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Zehntes Kapitel

Am Tage vor dem Heiligen Abend wurden die Überreste Henrietta Trefusis' auf dem Highgate-Friedhof beerdigt. Drei Edelleute sandten ihre Wagen zu dem Begräbnis, und die Freunde und Kunden von Mr. Jansenius kamen in großer Zahl persönlich. Die Totenbahre war mit einer Überfülle kostbarer Blumen bedeckt. Der Leichenbestatter wußte, daß keine Kosten gespart werden sollten. Er hatte langschwänzige schwarze Pferde besorgt, mit schwarzen Decken auf den Rücken und schwarzen Federn auf den Köpfen. Die Kutscher waren mit Schleifen und langen Stiefeln geschmückt, sie trugen schwarze Kutschdecken, Mäntel und Handschuhe. Viele gemietete Leidtragende gingen mit. Sie wären aber sofort entlassen worden, hätten sie es gewagt, irgendeine Gemütsbewegung zu zeigen oder irgendwie ihre Aufgabe zu überschreiten, die darin bestand, daß sie Stäbe mit Messingspitzen in den Händen trugen und neben dem Leichenwagen hergingen.

Unter den echten Leidtragenden war Mr. Jansenius, der in Tränen ausbrach, als er etwas Erde in das Grab schüttete. Ferner der Knabe Arthur, den es verwirrte, daß er zum erstenmal in einem langen Rock an der Spitze eines öffentlichen Aufzuges marschierte, und der bei dem Anblick seines weinenden Papas das Gefühl hatte, er sei nicht so traurig, wie er es sein müßte. Dann ein Vetter, der einst Henrietta einen Heiratsantrag gemacht hatte und der jetzt, voll von tragischen Betrachtungen, in dem intensiven Genuß seiner Verzweiflung schwelgte.

Die übrigen erzählten sich flüsternd, wenn sie es in schicklicher Weise tun konnten, von einem befremdlichen Mangel in der Anordnung. Der Gatte der Verstorbenen fehlte. Familienmitglieder und näher stehende Freunde erfuhren durch Daniel Jansenius, der Witwer habe wie ein Lump gehandelt, und die Jansenius' gäben keine zwei Pfennige darum, ob er käme oder zu Hause bliebe. Trotz der Unschicklichkeit der Sache sei es ihnen sogar noch lieber, daß er sich fernhielte. Andere, die keinen Anspruch auf eine private Auskunft hatten, fragten den Vertreter des Leichenbestatters. Dieser meinte, der Gentleman wolle kein großes Leichenbegängnis haben, und auf die Frage – warum denn? – sagte er, wahrscheinlich, weil er die Ausgabe scheue. Da man aber hiergegen einwand, Mr. Trefusis sei sehr reich, so fügte der Leichenbestatter hinzu, er habe das auch gehört. Aber er glaube, das Geld stamme nicht von der Frau her, und die Leute verwendeten selten viel Geld auf ein Leichenbegängnis, außer wenn sie etwas durch den Tod erbten. Außerdem knauserten viele Menschen desto mehr, je mehr sie hätten. Bevor sich das Leichengefolge zerstreute, hatte sich der Bericht, den Mr. Jansenius' Bruder gegeben hatte, mit den Ansichten des Leichenbestatters vermischt, und aus dem Ganzen war eine Geschichte entstanden, Trefusis hätte seiner Freude über den Tod seiner Frau mit schrecklichen Flüchen Ausdruck gegeben, und zwar im Hause ihres Vaters, während ihre Leiche noch da lag, und er hätte sich geweigert, auch nur einen Pfennig für das Leichenbegängnis zu bezahlen.

Ein paar Tage später, als das Gerede über den Gegenstand schon nachließ, wurde es durch einen frischen Skandal neubelebt. Ein schriftstellernder Freund half Mr. Jansenius eine Grabschrift entwerfen und fügte ein paar hübsche und ergreifende Strophen hinzu. Von Henriettas Wesen wurde darin gerühmt, es sei von seltener Anmut und Tugendhaftigkeit gewesen, und ihre Freunde würden nie aufhören, über ihren Verlust zu trauern. Ein Geschäftsmann, der sich als Grabbildhauer bezeichnete, brachte ein Buch mit Abbildungen von Grabdenkmälern, und Mr. Jansenius wählte ein außerordentlich prächtiges heraus und erbot sich, die Hälfte der Kosten für seine Aufstellung zu bezahlen. Trefusis wandte hiergegen ein, die Grabschrift sei unwahr, und sagte, er sähe nicht ein, warum man grade auf Leichensteinen falsche Berichte veröffentlichen dürfte. Es wurde sogar berichtet, er habe seine frühere schlechte Aufführung noch übertrumpft, indem er seinen Schwiegervater einen Lügner nannte und einen ganz gewöhnlichen Grabstein in einem billigen Laden in Eastend bestellte. Er hatte tatsächlich den Monumentenhändler verächtlich einen ›Ausbeuter‹ der Arbeit genannt und einen jungen Steinmetzgehilfen, ein Mitglied der Internationalen Vereinigung, gebeten, zur Befriedigung Jansenius' ein Grabdenkmal zu zeichnen.

Der Steinmetz brachte auch mit vieler Angst und Mühe einen Originalentwurf zustande. Trefusis billigte ihn und beschloß, ihn durch die Hand des Zeichners ausführen zu lassen. Er mietete ein Bildhaueratelier, besorgte nach den Angaben des Steinmetzen Marmorblöcke und lud ihn ein, sich sofort ans Werk zu machen.

Trefusis stieß jetzt auf eine Schwierigkeit. Er wollte dem Gehilfen grade den Wert seiner Arbeit bezahlen, nicht mehr und nicht weniger. Aber das ließ sich nicht berechnen. Der einzige Maßstab, den er hatte, war der Marktpreis, und den lehnte er ab, weil er nur durch den Wettbewerb von Kapitalisten entstanden war. Diese konnten ja ihren Profit nur erlangen, indem sie von den Arbeitern mehr Arbeitsprodukte erhielten, als sie ihnen bezahlten – und ihre Kunden verführten sie zum Kaufen, indem sie ihnen einen Teil der unbezahlten Arbeit als Preisermäßigung überließen. Die Unternehmer gaben den Arbeitern die unentbehrlichen Mittel zum Arbeiten und Leben nur unter der Bedingung, daß sie der müßigen Unternehmerklasse den Lebensunterhalt gewährten und sich selbst mit einer viel niedrigeren Lebenshaltung begnügten. Darum war eine gerechte Bestimmung des Austauschwertes und ein ehrenhaftes Übereinkommen mit ihnen unmöglich. Trefusis mußte schließlich den Steinmetz fragen, wieviel er als anständige Bezahlung für die Ausführung des Entwurfs verlangen müßte, obgleich er wußte, daß der Mann das Problem ebensowenig lösen konnte wie er selbst. Denn wenn er auch soviel verlangte, als er zu bekommen hoffte, so wurde doch seine Forderung durch seine Armut und durch den Wettbewerb mit dem Grabsteinunternehmer begrenzt. Trefusis erledigte die Sache dadurch, daß er doppelt soviel gab, wie der andere gefragt hatte, und nur die Bedingung stellte, daß der Steinmetz die Arbeit selbst ausführen mußte und keinen Nebenverdienst hatte, indem er zum Marktpreis andere Arbeiter dafür mietete.

Der Entwurf aber sollte zum Erstaunen seines Zeichners noch besonders bezahlt werden. Der Steinmetz schwankte lange Zeit zwischen einer Forderung von zwei Pfund und zehn Schillingen und einer solchen von fünf Pfund, bis ihm ein Arbeitskollege, der ihn mit Whiskygrog traktiert hatte, Mut machte, die höhere Summe zu verlangen. Trefusis bezahlte das Geld sofort und gab sich dann daran, herauszufinden, was wohl ein ähnlicher Entwurf von der Hand eines hervorragenden Akademikers gekostet hätte. Da er zufällig einen Gentleman in dieser Stellung kannte, fragte er ihn und erhielt den Bescheid, daß er wahrscheinlich fünfhundert bis tausend Pfund gekostet hätte. Trefusis verhehlte nicht seine Ansicht, daß ihm die Forderung des Steinmetzgehilfen vernünftiger zu sein schiene, worauf ihn sein künstlerischer Freund etwas unwillig daran erinnerte, wie viele Jahre ein Akademiebildhauer darauf verwende, bis er seine Kunstfertigkeit so weit ausgebildet hätte. Trefusis entgegnete, die Lehrzeit eines Steinmetzen sei gradeso lang, doppelt so mühsam und nicht halb so angenehm. Der Künstler hatte sich bisher eingeredet, er sympathisiere mit Trefusis' sozialistischen Ansichten, aber jetzt begann er sie sowohl häßlich als auch gefährlich zu finden. Er fragte, ob denn nichts für das Talent bezahlt würde, und Trefusis entgegnete heftig, das Talent koste seinem Besitzer nichts, es sei die Erbschaft eines ganzen Geschlechts, die zufällig einem einzelnen Menschen zugefallen sei. Wenn nun dieser Mensch sein Monopol dazu benutze, um andern das Geld abzunehmen, so verdiene er nichts Besseres, als aufgehängt zu werden. Der Künstler verlor schließlich die Geduld und meinte, wenn Trefusis auch kein Gefühl dafür habe, daß die Vorrechte der Kunst göttlichen Ursprungs seien, vielleicht könne er aber doch begreifen, daß ein Maler kein solcher Narr sei, ein Grabdenkmal für fünf Pfund zu entwerfen, wenn er für ein gemaltes Porträt tausend Pfund erhalte. Trefusis erwiderte, schon diese Tatsache, daß jemand tausend Pfund für ein Porträt bezahle, bewiese, daß er das Geld nicht erarbeitet habe, und daß er daher ein Dieb oder ein Bettler sein müßte. Ein gewöhnlicher Arbeiter, der sechs Pence von seinem Wochenlohn opfere, um seinem Schatz eine billige Photographie zu schenken, oder einen Schilling für ein Paar Öldruckbilder oder Delfter Figuren, die er auf den Kamin stellen wollte, ein solcher Arbeiter lege sich, um in den Besitz eines Kunstgegenstandes zu kommen, eine größere Entbehrung auf als der Großgrundbesitzer oder Aktionär, der viel zu reich sei, um den Verlust der tausend Pfund zu spüren, die er für ein Bild wie Hogarths Jack Sheppard ausgebe, also für ein Bild, das nur Studenten der Kriminalphysiognomie interessiere. Jetzt entstand ein lebhafter Streit. Trefusis wies auf die Torheit der Künstler hin, daß sie sich einbildeten, sie seien eine priesterliche Kaste, während sie doch nur die Parasiten und begünstigten Sklaven der besitzenden Klasse seien. Sein Freund, der im Augenblick sein Feind war, spottete dagegen bitter über die Gleichmacher, die alles auf einen niedrigeren Stand bringen wollten, anstatt auf einen höheren. Schließlich waren sie des Zankens müde. Sie schämten sich ihrer scharfen Worte und speisten freundschaftlich miteinander zu Abend.

Das Grabmal wurde durch einen kleinen Trupp Arbeiter, die Trefusis als Arbeitslose entdeckt hatte, auf dem Highgate-Friedhof errichtet. Es trug folgende Inschrift:

 

Hier liegt
Henrietta Jansenius
Geboren am 26. Juli 1856
Vermählt mit Sidney Trefusis am 23. August 1875
Gestorben am 21. Dezember desselben Jahres.

 

Mr. Jansenius sah das für eine Beschimpfung des Andenkens seiner Tochter an, und da andere Familien, die durchaus nicht so hoch standen als die Janseniussche, noch viel größere Grabmäler hatten, so führte er es als Beweis für die Filzigkeit seines Schwiegersohnes an. Andere Leute bewunderten dagegen das Denkmal, und Trefusis hoffte, es würde seinem Schöpfer zum Wohlstand verhelfen. Doch das Gegenteil trat ein. Als der Steinmetz wieder an seine gewöhnliche Arbeit gehen wollte, teilte man ihm mit, er hätte die Handwerksgebräuche übertreten, und seine früheren Arbeitgeber wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Als er sich um Rat und Hilfe an die Gewerkschaft wandte, deren Mitglied er war, erhielt er dieselbe Antwort, und man warf ihm sogar Verrat an seinen Arbeitsgenossen vor. Er ging wieder zu Trefusis und sagte ihm, der Auftrag mit dem Grabstein hätte ihn ruiniert. Trefusis wurde wütend und schrieb einen polemischen Brief an die ›Times‹, der aber nicht gedruckt wurde, einen spöttischen an die Gewerkschaft, der nichts erreichte, und einen groben an die Unternehmer, worauf diese mit einer Beleidigungsklage drohten. Es blieb ihm nichts übrig, als den Mann an Kaminsimsen und andern Steinarbeiten in dem Trefusisschen Landgut zu beschäftigen. Nach einem oder zwei Jahren hatte sich der Steinmetz dank seiner freigebigen Bezahlungen soviel zurückgelegt, um sich als Unternehmer selbständig zu machen. Hierbei begann er sehr schnell reich zu werden, denn er wußte durch Erfahrung ganz genau, wie viel man von den Arbeitern erzwingen konnte, und wie wenig man ihnen zu geben brauchte. Dann begann er sich für die Tugenden der Sparsamkeit, der Enthaltsamkeit und des ausdauernden Fleißes zu interessieren, und er verließ die internationale Vereinigung, deren begeisterter Anhänger er als einfacher, arbeitender Steinmetzgehilfe gewesen war.

Inzwischen ging Agathas Schulleben zu Ende. Ihren Entschluß, noch ein Semester eifrig in der Anstalt zu studieren, hatte sie nicht gefaßt, weil sie gebildet werben wollte, sondern um Smilasch mehr würdig zu sein. Und als sie die Wahrheit über ihn von seinen eigenen Lippen hörte, wurde ihr die Idee, noch einmal an den Schauplatz dieser Demütigung zurückzukehren, unerträglich. Sie verließ Alton unter dem Eindruck, ihr Herz sei gebrochen, denn ihre brennende Eitelkeit wollte natürlich nicht begreifen, daß sie selbst die Ursache dieser Kränkung war. So sagte sie denn Miß Wilson adieu, und die Biene an der Fensterscheibe wurde nicht mehr in der Altonschule gehört.

Die Nachricht von Henriettas Tod erschütterte sie um so mehr, weil sie gegen ihren Willen glücklich war, daß die einzige Person, die außer Smilasch von ihrer närrischen Liebe zu ihm wußte, nun für immer schwieg. Dies schien ihr eine schreckliche Entdeckung ihrer eigenen Verdorbenheit zu sein. Sie wurde darüber fast religiös und machte ihrer Mutter wegen ihrer Gesundheit Sorge. Die Mutter konnte ihre ungewohnte Ernsthaftigkeit nicht begreifen und besonders auch nicht ihren Entschluß, über das häßliche Benehmen Trefusis' nicht zu reden, das jetzt den vorwiegenden Gesprächsstoff in der Familie bildete. Agatha lauschte schweigend den geschwätzigen Auseinandersetzungen über seine Flucht von seiner Frau, seine herzlose Gleichgültigkeit bei ihrem Verscheiden, seine Heftigkeit und gemeine Sprache an ihrem Totenbette, seine Geizigkeit, seinen gehässigen Widerstand gegen die Wünsche der Jansenius', seinen billigen Grabstein mit der beleidigenden Aufschrift, seine Verbindung mit gewöhnlichen Arbeitern und niedrigen Demagogen, seine vermutliche Teilnahme an einer geheimen Gesellschaft zur Ermordung der königlichen Familie und zu Dynamitattentaten auf die Armee, seine atheistische Glaubenslosigkeit, die er in einer Schmähschrift an die Geistlichkeit gezeigt hatte, als er sich gegen eine Darlegung des Erzbischofs von Canterbury, nur durch geistige Hilfe könnte die Lage der Armen in Eastend gebessert werden, wandte, und schließlich die Hauptschande, sein Versuch, den Gerichtshof in Old Bailey in aufrührerischer Weise zu beschimpfen, was ihm eine Gefängnisstrafe von sechs Monaten eintrug. Leider befreite ihn die Genialität seines Anwalts von dieser Strafe, denn dieser entdeckte einen Schreibfehler in der Klageschrift, und es gelang ihm unter großen Kosten für Trefusis, daß das Urteil für ungültig erklärt wurde. Agatha wurde zuletzt müde, immer nur von seinen Missetaten zu hören. Sie hielt ihn zwar für herzlos, selbstsüchtig und verführt, aber sie wußte, daß er kein lärmender, roher, eingebildeter und unwissender Zänker war, wie es die meisten Klatschschwestern ihrer Mutter glaubten. Sie fühlte sogar, wenn auch widerstrebend, eine Art Dankbarkeit gegen die wenigen, die es wagten, ihn zu verteidigen.

Die Vorbereitungen zu ihrer ersten Ballsaison halfen ihr, ihr Mißgeschick zu vergessen. Sie wurde zur gehörigen Zeit in die Gesellschaft eingeführt und fand alles sehr langweilig. Manchmal wurde bei ihr dieses Gefühl so stark, daß sie sich fragte, ob sie wohl je wieder glücklich sein würde. Auf der Schule hatte es Kameradschaftlichkeit gegeben, Spaß, Regeln und Vorschriften, die den Willen stärkten, wenn man sie beobachtete, und eine entzückende Aufregung brachten, wenn man sie übertrat. Da war man frei von Förmlichkeit gewesen, konnte Zuckerzeug machen, das Geländer hinabfliegen und einer ganzen Schar Mädchen den Soldat im Kamin vorführen. In der Gesellschaft gab es lächerliche Gespräche, die eine halbe Minute dauerten, oberflächliche Bekanntschaften, die sich auf solchen halben Minuten gründeten, ein allgemeines wechselseitiges Mißtrauen, dicht gedrängte Menschenmengen, ungenügende Ventilation, schlechte Musik, die dazu schlecht gespielt wurde, langes Ausbleiben, ungesundes Essen, vergiftende Liköre, ein eifersüchtiger Wettbewerb in nutzlosen Ausgaben, Jagd nach einem Mann, Flirten, Tanzen, Theater und Konzerte. Die letzten drei Dinge liebte Agatha, und sie machten ihr den Unterschied zwischen Alton und London erträglich, aber sie hatten ihre Schattenseiten, denn gute Partner beim Tanzen und gute Aufführungen der geistlosen Opern und Musikstücke waren bedauerlich selten. Flirten konnte sie nicht ertragen. Sie trieb die Männer weg, sobald sie zärtlich wurden, denn sie sah in ihnen die Falschheit Smilaschs ohne seinen Geist. Die jüngeren Herren ihres Bekanntenkreises hielten sie für ungeschliffen. Sie unterhielten sich über Agathas schlechte Manieren und beschlossen sie dadurch zu bestrafen, daß sie sie nicht mehr zum Tanze holten. So wurde sie, ohne zu wissen auf welche Weise, die Aufmerksamkeiten los, aus denen sie sich auch nicht das geringste machte, denn sie behielt die grausame Verachtung der Schulmädchen für ›Jungens‹ bei. Sie genoß jetzt, so gut sie es konnte, die Gesellschaft älterer oder vernünftigerer Männer, die nicht so unduldsam gegen Mädchen waren.

Jedenfalls hatte sie sich noch nie so wenig glücklich gefühlt wie in diesem Jahr. Sie brachte wiederholt ihre Mutter in Aufregung, indem sie Pläne faßte, Krankenpflegerin, Sängerin oder Schauspielerin zu werden. Jeder dieser Pläne führte zu flüchtigen, planlosen Studien. Um die Befähigung zu einer Krankenpflegerin zu bekommen, las sie ein Handbuch der Physiologie, und Mrs. Wylie hielt das für einen so unpassenden Gegenstand für eine junge Dame, daß sie weinend zu Mrs. Jansenius ging und sie bat, ihr ungezogenes Kind doch zurechtzuweisen. Mrs. Jansenius, besser unterrichtet, war der Ansicht, je mehr eine Frau wüßte, desto vernünftiger würde sie jedenfalls handeln, und Agatha würde die Physiologie schon bald aus eigenem Antrieb fallen lassen. Das erwies sich als richtig. Agatha hatte ihr Buch, in dem sie viel überschlug, schnell beendigt und ging nun zum Studium der Pathologie über nach einem Band klinischer Vorlesungen. Sie fand darin genau ihre eigenen Empfindungen beschrieben, und zwar als Symptome der schrecklichsten Krankheiten. Sie legte es voller Schrecken weg und nahm einen Roman zur Hand. Dieser war frei von den Fehlern ihrer früheren Lektüre, denn keines von den Gefühlen, die in dem Roman vorkamen, glich auch nur im mindesten denen, die sie schon gehabt hatte.

Nach einer kurzen Frist ließ sie sich von einem beliebten Gesanglehrer untersuchen, ob ihre Stimme stark genug sei für die Bühne. Er empfahl ihr, bei ihm sechs Jahre lang zu lernen, und versicherte ihr, daß sie am Ende dieser Zeit – wenn sie seinen Anweisungen folgte – die größte Sängerin der Welt sein würde. Hiergegen hatte sie in Gedanken die entscheidende Einwendung, daß sie in sechs Jahren eine alte Frau sei. So beschloß sie, es selbst zu versuchen, vielleicht würde sie allein schnellere Fortschritte machen. Für den Fall, daß aus ihrer Sängerinnenlaufbahn nichts würde, beschloß sie, zum Schauspiel zu gehen, und nahm Unterricht in der Aussprache und in Leibesübungen. Diese Übungen hatten einen so günstigen Einfluß auf ihre körperliche und geistige Gesundheit, daß ihr bisheriges Streben ihr noch gar nicht weit genug ging. Sie versuchte nacheinander alle Künste, wurde aber jedesmal durch ihre Willensschwäche entmutigt, wenn sie versuchte, ausdauernd zu sein. Sie wußte als allgemeine Regel, daß schwächliche und lächerliche Versuche der Anfang von allem Tüchtigen sind, aber sie fand nie eine Regel für ihren eigenen Fall und glaubte noch immer, sie sei eine Ausnahme, grade wie sie es in ihrer Liebe zu Smilasch geglaubt hatte. Sie lag noch ganz in den Selbsttäuschungen der Jugend.

Inzwischen beängstigten ihre Fortschritte gar sehr ihre Mutter. Diese kannte solche Anfälle von heiterer Stimmung, auf die dann das quälende Gefühl des Mißerfolgs und der Nutzlosigkeit folgten, nur als ›Wildheit‹ und ›schlechte Laune‹ und bekämpfte sie mit Handarbeit als beruhigendem Mittel und Fleischtee als aufregendem Mittel. Mrs. Wylie hatte es auswendig gelernt, daß die ganzen Pflichten einer Dame darin beständen, anmutig, gütig, hilfreich, bescheiden und selbstlos zu sein und ruhig abzuwarten, was ihr diese Tugenden bescherten. Aber dann hatte sie durch Erfahrung gelernt, daß das Geschäft einer Dame in der Gesellschaft nur das sei, sich zu verheiraten, und daß alle diese Tugenden und Vollkommenheiten nur den Wert hätten, passende junge Männer anzuziehen. Da diese Wahrheit unanständig ist, überläßt man es gewöhnlich den jungen Damen ein oder zwei Jahre lang, es selbst herauszufinden. Es wird ihnen selten bei ihrem Eintritt in die Gesellschaft ausdrücklich mitgeteilt. Daher weisen sie oft in ihrer ersten Saison großartige Partien zurück und müssen sich nachher zu sehr reduzierten Preisen anbieten, je nachdem wie ihre Reize anfangen schal zu werden. Dieses Schicksal fürchtete auch Mrs. Wylie, die durch Mrs. Jansenius gewarnt war, für Agatha. Von Zeit zu Zeit wurde ihr ein junger, wohlhabender Gentleman vorgestellt, aber sie vertrieb ihn jedesmal in barscher Weise, sobald er eine Anspielung auf ihre Gefühle machte. Die angstvolle Mutter tröstete sich damit, wenn ihre Tochter auch die wünschenswerten und die nichtwünschenswerten Partien in gleich grausamer Weise zurückstieß, so knüpfte sie doch wenigstens keine unschicklichen Verbindungen an und war außerdem noch sehr jung. Auch würde sie wohl weniger spröde sein, wenn sie etwas älter und, wie Mrs. Jansenius es nannte, vernünftiger wurde.

Aber eine Saison folgte auf die andere, und es blieb fraglich, wen man mehr beglückwünschen sollte, Agatha, weil sie nach der Schulzeit das Leben begonnen, oder Henrietta, weil sie es beendet hatte.


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