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Drittes Kapitel

Eine der Lehrerinnen in Alton College war eine Mrs. Miller, eine altmodische Schulmeisterin, die nicht an Miß Wilsons System, die Mädchen durch moralische Überredung zu erziehen, glaubte und sich nur unter Protest danach richtete. Sie war zwar nicht bösartig, aber doch engherzig genug, um manchmal kleinlich zu handeln, und sie hatte alle Welt im Verdacht, sie gering zu schätzen. Besonders glaubte sie das von Agatha und behandelte sie, wenn sie mit ihr zu tun hatte, was glücklicherweise selten war, mit verächtlicher Höflichkeit. Agatha fühlte sich dadurch nicht verletzt, denn Mrs. Miller war eine unsympathische Frau, die unter den Mädchen wenig Freundinnen hatte und alle ihre Herzensgefühle auf einen großen Kater namens Gracchus übertrug, den man meistens Bacchus nannte, indem man die harten Anfangsbuchstaben milderte.

Eines Nachmittags saß Mrs. Miller mit Miß Wilson im Arbeitszimmer und korrigierte einige Prüfungsarbeiten. Plötzlich hörte sie einen entfernten Schrei, der wie das Klagen einer Katze klang. Sie eilte an die Türe und lauschte. Gleich darauf erhob sich ein langgezogener Klagelaut, der durch zwei Oktaven hinaufging und dann langsam wieder abnahm. Es war wirklich das Schreien einer Katze, obgleich sie nicht bestimmen konnte, woher es kam. Aber jetzt folgte ein Kreischen und Fauchen, ein wütendes Spucken und Raufen, das ohne Zweifel aus einem Zimmer im unteren Stockwerk herausdrang, in welchem die älteren Mädchen zu studieren pflegten.

»Mein armer Gracchus!« rief Mrs. Miller und lief so schnell die Treppe hinunter, wie sie konnte. Sie fand das Zimmer ungewöhnlich still. Jedes Mädchen war in das Lernen vertieft, nur Miß Carpenter, die so tat, als ob sie ein hingefallenes Buch aufhebe, saß da keuchend vor unterdrücktem Lachen, und alles Blut war ihr durch das Bücken in den Kopf gestiegen.

»Wo ist Miß Ward?« fragte Mrs. Miller.

»Miß Ward holt einige astronomische Zeichnungen, die wir brauchen,« sagte Agatha mit ernstem Blick. Grade jetzt kam Miß Ward mit den Zeichnungen in der Hand zurück.

»Ist dieser Kater hier gewesen?« fragte sie, ohne Mrs. Miller zu bemerken, und in ihrem Ton lag ein starker Widerwille gegen Gracchus.

Agatha fuhr auf und zog ihre Füße an sich, als fürchtete sie gebissen zu werden. Sie schaute aufmerksam unter das Pult und sagte dann: »Es ist kein Kater hier, Miß Ward.«

»Er muß aber irgendwo stecken, ich habe ihn gehört,« sagte Miß Ward gleichgültig, indem sie ihre Zeichnungen aufrollte und sie ohne weiteres zu erklären begann.

Mrs. Miller, die um ihren Liebling besorgt war, beeilte sich, ihn anderswo zu suchen. Im Flur traf sie eins von den Hausmädchen.

»Susanna,« sagte sie, »haben Sie Gracchus gesehen?«

»Er schläft vor dem Kamin in Ihrem Zimmer, Madame.«

»Aber ich hörte ihn doch vorhin hier unten schreien. Es ist sicher eine andere Katze eingedrungen, und sie haben sich gebissen.«

Susanna lächelte mitleidig. »Aber, Madame,« sagte sie, »das war doch Miß Wylie. Sie spielt nur Theater. Sie macht die Biene an der Fensterscheibe, den Soldat im Kamin, die Katze unter dem Küchentisch. Alles ist so natürlich wie in der Wirklichkeit.«

»Den Soldat im Kamin!« wiederholte Mrs. Miller entsetzt.

»Ja, Madame. Wie ein Liebhaber, der sich im Kamin verbirgt, weil er die Hausfrau kommen hört.«

Mrs. Millers Gesicht bekam einen entschlossenen Zug. Sie kehrte in das Arbeitszimmer zurück und berichtete, was grade geschehen war. Dabei machte sie einige spöttische Bemerkungen darüber, wie großartig die moralische Überredung die Disziplin in der Anstalt fördere. Miß Wilson machte ein ernstes Gesicht, überlegte eine Zeitlang und sagte schließlich: »Ich muß darüber nachdenken. Wollen Sie für den Augenblick die Sache in meine Hände legen?«

Mrs. Miller antwortete, es sei ihr gleichgültig, in wessen Händen sie bliebe, vorausgesetzt, daß sie selbst damit nicht mehr behelligt würde, und nahm ihre Korrekturarbeit wieder auf. Miß Wilson, die allein sein wollte, ging in das leere Klassenzimmer auf der andern Seite des Flurs. Sie nahm das Sündenbuch von dem Gestell und legte es vor sich hin. Seine Bekenntnisse schlossen mit einem Absatz in Agathas Handschrift.

»Miß Wilson nannte mich unverschämt und schrieb meinem Onkel, ich gehorchte nicht den Vorschriften. Aber ich war nicht unverschämt, und ich habe mich niemals geweigert, den Vorschriften zu gehorchen. Das nennt man moralische Überredung!«

Miß Wilson erhob sich zornig und rief: »Sie soll erfahren, ob –« Sie stockte plötzlich und sah sich schnell um. Es überkam sie die schreckliche Idee, Agatha könnte sich unbemerkt in das Zimmer eingeschlichen haben. Nachdem sie sich überzeugt hatte, daß sie allein war, prüfte sie ihr Gewissen, ob sie nicht doch Unrecht getan hätte, als sie Agatha unverschämt nannte, und kam zu dem beruhigenden Beschluß, Agatha sei in der Tat unverschämt gewesen. Aber sie erinnerte sich auch, daß sie vor kurzem Jane Carpenter, die eine Mitschülerin eine Lügnerin genannt hatte, es nicht gestattet hatte, sich auf gleiche Weise zu rechtfertigen. War sie nun damals ungerecht gegen Jane gewesen oder jetzt rücksichtslos gegen Agatha?

Ihre Kasuistik wurde durch jemand unterbrochen, der leise eine Stelle aus der Ouvertüre des ›Masaniello‹ pfiff, die in dem Pensionat beliebt war, weil man sie auf sechs Klavieren zwölfhändig spielen konnte. Nun gab es nur eine Schülerin, die unweiblich und musikalisch genug war, zu pfeifen, und Miß Wilson schämte sich, weil sie bei der Aussicht, mit Agatha zusammenzutreffen, nervös wurde. Agatha kam in trüber Stimmung und noch immer pfeifend herein. Als sie sah, in wessen Gegenwart sie sich befand, bat sie höflich um Verzeihung und wollte sich gerade wieder entfernen, als Miß Wilson, indem sie alle ihre Autorität und Sicherheit zusammennahm und hoffte, sie würde ihre anfängliche Verlegenheit schon überwinden, sagte:

»Agatha, kommen Sie einmal her. Ich möchte mit Ihnen sprechen.«

Agatha preßte ihre Lippen zusammen, atmete tief durch die Nasenflügel ein und trat bis auf einen Schritt an Miß Wilson heran, wo sie mit gefalteten Händen stehen blieb.

»Setzen Sie sich.«

Agatha setzte sich mit einer einzigen Bewegung hin, wie eine Puppe.

»Ich verstehe das nicht, Agatha,« sagte sie, indem sie auf die Eintragung im Sündenbuch hinwies. »Was meinen Sie damit?«

»Ich werde ungerecht behandelt,« sagte Agatha mit Anzeichen beginnender Erregung.

»In welcher Weise?«

»In jeder Weise. Man erwartet von mir, daß ich etwas mehr bin als andere Sterbliche. Jeder darf sich beklagen und schwach und töricht sein. Aber ich soll keine Gefühle haben. Ich muß immer in richtiger Verfassung sein. Alle andern können Heimweh haben, zornig werden oder niedergeschlagen sein. Ich darf keine Nerven haben und muß die andern den ganzen Tag am Lachen halten. Alle dürfen mürrisch werden, wenn man ein Wort des Vorwurfs an sie richtet, so daß die Lehrerinnen Angst haben, sie zu tadeln. Ich muß die Beschimpfung meiner Lehrerinnen ertragen, obgleich sie weniger Selbstbeherrschung haben als ich, ein Mädchen von siebzehn Jahren, und ich muß ihnen schmeicheln, bis ihre schlechte Laune, in die sie sich selbst gebracht haben, verschwunden ist.«

»Aber, Agatha –«

»Oh, ich weiß, ich rede Unsinn, Miß Wilson, aber können Sie von mir erwarten, daß ich immer vernünftig – daß ich unfehlbar bin?«

»Ja, Agatha, ich glaube, es ist nicht zu viel von Ihnen verlangt, immer vernünftig zu sein und –«

»Dann haben Sie selbst weder Vernunft noch Gefühl,« sagte Agatha.

Es entstand eine peinliche Pause. Sie wußten beide nicht, wie lange sie dauerte. Agatha fühlte, sie müßte etwas Verzweifeltes tun oder sagen, oder sie müßte fliehen. Sie machte eine verstörte Bewegung und rannte aus dem Zimmer.

Sie traf ihre Kolleginnen in dem großen Saal des Hauses, in dem sie sich nach ihren Schulstunden zur Erholung versammelten. Diese Erholung war ein sehr geräuschvoller Vorgang, der stets sofort begann, wenn die Lehrerinnen gegangen waren. Agatha saß gewöhnlich mit ihren zwei besten Freundinnen auf einer hohen Fensterbank nahe am Herd. Diesen Platz hatte jetzt ein kleines Mädchen mit flachsgelbem Haar eingenommen, aber Agatha packte sie, ohne an das Prinzip der moralischen Überredung zu denken, bei den Schultern und setzte sie auf den Boden. Dann nahm sie ihren Platz ein und sagte:

»Kinder, ich weiß etwas ganz Neues!«

Miß Carpenter riß begierig ihre Augen auf. Gertrude Lindsay stellte sich gleichgültig.

»Jemand wird fortgejagt,« sagte Agatha.

»Fortgejagt! Wer?«

»Du wirst es bald genug erfahren, Jane,« entgegnete Agatha und wurde plötzlich ernst. »Es ist jemand, der eine unverschämte Eintragung in das Sündenbuch gemacht hat.«

Jane bekam plötzlich Angst, und sie wurde ganz rot. »Agatha,« sagte sie, »du hast mir gesagt, was ich schreiben sollte. Du weißt das und kannst es nicht leugnen.«

»Ich kann das nicht leugnen? Ich bin bereit, es zu beschwören, daß ich dir nie in meinem Leben ein Wort diktiert habe.«

»Gertrude weiß, daß du es getan hast,« sagte Jane erbleichend und fast in Tränen.

»Ach, das Kind,« sagte Agatha und streichelte sie, als ob sie ein Riesenbaby wäre. »Nein, es wird nicht weggejagt werden. Hat schon jemand in den letzten Tagen das Sündenbuch gesehen?«

»Seit unserer letzten Eintragung nicht mehr,« sagte Gertrude.

»Knirps,« sagte Agatha zu dem flachshaarigen Mädchen, »geh hinauf auf Numero 6, und wenn Miß Wilson nicht da ist, dann hol mir das Sündenbuch.«

Das kleine Mädchen knurrte etwas Undeutliches und rührte sich nicht.

»Knirps,« fuhr Agatha fort, »hast du schon einmal gewünscht, nie geboren zu sein?«

»Warum gehst du nicht selbst?« fragte das Kind eigensinnig, aber offenbar schon etwas in Angst.

»Denn du wirst den Wunsch haben,« fuhr Agatha fort, ohne die Frage zu beachten, »daß du tot und begraben unter den schwärzesten Fliesen im Kohlenkeller liegst, wenn du mir das Buch nicht bringst, bevor ich sechzehn zähle. Eins – zwei –«

»Geh sofort und tu, was dir befohlen ist, du abscheuliches kleines Geschöpf,« sagte Gertrude scharf. »Wie kannst du es wagen, ungehorsam zu sein?«

»– neun – zehn – elf –« fuhr Agatha fort.

Das Kind bekam Angst. Es ging hinaus und kam gleich darauf wieder, das Sündenbuch mit den Armen umspannend.

»Du bist ein liebes, prächtiges Kind, sobald man deine besseren Eigenschaften durch strenge Anwendung der moralischen Überredung zum Vorschein bringt,« sagte Agatha lustig. »Erinnere mich daran, daß ich dir morgen abend die Rosinen aus meinem Pudding aufhebe. Und jetzt, Jane, sollst du die Eintragung sehen, wegen derer das gutherzigste Mädchen aus der ganzen Schule weggejagt wird. Voilà!«

Die beiden Mädchen lasen es und waren entsetzt. Jane öffnete ihren Mund und schnappte nach Lust, Gertrude schloß ihre Lippen und sah sehr ernst drein.

»Du willst doch nicht sagen, du hast den schrecklichen Mut gehabt, das der Lady Abbeß zu zeigen?« fragte Jane.

»Pah, das hätte sie mir schon vergeben. Aber ihr hättet hören sollen, was ich ihr gesagt habe! Sie wurde dreimal ohnmächtig.«

»Das ist ein Märchen,« sagte Gertrude ernst. »Was sagtest du?« fragte Agatha, indem sie schnell nach Gertrudes Knie griff.

»Nichts,« schrie Gertrude und wand sich krampfhaft. »Tu es nicht, Agatha.«

»Wie oft ist Miß Wilson in Ohnmacht gefallen?«

»Dreimal. Ich schreie, Agatha, ich schreie wirklich.«

»Dreimal, wie du sagtest. Und ich wundere mich, wie ein Mädchen, das, wie ihr, durch moralische Überredung erzogen wurde, solch eine Unwahrheit wiederholen kann. Aber wir hatten wirklich und wahrhaftig einen schrecklichen Streit. Sie verlor ihre Fassung. Glücklicherweise verliere ich dir meine nie.«

»Den Teufel glaub ich das,« rief Jane zweifelnd. »Aber nur weiter.«

»Du willst aus einer alten Familie stammen und bist überaus gewöhnlich. Ich weiß nicht, was ich ihr sagte, aber die Entweihung ihres teuren Buches wird sie mir nicht vergeben. Ich werde so sicher fortgejagt, wie ich hier sitze.«

»Was, du meinst, du gehst wirklich weg?« fragte Jane und bekam Angst, als sie an die Folgen dieses Fortgehens dachte.

»Natürlich. Aber was aus dir werden soll, wenn ich dir nicht mehr bei deinen Aufgaben helfe, oder aus Gertrude, wenn ich ihr nicht mehr diese eingefleischte Vornehmtuerei austreibe, das weiß ich selber nicht.«

»Ich bin nicht vornehmtuerisch,« sagte Gertrude, »obgleich ich mich nicht mit jedem gemein mache. Aber gegen dich habe ich nie etwas eingewendet, Agatha.«

»Nein, ich würde es dir auch nicht geraten haben. Hallo, Jane!« rief sie, als diese plötzlich in Tränen ausbrach. »Was ist denn los? Hoffentlich erlaubst du dir nicht die Freiheit, meinetwegen zu weinen.«

»Ja, Agatha,« schluchzte Jane unwillig. »Ich weiß, ich mache mich durch mein Mitgefühl lächerlich. Aber du hast kein Herz.«

»Gewiß machst du dich lächerlich, indem du das bei jeder Gelegenheit zeigst,« sagte Agatha und schlang ihre Arme um Jane, ohne auf deren ärgerliches Sträuben zu achten. »Aber wenn ich wirklich etwas Herz hätte, würde ich jetzt durch diesen Beweis deiner Zuneigung gerührt sein.«

»Nie habe ich gesagt, du hättest kein Herz,« widersprach Jane. »Ich kann nur nicht leiden, wenn du wie ein Buch sprichst.«

»Du kannst nicht leiden, wenn ich wie ein Buch spreche? Meine liebe, närrische alte Jane! Ich werde dich sehr vermissen.«

»Jawohl, das wirst du,« sagte Jane mit bitterer Ironie. »Wenigstens wird dich jetzt mein Schnarchen nicht mehr im Schlafe stören.«

»Du schnarchst ja gar nicht, Jane. Wir haben uns nur verschworen, dir das einzureden. Ist es nicht schön von mir, daß ich dir das erzähle?«

Jane war überwältigt von dieser Aufklärung. Nach einer langen Pause sagte sie in tiefer Überzeugung, »das wußte ich schon immer, daß ihr das tatet. Aber die Art, wie ihr es durchführtet! Ich erkläre hiermit feierlich, daß ich von jetzt ab niemand mehr glauben will.«

»Nun, und was denkst du über die ganze Sache?« fragte Agatha, indem sie ihre Aufmerksamkeit Gertrude zuwandte, die sehr ernst geworden war.

»Ich denke – und ich meine es wirklich so, Agatha – daß du vollständig im Unrecht bist.«

»Bitte, warum denkst du das?« fragte Agatha etwas erregt.

»Du mußt es sein, sonst wäre Miß Wilson nicht böse über dich! Natürlich, nach deiner eigenen Darstellung bist du immer im Recht, und alle andern haben unrecht. Aber du hättest das nicht in das Buch hineinschreiben sollen. Du weißt, ich spreche als deine Freundin.«

»Bitte, was weiß deine armselige kleine Seele von meinen Gedanken und Gefühlen?«

»So schwer ist das nicht, dich zu verstehen,« entgegnete Gertrude gereizt. »Eigendünkel ist keine solche seltene Sache, daß man ihn nicht erkennen könnte. Und denke daran, Agatha Wylie,« fuhr sie, wie von einer unerträglichen Erinnerung angestachelt, fort, »wenn du wirklich fortgehst, dann ist es mir gleich, ob wir als Freundinnen scheiden oder nicht. Ich hab den Tag nicht vergessen, da du mich eine boshafte Katze nanntest.«

»Ich habe es bereut,« sagte Agatha ruhig. »Ich habe mich einmal hingesetzt und Bacchus beobachtet, der auf dem Feuerplatz saß. Er blickte mit seinen träumerischen Augen so gedankenvoll und geduldig in die Ferne, daß ich ihn um Verzeihung bat, weil ich ihn mit dir verglichen habe. Wenn ich ihn eine boshafte Katze nannte, er würde es mir einfach nicht glauben.«

»Weil er wirklich eine Katze ist,« sagte Jane mit dem Lächeln, das meist so schnell auf Tränen folgt.

»Nein, aber weil er nicht boshaft ist. Gertrude bewahrt ein Sündenbuch in ihrem eigenen kleinen Kopf, und es ist so voll von andrer Leute Sünde – alle in großen Buchstaben hineingeschrieben und durch ein Vergrößerungsglas zu lesen – daß sie keinen Platz hat, ihre eigenen einzutragen.«

»Du drückst dich sehr poetisch aus,« sagte Gertrude. »Aber ich verstehe, was du meinst, und ich werde es nicht vergessen.«

»Du undankbarer Wicht,« schrie Agatha, indem sie sich so plötzlich und heftig gegen sie wandte, daß sie unwillkürlich zur Seite wich. »Wie oft habe ich nicht, wenn du unverschämt und falsch gegen mich sein wolltest, deinen bösen Engel vertrieben, indem ich dich kitzelte? Hattest du, bevor ich hierher kam, eine Freundin in der Anstalt, außer einem halben Dutzend Bauernmädchen? Und jetzt, weil ich dich manchmal zu deinem eigenen Nutzen auf deine Fehler aufmerksam gemacht habe, hegst du Groll gegen mich und sagst, es sei dir gleichgültig, ob wir als Freundinnen scheiden oder nicht!«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Oh, Gertrude, du weißt ganz gut, daß du es gesagt hast,« bemerkte Jane.

»Du denkst wohl, ich hätte kein Gewissen,« sagte Gertrude jammernd.

»Ich wollte, du hättest keins,« sagte Agatha. »Sieh mich an! Ich habe kein Gewissen und weiß, wieviel vergnügter ich dabei bin.«

»Du kümmerst dich nur um dich selbst,« sagte Gertrude. »Nie glaubst du, daß andere Leute auch Gefühle haben. Auf mich nimmt überhaupt niemand Rücksicht.«

»Oh, so hör ich dich gerne reden,« rief Jane ironisch. »Auf dich wird überhaupt viel mehr Rücksicht genommen, als dir gut tut. Und je mehr man auf dich Rücksicht nimmt, desto größere Ansprüche stellst du.«

»Der Appetit,« deklamierte Agatha theatralisch,»kommt mit dem Essen. Das wußte auch schon Shakespeare.«

»Zum Henker mit Shakespeare!« sagte Jane ungestüm. »Der alte Narr bildet sich etwas darauf ein, daß er abgedroschene Redensarten vorträgt. Aber wenn du dich beklagst, Gertrude, weil auf dich keine Rücksicht genommen wird, was soll ich denn sagen, die von allen zum Narren gehalten wird? Aber ich bin nicht so närrisch wie –«

»Wie du aussiehst,« warf Agatha dazwischen. »Ich hab es dir unendlich oft gesagt, Jane, und es freut mich daß du dich endlich zu meiner Meinung bekehrt hast. Was möchtest du lieber sein, ein größerer Narr als du –«

»Oh, halt ein,« sagte Jane ungeduldig, »du hast mich das diese Woche schon zweimal gefragt.«

Die drei schwiegen hierauf eine kurze Zeit. Agatha überlegte, Gertrude war verdrießlich, Jane gedankenlos und unruhig. Schließlich sagte Agatha:

»Dann leidet ihr zwei wohl auch unter der Rücksichtslosigkeit und Selbstsucht der andern, die euch mißverstehen, die alles von euch erlangen und nie Entschuldigungen für euch gelten lassen?«

»Ich weiß nicht, was du damit meinst, daß wir zwei darunter auch leiden!« sagte Gertrude kühl.

»Ich ebenfalls nicht,« sagte Jane ärgerlich. »Das ist doch grade die Art, wie alle mich behandeln. Du kannst lachen, Agatha, und sie mag ihre Nase rümpfen, wie sie will, du weißt, daß es wahr ist. Gertrudes Idee, uns einzureden, es würde nicht genug Rücksicht auf sie genommen, ist weiter nichts als Gefühlsduselei, Eitelkeit und Blödsinn.«

»Sie sind außerordentlich roh, Miß Carpenter,« sagte Gertrude.

»Meine Manieren sind so gut wie die Ihrigen und vielleicht besser,« entgegnete Jane. »Meine Familie ist sicher so gut.«

»Kinder, Kinder,« sagte Agatha in ermahnendem Tone, »vergeßt nicht, daß Ihr geschworene Freundinnen seid.«

»Wir haben nicht geschworen,« sagte Jane. »Wir wollten drei geschworene Freundinnen werden, und Gertrude und ich waren auch dabei, aber du wolltest nicht schwören, und so wurde nichts aus der Sache.«

»So ist es,« sagte Agatha. »Und jetzt verschwende ich all meine Zeit, um zwischen euch Frieden zu halten. Aber um auf unser Thema zurückzukommen, ist es einer von euch schon einmal in den Sinn gekommen, daß niemand auf mich Rücksicht nimmt?«

»Ich glaube, du hältst das für etwas Spaßhaftes. Du handelst wirklich danach, daß man auf dich Rücksicht nimmt,« sagte Jane spöttisch.

»Du kannst nicht sagen, ich nähme keine Rücksicht auf dich,« sagte Gertrude vorwurfsvoll.

»Ja, weil ich dich kitzle.«

»Ich nehme Rücksicht auf dich und bin nicht kitzlich,« sagte Jane zärtlich.

»Wirklich! Laß mich einmal versuchen,« sagte Agatha und schlang ihren Arm um Janes umfangreiche Taille, worauf sie ihr eine durchdringende Mischung von Lachen und Schreien entlockte.

»Sst – sch!« flüsterte Gertrude schnell. »Da ist die Lady Abbeß.«

Miß Wilson war grade in das Zimmer eingetreten. Agatha tat so, als bemerkte sie ihre Anwesenheit nicht. Sie zog verstohlen ihren Arm zurück und sagte laut:

»Wie kannst du nur so ein Geschrei machen, Jane? Du bringst ja das ganze Haus in Aufruhr.«

Jane wurde rot vor Unwillen, aber sie mußte jetzt still sein, denn die Augen der Vorsteherin ruhten auf ihr. Miß Wilson hatte ihren Hut auf. Sie sagte, sie müßte nach Lyvern gehen, zum nächsten Dorfe. Ob einige Damen aus der sechsten Klasse sie begleiten wollten?

Agatha sprang sofort von ihrem Sitz herunter, und Jane unterdrückte ein Lachen.

»Miß Wilson sagte, die sechste Klasse, Miß Wylie,« bemerkte Miß Ward, die auch hereingetreten war. »Sie sind nicht in der sechsten Klasse.«

»Nein,« sagte Agatha sanft, »aber ich möchte mitgehen, wenn ich darf.«

Miß Wilson sah sich um. Die sechste Klasse bestand aus vier lernbegierigen jungen Damen, deren Lebensziel für den Augenblick eine Aufnahmeprüfung an einer Universität, oder wie man auf der Schule sagte, das Cambridgezeugnis war. Keine von ihnen antwortete.

»Dann die fünfte Klasse,« sagte Miß Wilson.

Jane, Gertrude und vier andere erhoben sich und stellten sich neben Agatha.

»Gut,« sagte Miß Wilson. »Machen Sie nicht so lange mit dem Anziehen.«

Sie eilten schnell hinaus und stürmten mit Geräusch die Treppen hinauf. Agatha, die für das Cambridgezeugnis gar kein Interesse hatte, strebte voll Ehrgeiz danach, stets am schnellsten die Treppen hinauf- oder hinunterzueilen.

Sie kamen bald zum Spaziergang gekleidet zurück und verließen zwei und zwei in einer Prozession das Institut. Jane und Agatha gingen voran, Gertrude und Miß Wilson kamen zuletzt. Die Landstraße nach Lyvern führte über Weideland, das früher urbar gewesen war, aber jetzt dem Vieh überlassen wurde, weil dieses dem Eigentümer mehr Geld einbrachte als die Pächter, denen er es weggenommen hatte. Miß Wilsons junge Damen hatten auch Unterricht in der Volkswirtschaft. Sie wußten, daß jeder Gegenstand zu dem Zweck benutzt wurde, der am notwendigsten war, und wenn hier der ganze Ertrag nur dem Eigentümer zufiel, so war das ganz natürlich, weil er der vornehmste Gentleman in der Gegend war. Zwar hatte dieser Zustand auch seine unangenehme Seite. Es gab da eine Menge Rinder, so daß sie Angst hatten, die Felder zu überschreiten, es gab eine Menge Vagabonden, so daß sie sich fürchteten, über die Landstraße zu gehen, und es waren viel zu wenig Gentlemen da, die Verständnis für den Zauber weiblicher Reize hatten.

Der Himmel war bewölkt. Agatha, die nichts auf schmutzige Schuhe gab, watete durch die Haufen gefallener Blätter mit dem Entzücken eines Kindes, das im Wasser herumpatscht. Gertrude setzte ihre Füße sorgfältig hin, und die andern gingen leise plaudernd des Weges, höchstens, daß sie hier und da einmal in lauterem Tone eine wissenschaftliche oder philosophische Bemerkung machten, damit Miß Wilson sie hörte und auch eine Freude hatte. Außer einem Viehtreiber, der etwas von dem Wesen und Ausdruck der Rinder, die er leitete, angenommen zu haben schien, trafen sie keinen Menschen, bis sie sich dem Dorfe näherten. Hier aber tauchten hinter einer Anhöhe zwei Personen männlichen Geschlechts in der Gestalt zweier Geistlichen auf. Einer war groß und mager, hatte ein glatt rasiertes Gesicht, ein Buch unter dem Arm und einen lang herausgereckten Hals. Der andere war von mittlerer Größe, kräftigem Körper und grader Haltung. Er sah unternehmungslustig aus mit seinem schwarzen Backenbart, und auf Eigentümer mehr Geld einbrachte als die Pächter, denen er es weggenommen hatte. Miß Wilsons junge Damen hatten auch Unterricht in der Volkswirtschaft. Sie wußten, daß jeder Gegenstand zu dem Zweck benutzt wurde, der am notwendigsten war, und wenn hier der ganze Ertrag nur dem Eigentümer zufiel, so war das ganz natürlich, weil er der vornehmste Gentleman in der Gegend war. Zwar hatte dieser Zustand auch seine unangenehme Seite. Es gab da eine Menge Rinder, so daß sie Angst hatten, die Felder zu überschreiten, es gab eine Menge Vagabonden, so daß sie sich fürchteten, über die Landstraße zu gehen, und es waren viel zu wenig Gentlemen da, die Verständnis für den Zauber weiblicher Reize hatten.

Der Himmel war bewölkt. Agatha, die nichts auf schmutzige Schuhe gab, watete durch die Haufen gefallener Blätter mit dem Entzücken eines Kindes, das im Wasser herumpatscht. Gertrude setzte ihre Füße sorgfältig hin, und die andern gingen leise plaudernd des Weges, höchstens, daß sie hier und da einmal in lauterem Tone eine wissenschaftliche oder philosophische Bemerkung machten, damit Miß Wilson sie hörte und auch eine Freude hatte. Außer einem Viehtreiber, der etwas von dem Wesen und Ausdruck der Rinder, die er leitete, angenommen zu haben schien, trafen sie keinen Menschen, bis sie sich dem Dorfe näherten. Hier aber tauchten hinter einer Anhöhe zwei Personen männlichen Geschlechts in der Gestalt zweier Geistlichen auf. Einer war groß und mager, hatte ein glatt rasiertes Gesicht, ein Buch unter dem Arm und einen lang herausgereckten Hals. Der andere war von mittlerer Größe, kräftigem Körper und grader Haltung. Er sah unternehmungslustig aus mit seinem schwarzen Backenbart, und auf Ernsthaftigkeit und sein vornehmer Zylinderhut sich in ihrem höchsten Glanze zeigten, warf sie ihm schnell ein spöttisches Lächeln zu, und auch er errötete, und zwar um so tiefer, weil er über sein Erröten wütend wurde.

»Hast du schon einmal zwei solche Narren gesehen?« flüsterte Jane kichernd.

»Sie sind einmal Männer. Sie sagen immer, Frauen seien Narren, und sie haben recht. Aber so schlimm wie die Männer sind wir Gott sei Dank doch noch nicht! Ich möchte mich nach Pharao umsehen, wie er an Gertrude vorbeigeht. Aber, wenn er das bemerkt, denkt er, ich bewundere ihn. Er ist so schon eingebildet genug.«

Die beiden Geistlichen erröteten immer mehr, als sie an der Prozession junger Mädchen vorbeischritten. Miß Lindsay blickte nach der andern Seite der Straße, und Miß Wilsons Nicken und Lächeln waren nicht ganz aufrichtig. Sie sprach nie mit den Geistlichen und unterhielt auch mit dem Vikar nicht mehr Verkehr, als unbedingt notwendig war. Er hatte sie im Verdacht, eine Ungläubige zu sein, obgleich weder er, noch sonst ein Sterblicher in Lyvern je ein Wort über ihre religiösen Ansichten von ihr gehört hatte. Aber er wußte, daß eine weltliche ›Moralwissenschaft‹ in der Anstalt gelehrt würde, und hatte das Gefühl, wenn erst die Moral zu einer Sache der Wissenschaft gemacht würde, daß dann das Interesse für Religion entsprechend sinken werde.

»Welch ein Leben ist das, und welch eine Gegend!« rief Agatha aus. »Wir treffen zwei Kreaturen, die mehr wandelnden schwarzen Kostümen als Menschen gleichen, und das ist ein Ereignis – ein aufregendes Ereignis in unserm Leben!«

»Ich denke, sie sind schrecklich komisch,« sagte Jane, »schon, daß Josephs solche großen Ohren hat.«

Sie kamen jetzt an eine Stelle, wo der Weg durch eine Anpflanzung von dunklen Maulbeerbäumen und Roßkastanien ging. Als sie hineinschritten, erhob sich ein Wind, die welken Blätter wurden vom Boden aufgewirbelt, und durch die Zweige strich eine lange rauschende Bewegung.

»Diesen Teil vom Wege hasse ich,« sagte Jane und eilte weiter. »Grade an solchen Stellen werden Leute ausgeplündert und ermordet.«

»Es ist gar kein schlechter Platz, um uns vor dem Regen zu schützen, denn der kommt sicher, bevor wir zurück sind,« sagte Agatha, die bei den Windstößen, die ihr ins Gesicht jagten, Angst bekam. »Ich werde schön eingeweicht werden, besonders mit diesen leichten Schuhen. Ich wollte, ich hätte meine schweren Stiefel angezogen. Wenn es arg regnet, lauf ich in die alte Hütte.«

»Miß Wilson wird es nicht gestatten, es ist verboten.«

»Was schadet das? Es wohnt doch niemand darin, und das Tor ist aus den Angeln. Ich will mich nur unter die Veranda stellen – in das elende Haus dringe ich gar nicht ein. Übrigens kennt der Eigentümer Miß Wilson, und er macht sich nichts daraus. Da fällt ein Tropfen.«

Miß Carpenter blickte auf und bekam sofort einen schweren Regentropfen in ihr Auge.

»Oh!« schrie sie. »Es gießt! Wir werden durch und durch naß.«

Agatha blieb stehen, und der Zug sammelte sich um sie in einer Gruppe.

»Miß Wilson,« sagte sie, »es wird in Strömen regnen, und Jane und ich haben nur unsere Schuhe an.«

Miß Wilson schwieg, um die Lage zu überlegen. Ein Mädchen meinte, wenn sie liefen, könnten sie noch Lyvern erreichen, bevor der Regen einsetzte.

»Über zwanzig Minuten,« sagte Agatha verächtlich, »und es regnet doch schon!«

Ein anderes Mädchen riet, nach Hause zurückzukehren.

»Das sind dreiviertel Stunden,« sagte Agatha. »Wir würden inzwischen ertränkt werden.«

»Es bleibt uns nichts übrig, als hier unter den Bäumen zu warten,« sagte Miß Wilson.

»Die Zweige sind ganz kahl,« sagte Gertrude ängstlich. »Wenn es richtig regnet, tropfen sie schlimmer als der Regen selbst.«

»Viel schlimmer,« sagte Agatha. »Ich denke, wir gehen am besten unter die Veranda vor dem alten Landhaus. Es ist nur eine halbe Minute von hier.«

»Aber wir haben kein Recht –« Jetzt wurde der Himmel bedrohlich dunkel. Miß Wilson unterbrach sich selbst: »Ich denke, es wird noch unbewohnt sein.«

»Natürlich,« antwortete Agatha voller Ungeduld, fort zu kommen. »Es ist ja eine halbe Ruine.«

»Dann laßt uns in Gottes Namen hingehen,« sagte Miß Wilson, die nicht auf die Gefahr hin, naß zu werden, an ihren Bedenken festhalten wollte.

Sie eilten weiter und kamen gleich darauf an eine grüne Anhöhe neben dem Wege. Auf ihrer Höhe stand ein zerfallenes Schweizerhaus, umgeben von einer Veranda, die auf schlanken Holzsäulen ruhte. Ein paar Ranken von verwelkten Schlinggewächsen hingen daran, und die äußersten Spitzen, die noch bebten von den Stößen des Windes, wurden jetzt still, als lauschten sie auf das Kommen des Regens. Ein Tor von rohem Holz, das sich in der Hecke befand, führte von der Landstraße in das Haus. Zu ihrem Erstaunen fand Agatha, daß das Tor nicht mehr aus den Angeln war, wie das letztemal, als es nur noch durch eine rostige Kette und ein Schloß an dem Pfosten befestigt war; man hatte es jetzt wieder eingehängt und mit neuen Haken befestigt. Aber das Wetter erlaubte keine langen Betrachtungen über diese Ausbesserungen. Sie öffnete das Tor und eilte den Hügel hinauf, gefolgt von dem Trupp der andern Mädchen. Ihr Hinaufsteigen endete in einem Rennen, denn der Regen kam plötzlich in Strömen herunter.

Als sie sicher unter der Veranda waren, die einen keuchend und murrend, die andern lachend und froh, weil sie einen solchen Zufluchtsort gefunden hatten, bemerkte Miß Wilson etwas beunruhigt einen Spaten, der neu war wie die Haken am Tor und aufrecht in einem Stück frisch umgegrabener Erde steckte. Sie wollte grade etwas über dieses Anzeichen, daß hier Leute wohnten, sagen, als die Türe der Hütte aufgestoßen wurde und Jane einen lauten Schrei ausstieß. Ein Mann trat heraus und ging auf den Spaten los, den er offenbar nicht im Regen stehen lassen wollte. Dann bemerkte er die Gesellschaft unter der Veranda und stand vor Erstaunen still. Er war ein junger Arbeiter mit rötlichbraunem Bart, der kaum eine Woche gewachsen war. Er trug Manchesterhosen und eine Manchesterweste mit Leinenärmeln, alles neu wie der Spaten und die Haken. Ein grobes, blaues Hemd mit einem gewöhnlichen, rot und orangefarbenen Halstuch, die ebenfalls neu waren, vervollständigten seine Kleidung. Und um sich vor dem Regen zu schützen, hatte er einen seidenen Schirm mit silberbeschlagenem Ebenholzgriff aufgespannt, zu dem er kaum auf ehrliche Weise gekommen sein konnte. Miß Wilson war es wie einem Knaben zumute, den man im Obstgarten erwischt hat, aber sie nahm trotzdem eine kühne Miene an und sagte:

»Gestatten Sie uns, daß wir hier untertreten, bis der Regen vorbei ist?«

»Selbstverständlich, Eure Gnaden,« antwortete er, indem er respektvoll mit dem Handgriff seines Spatens sein Haar zurückstrich, das bis zu den Augenbrauen heruntergekämmt war. »Eure Gnaden machen mich stolz, daß Sie vor der Unbarmherzigkeit der Stürme in meiner armseligen Hütte Zuflucht nehmen.« Seine Worte waren seltsam, seine Aussprache war barbarisch, und wie ein schlechter Schauspieler schien er grade daran Gefallen zu finden. Während er sprach, trat er ebenfalls unter die Veranda und lehnte den Spaten gegen die Wand, indem er den Lehm von seinen schweren, genagelten Schuhen trat, die ebenfalls neu waren.

»Ich kam heraus, geehrte Dame,« fuhr er sehr mit sich selbst zufrieden fort, »um meinen Spaten zu holen, durch den ich mir ja meinen Unterhalt gewinne. Was die Feder für den Dichter, das ist der Spaten für den Arbeiter.« Er nahm das Halstuch von seinem Nacken, wischte sich die Schläfen, als ob der Schweiß ehrlicher Arbeit daran klebte, und legte es sich ruhig wieder um.

»Entschuldigen Sie eine Bemerkung von einem gewöhnlichen Mann,« sagte er, »Eure Gnaden haben da eine nette Familie von Töchtern.«

»Es sind nicht meine Töchter,« sagte Miß Wilson sehr kurz.

»Vielleicht Schwestern?«

»Nein.«

»Ich dachte – vielleicht – weil ich selbst 'ne Schwester hab. Nicht als ob ich auch in Gedanken sie damit vergleiche – sie ist nur ein gewöhnliches Weib – so gewöhnlich, wie Sie nie keine gesehen haben. Aber die Weiber erheben sich selten über das Gewöhnliche. Letzten Sonntag, da unten in der Dorfkirche, hörte ich den Pfarrer sagen, daß er einen Mann unter Tausend gefunden hat. ›Doch ein Weib unter all diesen‹, sagte er, ›habe ich nicht gefunden,‹ und ich denke so bei mir: ›Recht hast du!‹ Aber der Henker holt mich, wenn er je Eure Gnaden gesehen hat.«

Ein Lachen, das ganz fein wie ein Husten herauskam, entschlüpfte Miß Carpenter.

»Die junge Lady hat sich erkältet,« sagte er mit respektvoller Besorgtheit.

»Glauben Sie, daß der Regen noch lange andauert?« fragte Agatha in höflichem Tone.

Der Mann betrachtete einige Augenblicke mit wetterkundigem Blick den Himmel. Dann wandte er sich zu Agatha und antwortete demütig: »Nur der Herr weiß es, Miß. Einem gewöhnlichen Mann, wie mir, ist es nicht gegeben, das zu sagen.«

Ein Schweigen folgte jetzt, und Agatha, die verstohlen den Bewohner der Hütte beobachtete, bemerkte, daß sein Gesicht und sein Hals sauberer und weniger sonnenverbrannt waren, als man es sonst bei den gewöhnlichen Arbeitern von Lyvern fand. Seine Hände steckten in weiten Gartenhandschuhen, die mit Kohlenflecken beschmutzt waren. Gewöhnlich machten sich Lyverner Arbeiter wenig daraus, ihre Hände zu beschmutzen; sie trugen nie Handschuhe. Doch sie dachte, warum sollte nicht ein überspannter Arbeiter, der unerträglich geschwätzig war und eine Anspielung auf die Feder des Dichters machen konnte, sich mit billigen Handschuhen vergnügen. Aber dann der seidene, silberbeschlagene Schirm –

»Die junge Lady hier,« sagte er plötzlich und streckte den Schirm vor, »sieht das Ding hier an. Ich weiß wohl, daß es nicht für den Geringsten unter den Geringen paßt, den Schirm eines Gentleman zu tragen, und ich bitte Eure Gnaden um Verzeihung. Ich hab ihn durch Zufall gekriegt, und wäre froh, wenn ein Gentleman, der einen solchen Artikel braucht, mir einen annehmbaren Preis machte.«

Während er das sagte, rannten zwei Gentlemen, die, nach ihren triefenden Kleidern zu urteilen, sogar dringend einen solchen Artikel brauchten, durch das Tor und kamen auf das Landhaus zu. Fairholme langte zuerst an und rief: »Furchtbarer Schauer!« Dann wandte er sich schnell von den Damen ab, stellte sich an den Rand der Veranda und schüttelte den Regen von seinem Hute ab. Josephs, der hinter ihm herkam, wand sich schaudernd vor der feuchten Berührung mit seinen eigenen Kleidern. Er machte Miß Wilson eine Verbeugung und sagte, sie sei hoffentlich nicht naß geworden.

»Das schon nicht,« entgegnete sie. »Aber die Frage ist, wie wir von hier wieder nach Hause kommen?«

»Oh, es ist nur ein Regenschauer,« sagte Josephs und schaute hoffnungsfroh nach dem wolkenschweren Himmel »Es wird sich gleich aufklären.«

»Es paßt sich nicht für einen gewöhnlichen Mann, eine andere Meinung zu haben als ein Gentleman, dessen Geschäft es ist, den Himmel zu kennen, wie man wohl sagen kann,« bemerkte hier der Mann, »sonst möchte ich meinen Schirm gegen Ihren Schlapphut verwetten, daß es vor sieben Uhr nicht aufhört zu regnen.«

»Dieser Mann wohnt hier,« flüsterte Miß Wilson, »und ich glaube, er will uns los werden.«

»Hm!« sagte Fairholme. Dann wandte er sich an den seltsamen Arbeiter mit der Miene eines Mannes, der keinen Spaß versteht, und sagte mit erhobener Stimme: »Sie wohnen hier, lieber Mann?«

»Ja, Herr, mit Ihrer gütigen Erlaubnis, wenn ich so kühn sein darf.«

»Wie heißen Sie?«

»Jeff Smilasch, Herr, empfehle mich.«

»Wo kommen Sie her?«

»Von Brirtonbury, Herr.«

»Von Brirtonbury! Wo liegt das?«

»Ja, Herr, das weiß ich selbst nicht genau. Wenn ein Gentleman wie Sie, der Geographie und so was kennt, das nicht sagen kann, wie soll ich?«

»Sie sollten doch wissen, wo Sie geboren sind, Mann. Haben Sie keinen gesunden Menschenverstand?«

»Wie soll so einer wie ich Menschenverstand haben, Herr? Übrigens, ich war nur ein Findling. Vielleicht bin ich überhaupt nicht geboren.«

»Habe ich Sie letzten Sonntag in der Kirche gesehen?«

»Nein, Herr. Ich kam erst Mittwoch.«

»Schön, dann kommen Sie nächsten Sonntag hin,« sagte Fairholme kurz, indem er sich von ihm abwandte.

Miß Wilson blickte auf die Wolken, dann auf Josephs, der sich mit Jane unterhielt, und schließlich auf Smilasch, der sich mit den Knöcheln gegen die Stirne schlug, ohne zu erwarten, daß man ihn anrede.

»Haben Sie einen Jungen, den Sie nach Lyvern schicken können, um uns eine Fahrgelegenheit – einen Wagen zu verschaffen. Ich will ihm einen Schilling für seine Mühe geben.«

»Einen Schilling!« sagte Smilasch fröhlich. »Eure Gnaden sind eine noble Dame. Zwei vierrädrige Wagen. Acht sollen Sie haben.«

»Es gibt nur einen Wagen in Lyvern,« sagte Miß Wilson. »Bringen Sie diese Karte zu Mr. Marsch, dem Wagenverleiher, und erzählen Sie ihm, in welcher Verlegenheit wir hier sind. Er wird das Gespann hersenden.«

Smilasch nahm die Karte und las sie mit einem flüchtigen Blick. Dann ging er in das Haus, um gleich darauf in einem Ölrock und einem Südwester auf dem Kopf wieder zu erscheinen. Er rannte durch den Regen davon und schwang sich mit etwas komischer Eleganz über das Tor. Kaum war er verschwunden, so wurde er, wie das öfter bei merkwürdigen Menschen ist, der Gegenstand der Unterhaltung.

»Ein bescheidener Arbeiter,« sagte Josephs. »Und von guten Manieren in Anbetracht seines Standes.«

»Und ein geborener Narr,« sagte Fairholme.

»Oder ein Spitzbube,« bemerkte Agatha, indem sie die Augen aufriß und die Zähne zeigte, während ihre Mitschülerinnen ganz entsetzt über ihre Kühnheit in starrer Bestürzung dastanden. »Er sagte Miß Wilson, er habe eine Schwester, und er sei letzten Sonntag in der Kirche gewesen. Ihnen aber hat er grade erzählt, er sei ein Findling und sei erst am Mittwoch angekommen. Seine Aussprache ist nur angenommen, er kann lesen, und ich glaube überhaupt nicht, daß er ein Arbeiter ist. Vielleicht ist er ein Räuber und will das Silbergeschirr in der Anstalt stehlen.«

»Agatha,« sagte Miß Wilson ernst, »Sie sollten sich in acht nehmen, so etwas zu sagen.«

»Aber es ist so verdächtig. Seine Erklärung über den Schirm gab er nur, um mein Mißtrauen zu entkräftigen. An der Art, wie er ihn benutzte und sich auf ihn stützte, sah man, daß er viel vertrauter damit war als mit dem Spaten, um den er so besorgt tat. Und all seine Kleider sind neu.«

»Das ist wahr,« sagte Fairholme, »aber das hat nicht viel zu besagen. Arbeiter sind heutzutage die reinen Gentlemen. Doch ich will ihn im Auge behalten.«

»Oh, ich danke Ihnen sehr,« sagte Agatha.

Fairholme, der Verdacht schöpfte, daß sie sich über ihn lustig mache, runzelte die Stirne, und Miß Wilson warf der Spötterin einen strengen Blick zu. Es wurde jetzt wenig mehr gesprochen – nur ein paar Bemerkungen über die Dauer des Regens fielen, bis das Dach einer Droschke, eine alte Trauerkutsche, und drei triefende Hüte über der Hecke sichtbar wurden. Smilasch saß auf dem Bock neben dem Kutscher. Als der Wagen hielt, sprang er herab, ging ohne ein Wort zu sprechen wieder in das Haus und erschien mit dem Regenschirm. Er spannte ihn über Miß Wilsons Haupt auf und sagte:

»Nun, Eure Gnaden, wenn Sie mitkommen wollen, ich werde Sie trocken in den Wagen bringen, und Ihre geehrten Nichten werde ich eine nach der andern abliefern.«

»Ich komme zuletzt,« sagte Miß Wilson, verwirrt durch seine Annahme, die Gesellschaft sei eine Familie. »Gertrude, du gehst am besten vor.«

»Gestatten Sie mir,« sagte Fairholme, indem er vortrat und den Schirm zu nehmen versuchte.

»Danke sehr, ich will Sie nicht bemühen,« sagte sie sehr kühl und trippelte mit Smilasch, der mit großer Besorgtheit den Schirm über ihr hielt, durch das schlammige Feld. Auf dieselbe Art geleitete er auch die andern zu dem Fahrzeug, in das sie sich mit einiger Schwierigkeit zurechtsetzten. Agatha, die als vorletzte kam, gab ihm drei Pence.

»Sie haben ein nobles Herz und einen mutigen Blick, Miß,« sagte er und schien sehr bewegt. »Gott segne Sie!«

Er holte dann Jane, die auf dem schlüpfrigen Gras ausglitt und hinfiel. Er brauchte seine ganze Kraft, um ihr wieder aufzuhelfen.

»Ich hoffe, Sie sind nicht so naß geworden von dem Regen, Miß,« sagte er. »Sie sind ein feines Mädel für Ihr Alter. Hundertzwanzig bis hundertfünfzig Pfund schwer, glaube ich.«

Sie errötete und eilte nach der Droschke, in der Agatha saß. Aber sie war voll, und Jane mußte sehr gegen ihren Willen in die Kutsche, wo sie beträchtlich den Platz verminderte, der für Miß Wilson freigelassen war.

Smilasch kehrte inzwischen zu dieser zurück. »Nun, teure Lady,« sagte er, »nehmen Sie sich in acht, daß Sie nicht fallen. Kommen Sie mit.«

Miß Wilson, die die Einladung nicht beachtete, nahm einen Schilling aus ihrer Börse.

»Nein, Lady,« sagte Smilasch mit tugendhafter Miene. »Ich bin ein ehrlicher Mann und habe noch nie mit dem Gefängnis Bekanntschaft gemacht, außer viermal, wovon aber nur zweimal für Stehlen waren. Ihre jüngste Tochter – die mit dem mutigen Blick – hat mich mehr als anständig bezahlt.«

»Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß diese jungen Damen nicht meine Töchter sind,« sagte Miß Wilson scharf. »Warum hören Sie nicht auf das, was ich Ihnen sage?«

»Seien Sie nicht so streng gegen einen gewöhnlichen Mann, Lady,« sagte Smilasch unterwürfig. »Die junge Dame hat mir grade drei halbe Kronen gegeben.«

»Drei halbe Kronen!« rief Miß Wilson aus, sehr zornig über solch eine Verschwendung.

»Gott segne ihre Unschuld, sie weiß nicht, was man so einem Menschen wie mir geben muß! Aber ich will die junge Lady nicht bestehlen. Eine halbe Krone ist anständig genug bezahlt für den Gang, und eine halbe Krone will ich behalten, wenn es Eure vornehme Gnaden gestatten. Aber die andern fünf Schillinge will ich Ihnen für sie anvertrauen. Haben Sie auch schon einmal ihr mutiges Wesen bemerkt?«

»Unsinn, mein Herr. Behalten Sie lieber das Geld, das Sie bekommen haben.«

»Was! Für fünf Schilling soll ich die hohe Meinung, die Eure Gnaden von mir haben, aufs Spiel setzen! Nein, teure Lady, das können Sie nicht von mir erwarten. Die letzten Worte meines seligen Vaters waren –«

»Sie erzählten doch vorhin. Sie wären ein Findling,« sagte Fairholme. »Was soll man nun glauben, he?«

»Das war ich auch, Herr, aber nur von Mutters Seite. Eure Gnaden wollen bitte das Geld zurücknehmen, denn ich behalte es nicht. Ich gehöre mal zur niederen Klasse und bin daher kein Mann von Wort. Aber wenn ich schon einmal daran festhalte, halte ich auch wie Pech daran fest.«

»Nehmen Sie es,« sagte Fairholme zu Miß Wilson. »Nehmen Sie es ruhig. Es war lächerlich, ihm für das, was er getan hatte, sieben und einen halben Schilling zu geben. Es würde ihn nur zum Trinken verleiten.«

»Seine Ehrwürden sagen die Wahrheit, Lady. Die eine halbe Krone hält mich vollständig betrunken bis Sonntag morgen, und mehr will ich gar nicht.«

»Zähmen Sie ein bißchen Ihre Zunge, mein Mann,« sagte Fairholme, indem er ihm die beiden Silberstücke abnahm und sie Miß Wilson gab. Diese bot den Geistlichen guten Abend und ging unter dem Schirm zur Kutsche.

»Wenn Eure Gnaden einen gewandten Mann brauchen, um eine außergewöhnliche Arbeit zu besorgen, dann werben Sie hoffentlich an mich denken,« sagte Smilasch, als sie den Hügel hinabgingen.

»Oh, Sie wissen, wer ich bin?« fragte Miß Wilson trocken.

»Die ganze Gegend weiß es, Miß, und verehrt Sie. Als Schmied kommt mir keiner gleich, und wenn Sie eine geschlagene Medaille brauchen, um sie für gutes Betragen oder dergleichen zu vergeben, ich glaube, ich würde Sie schon zufriedenstellen. Und wenn Eure Gnaden geschmuggelte Spitzen brauchen –«

»Nehmen Sie sich lieber etwas in acht, damit Sie nicht in Ungelegenheiten kommen,« sagte Miß Wilson streng. »Sagen Sie dem Kutscher, er sollte abfahren.«

Die Wagen setzten sich in Bewegung, und Smilasch nahm sich die Freiheit, seinen Hut hinter ihnen her zu schwenken. Dann kehrte er zu dem Landhaus zurück, brachte den Schirm hinein und schloß die Türe, als er wieder herausgekommen war. Er steckte den Schlüssel in die Tasche und schritt durch den Regen über den Hügel davon, ohne von den erstaunten Geistlichen auch die mindeste Notiz zu nehmen.

Inzwischen konnte sich Miß Wilson nicht enthalten, ihrem Unwillen über Agathas Verschwendung Luft zu machen, und sie erzählte es den Mädchen in der Kutsche. Aber Jane erklärte, daß Agatha überhaupt nur drei Pence besäße, und daß sie daher unmöglich dem Mann dreißigmal soviel hätte geben können. Als sie zu Hause waren und Agatha von Miß Wilson befragt wurde, öffnete sie erstaunt die Augen und erklärte lachend: »Ich hab ihm nur drei Pence gegeben. Er hat mir vier Schilling und neun Pence als Geschenk geschickt!«


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