich weiß, daß dir das das liebste wäre,« sagte Henrietta schluchzend.

»Ich würde vor Verzweiflung sterben, mein Schatz,« sagte er freundlich. »Schiff ahoi! Um Gotteswillen, höre auf zu weinen, Hetty. Du zerreißt mir wahrhaftig die Seele.«

»Ahoi–i–i, Master!« brüllte der Schiffer.

»Guten Abend, Herr,« sagte ein Mann, der sich mit einer kurzen Peitsche in der Hand neben dem Pferde herschleppte, das die Barke zog. »Komm an!« fügte er übelgelaunt, nach dem Pferd gewandt, hinzu.

»Ich möchte aufsteigen und mit nach Lyvern fahren,« sagte Trefusis. »Es scheint ein wohlgenährtes Tier zu sein.«

»Besser genährt als ich,« sagte der Mann. »Man kann aus einem unterernährten Pferd nicht dieselbe Arbeit herausziehen wie aus einem unterernährten Mann oder Weib. Ich bin in Gegenden in England gewesen, wo Frauen die Barken zogen. Sie sind billiger als Pferde, denn es kostet nichts, neue zu bekommen, wenn die alten verschlissen sind.«

»Warum schafft ihr sie denn nicht an?« fragte Trefusis mit ironischem Ernst. »Der Grundsatz, Arbeitskräfte auf dem billigsten Markt zu kaufen und ihre Produkte auf dem teuersten Markt zu verkaufen, hat viel dazu beigetragen, daß England das geworden ist, was es ist.«

»Die Eisenbahngesellschaften halten Hospitäler für seinesgleichen,« sagte der Mann mit verschmitztem Lachen und zeigte auf das Pferd, indem er ihm mit dem Ende seiner Peitsche klatschend gegen den Bauch schlug. »Wenn Sie jemals im Ernst versuchen, ein Arbeiter zu sein, dann versuchen Sie es auf vier Beinen. Sie werden finden, daß es bei weitem der Arbeit auf zwei Beinen vorzuziehen ist.«

»Dieser Mann ist einer von denen, die ich bekehrt habe,« sagte Trefusis abseits zu Henrietta. »Er sagte mir neulich, seit ich ihn zum Denken gebracht habe, sieht er nie einen Gentleman, ohne daß er die Neigung empfindet, einen Stein gegen ihn zu erheben. Ich finde, Sozialismus wird oft von seinen minder intelligenten Anhängern und Gegnern dahin mißverstanden, als ob er nur der natürlichen Neigung, angesehene Personen mit Steinen zu bewerfen, Vorschub leiste. Jetzt werde ich dich über diese Planke tragen. Wenn du dich ruhig hältst, werden wir wohl die Barke erreichen. Andernfalls erreichen wir den Boden des Kanals.«

Er trug sie hinüber und wechselte mit dem Schiffer einige freundliche Worte. Dann nahm er Henrietta mit nach vorne und starrte in das Wasser, während sie geräuschlos an dem hügeligen Weidenland vorbei glitten.

»Das würde eine herrliche Fahrt sein,« sagt er, »wenn man die Frau da unten vergessen könnte, die ihrem Mann in einer stickigen Höhle, so groß wie dein Kleiderschrank, das Essen kocht, und –«

»Oh, rede kein Wort mehr von solchen Sachen,« sagte sie ärgerlich: »Ich kann ihnen nicht helfen. Ich habe meinen eigenen Kummer. Ihr Mann lebt bei ihr.«

»Sie wird ihren Platz mit dir wechseln, mein Schatz, wenn du ihr das Anerbieten machst.«

Es fiel ihr keine Antwort ein. Nach einer Pause begann er poetisch über die Landschaft zu sprechen und ihr verliebte Redensarten und Schmeicheleien zu sagen. Aber sie fühlte, daß er entschlossen war, sie los zu werden, und er wußte, daß es keinen Zweck mehr hatte, seine Absicht vor ihr zu verbergen. Sie wandte sich weg und setzte sich auf einen Stoß Ziegelsteine, indem sie nur ärgerlich ihr Gesicht verzerrte, wenn er sie zum Sprechen drängte. Als sie sich dem Ende der Reise näherten, glaubte sie, daß sie ihren heftigen Schmerz über seine Flucht nur halb zum Ausdruck gebracht hätte, und das Gefühl des erlittenen Unrechts wurde ihr fast unerträglich.

Sie landeten an einer Werft und gingen über einen schmutzigen, von tiefen Fahrgeleisen durchzogenen Weg auf die Hauptstraße von Lyvern. Hier wurde er wieder Smilasch und ging ehrerbietig etwas vor ihr her, als wenn er gemietet wäre, den Weg zu zeigen. Sie sah jetzt ein, daß ihre letzte Gelegenheit, ihn anzuflehen, vorbei war, und sie brach bei dem Gedanken fast in Tränen aus. Es kam ihr der Einfall, sie könnte ihn vielleicht bewegen, wenn sie hier eine öffentliche Szene machte. Aber die Straße war sehr belebt, und sie fürchtete sich auch etwas vor ihm. Keines von diesen beiden Bedenken würde sie abgehalten haben, wenn sie in einem ihrer wilden Zornesanfälle gewesen wäre, aber jetzt war sie in ganz unterwürfiger Stimmung. Ihre wilden Launen schienen nur zu kommen, wenn sie ihr schaden mußten. Sie ließ sich ruhig in den Eisenbahnomnibus führen, der grade von dem Gasthofvorplatz abfahren wollte, als sie dort ankamen. Aber obgleich er seinen Hut berührte und fragte, ob er eine Botschaft ausrichten sollte, obgleich er ihr in zartem Flüstern eine glückliche Reise wünschte, wollte sie ihn nicht ansehen, oder ein Wort zu ihm sprechen. So schieden sie voneinander, und er kehrte allein zu der Hütte zurück, wo er von den zwei Polizisten empfangen wurde, die ihn nach der Anstalt brachten.


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