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Zwölftes Kapitel

Am folgenden Donnerstag trafen sich Gertrude, Agatha und Jane zum erstenmal wieder, seit sie die Schule zu Alton verlassen hatten. Agatha war am meisten zurückhaltend von den dreien und hatte sich äußerlich am wenigsten verändert. Sie glaubte, sie sei sehr verschieden von der Agatha aus Alton, aber sie hatte nur ihre Ansicht über sich verändert, ihr Wesen war dasselbe geblieben. Sie hatte bei ihren Freundinnen eine ähnliche Veränderung erwartet und zweifelte sehr daran, daß ihr Zusammentreffen ein fröhliches sein werde.

Sie fürchtete das mehr wegen Gertrude als wegen Jane, denn Lady Brandon war, wie sie schon bei der kurzen Unterhaltung in London gefunden hatte, im Benehmen, Denken und Sprechen dieselbe geblieben, die sie als Miß Carpenter gewesen war. Aber Jane flößte selbst Agatha jetzt mehr Respekt ein als früher, denn sie hatte sich aus einem übergroßen Mädchen in eine schöne Frau verwandelt und machte in ihrer ersten Saison eine brillante Partie, während viele ihrer hübschen, stolzen und klugen Altersgenossinnen, die sie auf der Schule beneidet hatte, noch unverheiratet waren und zu Hause ein ungemütliches Heim hatten, weil ihre Eltern die Last ihres Unterhalts los werden und durch ihre Verheiratung ihren Geldbeutel oder ihre Stellung verbessern wollten.

Dies war auch bei Gertrude der Fall. Wie Agatha hatte sie alle Heiratsanträge abgewiesen. Sie war stolz auf ihre Familie und ihre Vornehmheit und wollte so wenig wie möglich mit Leuten zu tun haben, die ihr darin nachstanden. Zuerst schlug sie die Bekanntschaft mit verschiedenen sehr reichen und vornehm lebenden Familien ab, weil sie ihre Vorfahren nicht kannten oder sich ihrer schämten. Nachdem sie sich aus diesem Kreise ausgeschlossen hatte, wurde sie bei Hofe vorgestellt und nahm von da ab nur noch Einladungen von solchen Leuten an, die nach ihrer Meinung das Recht zu der gleichen Ehre hatten. Und sie nahm es in diesem Punkte viel genauer als Lord Chamberlain, der, wie sie sagte, seinen Rang geschändet hatte, indem er tatsächlich der reine Kommunist geworden sei. Sie war gut erzogen, hatte feine Sitten und Manieren und kannte die Vorschriften der Etikette so genau, daß sie damit jeden Neuling in Verlegenheit setzte. Sie war zart gebaut, hatte feine Zähne und ein Gesicht von fast griechischem Schnitt, wäre nicht die leicht aufgestülpte Nase und das etwas zu stark ausgeprägte Kinn gewesen. Ihr Vater war ein pensionierter Admiral. Er hatte genügend Einfluß, um seinem Sohne, der nach der Verbindung mit einer reichen Erbin strebte, durch die konservative Regierung eine Sinekure zu verschaffen. Aber Gertrude blieb ledig, und der Admiral, der früher über seine Mittel hinaus für ihre Erziehung gesorgt hatte und noch jetzt in derselben Weise ihren Aufwand bestritt, beklagte sich so bitter über ihre Mißerfolge und über die Last, die sie ihm machte, daß ihr das häusliche Leben fast unerträglich wurde. Sie kam schließlich so weit, daß sie jeden Gentleman aus guter Familie, wie unpassend auch sonst sein Alter und sein Charakter war, genommen hätte, nur damit er sie aus der demütigenden Abhängigkeit befreite. Sie war bereit, auf alles, wonach sich ihre Natur bei einem Manne sehnte, auf Jugend, Schönheit und Tüchtigkeit zu verzichten, wenn sie nicht anders von ihren Eltern loskommen konnte. Nur in einem stand ihr Entschluß fest: sie wollte lieber als alte Jungfer sterben, als einen Emporkömmling heiraten.

Ihre Pläne scheiterten an der Geldfrage. Der Admiral war arm. Er hatte kaum sechstausend Pfund Einnahmen im Jahr, und obgleich er mit der äußersten Genauigkeit wirtschaftete, um einen möglichst großen Aufwand damit zu treiben, konnte er doch seiner Tochter keine Mitgift geben. Nun hatten die vornehmen jungen Leute aus ihrem Kreise alle mehr blaues Blut und weniger Reichtum, als sie brauchten. Sie bewunderten Gertrude, machten ihr Komplimente, tanzten mit ihr, aber keiner konnte es sich gestatten, sie zu heiraten. Einige von ihnen sagten ihr das auch gradezu. Sie heirateten die reichen Töchter von Teehändlern, Eisengießern oder erfolgreichen Börsenmaklern und versuchten dann zwischen ihr und ihren niedrig geborenen Schwägern eine Verbindung anzuknüpfen.

So war also Gertrude, als sie Lady Brandon traf, heimlich in keiner beneidenswerten Lage, und sie nahm gerne die Einladung nach Brandon Beeches an, schon um dem täglichen Gespötte des Admirals über die Heiratsliste in der ›Times‹ zu entgehen. Sie konnte das um so eher tun, weil Sir Charles kein neugebackener Adliger war, und Jane gegenüber hatte sie ja schon auf der Schule – die ihr jetzt als die glücklichste Zeit ihres Lebens erschien – anerkannt, daß ihre Familie und ihr Bekanntenkreis neben ihrem eigenen der vornehmste in Alton war. Agatha, deren Großvater sich als Besitzer von Gaswerken seinen Reichtum erworben hatte, hatte sie niemals ihre Freundschaft angeboten. Agatha hatte sich diese teils durch moralische, teils durch physische Gewalt einfach erzwungen. Aber die Gaswerke wurden doch niemals vergessen, und als Lady Brandon als eine köstliche Neuigkeit erwähnte, sie habe ihre alte Schulfreundin wieder gefunden und sie eingeladen, auch herüberzukommen, da war Gertrude durchaus nicht angenehm berührt. Andererseits war sie, als sie zusammentrafen, die einzige, deren Augen feucht wurden, denn sie war die am wenigsten Glückliche von den dreien, und ihr Stolz war, ohne daß sie es wußte, etwas gebrochen. Sie glaubte, Agatha habe ihre Mädchenhaftigkeit verloren, sie sei aber dafür mutiger, energischer und gewandter geworden. In Wirklichkeit mußte Agatha ihre ganze Selbstbeherrschung zusammennehmen, um ihre Schüchternheit zu verbergen. Sie entdeckte auch Gertrudes Bewegung, denn diese versuchte im letzten Augenblick nicht mehr, sie zu verbergen. Sie hätte sie sogar frei in Worten ausgedrückt, wenn ihre gesellschaftliche Erziehung sie nicht nur gelehrt hätte, ihre Gefühle zu verhehlen, sondern auch, ihnen Worte zu geben.

»Denkt ihr noch an Miß Wilson?« fragte Jane, als die drei von der Eisenbahnstation nach Brandon Beeches fuhren. »Denkt ihr noch an Mrs. Miller und ihren Kater? Denkt ihr noch an das Sündenbuch? Wißt ihr noch, wie ich in den Kanal fiel?«

Diese Erinnerungen gaben ihnen Gesprächsstoff, bis sie das Haus erreichten und auf Agathas Zimmer gingen. Jetzt hatte Jane etwas im Haushalt zu besorgen und mußte sie verlassen. Sie tat das ungern, denn sie war eifersüchtig auf Gertrude und wollte nicht, daß sie ihr bei der Gewinnung von Agathas Zuneigung zuvorkommen sollte. Sie versuchte sogar, ihre Nebenbuhlerin mit sich zu nehmen. Aber es war vergebens, Gertrude wollte sich nicht rühren.

»Was ist das ein schönes Haus und ein prächtiger Platz hier!« sagte Agatha, als Jane gegangen war. »Und was für ein reizender Mensch Sir Charles ist! Wir haben immer über Jane gelacht, aber jetzt kann sie noch über die glücklichste von uns lachen. Ich habe immer gesagt, sie würde stets blindlings ins Glück hineintappen. Ist es wirklich wahr, daß sie sich in ihrer ersten Saison verheiratet hat?«

»Ja. Und Sir Charles ist ein Mann von hoher Bildung. Ich kann das nicht verstehen. Ihr Umfang geht über alles, und ihre Manieren sind schlecht.«

»Ja!« sagte Agatha mit einem pfiffigen Gesicht. »Jane hatte immer etwas an sich, was die Männer anzog. Und sie ist mehr schelmisch als närrisch. Aber sie ist gewiß ein großer Esel.«

Gertrude warf ihr einen ernsten Blick zu, um anzudeuten, daß sie jetzt aus der Gewohnheit heraus sei, auf eine solche Sprache zu hören. Agatha wurde dadurch gereizt und fuhr fort:

»Hier sind wir beide und halten uns für doppelt so ansehnlich und umgänglich, als sie ist, aber wir sind alte Jungfern.« Gertrude fuhr zurück, und Agatha setzte schnell hinzu: »Und dabei bist du doch zum Beispiel so außerordentlich hübsch! Sie hat uns übrigens ausdrücklich eingeladen, um uns zu verheiraten.«

»Sie würde doch nicht etwa wagen –«

»Unsinn, liebe Gertrude. Sie glaubt, wir seien ein paar Narren, die ihre eigenen Angelegenheiten verpfuscht haben, und da sie selbst es so gut gemacht hat, hält sie es für eine Kleinigkeit, uns zu helfen. Hat sie dir etwa nicht gesagt, bevor ich ankam, es sei Zeit für mich, daß ich mich verheiratete?«

»Nun ja. Aber –«

»Genau dasselbe hat sie mir über dich gesagt, als sie mich einlud.«

»Ich würde sofort dieses Haus verlassen,« sagte Gertrude, »wenn ich dächte, sie wollte sich in meine Angelegenheiten hineinmischen. Was geht das sie an, ob ich verheiratet bin oder nicht?«

»Wo hast du denn all diese Jahre gelebt, wenn du nicht weißt, daß eine Frau, sobald sie eine gute Partie gemacht, nichts Eiligeres zu tun hat, als nun auch ihre ledigen Freundinnen unter die Haube zu bringen. Jane meint es gar nicht böse. Sie tut es aus lauter Herzensgüte.«

»Ich brauche Janes Herzensgüte nicht.«

»Ich auch nicht. Aber es schadet doch nichts, und sie soll sich ruhig damit amüsieren, ihre männlichen Bekannten zu meiner Auswahl vorzuführen. Still! Da kommt sie.«

Gertrude schwieg. Sie konnte sich nicht mit Lady Brandon zanken, ohne das Haus zu verlassen, und wenn sie das Haus verließ, dann mußte sie zu ihren Eltern zurückkehren. Aber im stillen beschloß sie, Erskine bei seinen Aufmerksamkeiten zu entmutigen, denn sie vermutete, daß er gar nicht in sie verliebt war, wie er behauptete, sondern sie einfach auf eine Empfehlung von Jane hin heiraten wollte.

Chichester Erskine hatte mit Sir Charles zusammen in Palästina Skizzen gemalt und war mit ihm durch manche europäische Gemäldegalerie gewandert. Er war ein junger Mann von adliger Abkunft und hatte von seiner Mutter eine Rente von fünfhundert Pfund geerbt, während das Hauptvermögen der Familie an seinen älteren Bruder gefallen war. Da er keinen Beruf hatte und Bücher und Gemälde liebte, hatte er sich den schönen Künsten gewidmet, was die billigste Art war, um sich selbst eine hohe Meinung von der Feinheit und den Fähigkeiten seiner eigenen Natur beizubringen. Er hatte ein Drama veröffentlicht mit dem Titel: ›Die patriotischen Märtyrer‹ mit einem radierten Titelblatt von Sir Charles. Eine Auflage war schnell durch die Dedikationsexemplare an die Freunde des Künstlers und Dichters und an die Zeitschriften und Zeitungen abgesetzt worden. Sir Charles hatte dann einen hervorragenden Tragöden, den er kannte, gebeten, das Werk auf die Bühne zu bringen und einen von den patriotischen Märtyrern zu spielen. Aber der Tragöde wandte ein, die Rollen der andern patriotischen Märtyrer seien ja grade so bedeutend wie seine eigene. Erskine weigerte sich entrüstet, diese Teile zu kürzen oder fallen zu lassen, und so wurde aus der Aufführung nichts.

Seitdem trug sich Erskine mit dem Gedanken, ein zweites Drama zu schreiben, ohne sich um die Forderungen der Bühne zu kümmern. Aber er hatte es noch nicht begonnen, denn seine Stimmung kam ihm stets zu ungelegener Zeit, meist spät in der Nacht, wenn er getrunken hatte und nur Lust empfand, Sonette zu schreiben. Die Morgenluft und des Radfahren waren verhängnisvoll für die Art von Poesie, die ihm als die einzige wertvolle erschien. Indessen war trotz des Radfahrens das Drama, das den Titel ›Hypatia‹ trug, auf dem besten Wege, wirklich geschrieben zu werden, denn der Dichter hatte Gertrude Lindsay kennen gelernt und sich in sie verliebt. Ihre fast griechischen Gesichtszüge und etwas Kenntnis von der Differentialrechnung, die sie in Alton erworben hatte, verhalfen ihm zu dem Glauben, sie sei ein passendes Modell für seine Heldin.

Als die Damen herunterkamen, fanden sie ihren Wirt und Erskine in der Gemäldegalerie, die in der Umgegend berühmt war, weil sie Sir Charles eine große Summe gekostet hatte. Es gab neue Radierungen zu bewundern, und der Baronet bat sie, das, was er den Ton des Bildes nannte, zu beachten – Agatha würde es den Grad der Schmiererei genannt haben. Sir Charles ließ seine Augen oft von seinem Kunstwerk abschweifen. Zweimal sah er auf seine Uhr und sagte endlich:

»Ich habe den Leuten gesagt, sie sollten pünktlich mit dem Essen sein.«

»O ja. Es ist schon gut,« sagte Lady Brandon. Sie hatte Befehl gegeben, das Essen vor der Ankunft eines weiteren Gastes nicht zu servieren. »Zeige Agatha das Bild des Mannes in –«

»Mr. Trefusis,« meldete ein Mädchen.

Mr. Trefusis trat herein, noch immer in gelbbraunem Anzug. Der Rock war nicht zugeknöpft. Er ging in ungezwungener Gleichgültigkeit und schien bei keiner Gelegenheit irgendwelche Rücksicht auf gesellschaftliche Formen für nötig zu halten.

»Da sind Sie ja endlich,« sagte Lady Brandon. »Sie kennen doch alle hier?«

»Wie geht es Ihnen?« fragte Sir Charles und bot ihm mit der ernsten Miene eines Mannes, der eine Pflicht gegen den Gast seiner Frau erfüllt, die Hand. Er schüttelte sie herzlich, nickte Erskine zu und sah ohne eine Miene des Erkennens Gertrude an, deren frostiges Schweigen sich gegen die Annahme der Lady Brandon zu verwahren schien, als ob der Fremde mit ihr bekannt sei. Dann wandte er sich zu Agatha und verneigte sich vor ihr. Sie gab ihm keine Antwort, sie war wie erstarrt. Lady Brandon errötete vor Ärger. Sir Charles bemerkte den Empfang seines Gastes mit innerer Genugtuung, aber er teilte doch auch die Verlegenheit, die alle mit Ausnahme von Trefusis ergriffen hatte. Dieser schien ganz gleichgültig und zufrieden zu sein und brachte unbewußt den Eindruck hervor, die andern hätten sich nicht richtig benommen, was ja auch tatsächlich der Fall war.

»Wir sahen uns grade ein paar Radierungen an, als Sie hereinkamen,« sagte Sir Charles und beeilte sich, das Stillschweigen zu brechen. »Machen Sie sich etwas aus solchen Dingen?« Und er händigte ihm einen Abzug ein.

Trefusis warf einen Blick darauf, als ob er noch nie in seinem Leben so etwas gesehen habe und nicht wüßte, was er damit anfangen sollte. »Alle diese Kritzeleien scheinen mir keinen Sinn zu haben,« sagte er unsicher.

Sir Charles warf Erskine ein geringschätziges Lächeln und einen bezeichnenden Blick zu. Dieser, der schon eine instinktive Abneigung gegen Trefusis fühlte, sagte ausdrucksvoll:

»Da ist keine von diesen Kritzeleien, die nicht einen Sinn hat.«

»Das zum Beispiel, das aussieht wie das Bein einer Mücke – was bedeutet es?«

Erskine zauderte einen Augenblick. Dann faßte er sich und sagte: »Es stellt unverkennbar – wenigstens für mich – die Zeichnung eines Fahrweges vor.«

»Keine Spur davon,« sagte Trefusis. »Nie hat es auf einem Fahrwege solch einen Einschnitt gegeben. Es scheint ein sehr schlecht geratener Brombeerstrauch zu sein, aber Brombeersträuche wachsen nicht mitten auf dem Wege, besonders auf so belebten, wie der nach den ausgefahrenen Geleisen zu sein scheint.« Er legte die Radierung fort und schien keine Lust mehr zu haben, noch einmal in die Mappe hineinzusehen. Dann sagte er: »Die einzige Kunst, die mich interessiert, ist das Photographieren.«

Erskine und Sir Charles wechselten wieder Blicke, und Erskine sagte:

»Photographieren ist nach meiner Ansicht keine Kunst, es ist ein Verfahren.«

»Und ein viel angenehmeres und vollkommeneres Verfahren als dieses,« sagte Trefusis und wies auf die Radierungen. »Die Künstler kleben nur deshalb an dem alten, barbarischen, schwierigen und unvollkommenen Verfahren des Radierens oder Porträtmalens, um den Monopolwert der dazu erforderlichen Geschicklichkeit hochzuhalten. Die neue, viel kompliziertere und vollkommenere und doch so einfache und schöne Methode des Photographierens haben sie Geschäftsleuten überlassen. Sie rümpfen öffentlich die Nase darüber und nehmen heimlich ihre Zuflucht zu ihr. Schließlich werden die Photographen bessere Künstler als sie selbst, und das ist auch ganz natürlich. Denn wo wie beim Photographieren das Zeichnen nichts ist, da ist das Denken und Urteilen alles. Und wo wie beim Radieren und Klecksen eine große Handfertigkeit dazu gehört, um etwas für das Auge Gefälliges hervorzubringen, da gilt die Ausführung mehr als das Denken, und wenn ein Bursche, dessen Anlagen vielleicht dazu ausreichen, Steine beim Bau hinaufzutragen, nur so viel Ehrgeiz und Ausdauer besitzt, seine Hand auszubilden und sich vorzudrängen, so können Sie ihn nicht mehr auf seinen gehörigen Platz zurückweisen, weil gut ausgebildete Hände so selten sind. Sehen Sie sich die Verhältnisse in der Literatur an. Unsere Bücher sind rein technisch die Arbeit von Druckern und Papiermachern. Sie können einem Schriftsteller die Hände abschneiden, und er ist so gut ein Schriftsteller wie vorher. Was ist die Folge? In einer einzigen Nummer einer Groschenzeitschrift steckt mehr Phantasie, als in einem halben Dutzend Akademiesälen während einer ganzen Saison. Kein Schriftsteller kann gleichzeitig von seiner Arbeit leben und so beschränkt sein, wie es im Durchschnitt ein erfolgreicher Maler ist. Andererseits betrachten Sie die Hilfsmittel der Musik – das Klavier zum Beispiel. Niemand außer einem Akrobaten wird freiwillig Jahre auf eine so schwierige mechanische Aufgabe, wie die Beherrschung der Klaviatur verwenden, und so genießen wir Beethovens Sonate durch die Aufführungen von Akrobaten, die einander in der Schnelligkeit ihrer Prestos oder in der Ausdauer ihres linken Handgelenks zu übertreffen suchen. Menschen mit Ideen werden nicht ihr Leben damit verbringen, Taschenspielerkunststücke zu lernen. Erfinden Sie ein Klavier, das so feinfühlend dem Drehen eines Handgriffs gehorcht, wie unsere jetzigen dem Druck der Finger, und die Akrobaten werden wieder zu ihren Teppichen und Trapezen zurückkehren müssen, denn die einzige Veranlagung, die der vortragende Musiker braucht, wird die musikalische Veranlagung sein, durch nichts anderes kann er sich Gehör verschaffen.«

Die Gesellschaft war etwas verwirrt durch diese unerwartete Belehrung. Sir Charles fühlte, daß solche Ansichten sich gegen sein innerstes Wesen wandten, daß sie das Ideale zerstörten und sich an niedrige Instinkte wandten. Er wollte schon eine verdrießliche Antwort geben, als ihm Erskine zuvorkam und Trefusis fragte, welche Ansicht er über die zukünftige Entwicklung der Kunst habe. Er erwiderte sofort:

»Photographie, vervollkommnet durch die neue Erfindung, die Farben ebenso wiederzugeben wie die Umrisse. Die Historienmalerei wird durch Photographien von lebenden Bildern verdrängt, die von tüchtigen Schauspielern und Künstlern entworfen und ausgeführt werden und hauptsächlich zur Belehrung von Kindern dienen. Neun Zehntel unserer heutigen Malerei wird durch den Wettbewerb solcher Photographien verschwinden, und das andere Zehntel hält sich gegen sie nur durch außerordentlich hervorragende Leistungen! Unsere mißtönigen und schwer zu spielenden Orgeln und Klaviere werden durch harmonische Instrumente ersetzt, die man so leicht handhaben kann wie Drehorgeln! Dichtungen werden verdrängt durch interessante Gesellschaft und Unterhaltung. Die Menschen werden aus der Kinderei herauswachsen, mit der sie sich an Geschichten ergötzten, die ihnen groß gewordene Kinder wie Romandichter und dergleichen erzählten! Man wird der verrückten Konfusion ein Ende machen, die sich hinter dem Gesamtnamen Kunst verbirgt, und die Narretei und Täuschung unserer Theateraufführungen wird man beseitigen, um dem Menschen eine höhere Kenntnis seines eigenen Wesens zu geben! Jeder Künstler ein Amateur, und dementsprechend Rückkehr zu der alten, gesunden Ansicht, daß jeder, der mit der Kunst sein Brot verdienen will, als ein Vagabund betrachtet wird und aus der Reihe der anständigen Menschen verjagt wird!«

»Worauf die Künstler verhungern und wir keine Kunst mehr haben.«

»Mein Herr,« sagte Trefusis, den dieses Wort erregt hatte, »ich als Sozialist kann Ihnen erzählen, daß heute das Verhungern unmöglich ist, wenn nicht, wie in England, freie Männer mit Gewalt verhindert werden, ihre nötige Nahrung zu produzieren. Und Sie als Künstler können mir erzählen, daß heute alle großen Künstler verhungern müssen, wenn sie nicht durch Mildtätigkeit, eigenes Vermögen oder durch mühsame Lohnarbeit, die sie von ihrem eigentlichen Beruf abbringt, am Leben gehalten werden.«

»Oh,« sagte Erskine. »Dann haben schließlich die Sozialisten sehr wenig Sympathie mit den Künstlern.«

»Ich fürchte,« sagte Trefusis und nahm sich zusammen, sodaß er wieder ruhig sprach, »wenn ein Sozialist hört, daß man für eine Zeichnung, die Andrea del Sarto gerne für einen Schilling verkaufte, hundert Pfund bezahlt, dann quält er sein Herz nicht mit Mitleid für den angeblichen Verlust der Künstler, wie das die modernen Kapitalisten tun. Und doch ist das heutzutage der einzige Weg, um Sympathie für die alten Meister zu zeigen. Das ist das Schlimme an der Sache, wenn Sie Ihre Zeichnungen verkaufen wollen, dann haben sie noch nicht diesen Marktwert. »Aber,« fügte er, sich schüttelnd, hinzu und sah sich fröhlich um, »ich bin nicht hierher gekommen, um Fachgespräche zu führen. Wir wollen nicht an die Sintflut denken und uns auf unsere Art weiter vergnügen.«

»Nein,« sagte Jane. »Reden Sie nur über Kunst. Es ist eine solche Erlösung, wenn man jemand vernünftig darüber sprechen hört. Ich hasse das Radieren. Man bekommt schlechte Augen davon – wenigstens hat die Säure Sir Charles' Augen angegriffen, und der Unterschied zwischen dem ersten und zweiten Abzug besteht nur in der Einbildung, höchstens, daß der letzte Abzug schlechter ist als der – da ist das Essen!«

Sie gingen dann hinab. Trefusis saß zwischen Agatha und Lady Brandon, mit der er sich ausschließlich unterhielt. Sie plauderten zusammen, ohne daß sie sich viel durch das Geschäft des Essens stören ließen. Denn Jane hatte trotz ihres Umfangs nur einen geringen Appetit und fürchtete sich, zu fett zu werden, und Trefusis war grundsätzlich mäßig. Sir Charles zeigte sich ungewöhnlich schweigsam. Er fürchtete sich, über Kunst zu reden, damit ihm nicht Trefusis widersprechen sollte, der, wie er schon fühlte, sich weniger daraus machte, aber mehr davon verstand als er selbst. Nachdem er Agatha zuerst ein paar Bemerkungen über die Schönheit des erwachenden Frühlings gesagt und sie dann gefragt hatte, ob sie von der Reise ermüdet sei, hatte er auch alles gesagt, was ihm bei einem solchen ersten Zusammentreffen einfallen konnte. Sie selbst richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf Trefusis, der nach ihrer Meinung doch wissen mußte, daß ihm alle mit Ausnahme von Jane feindlich gesinnt waren. Aber er schien ebenso selbstzufrieden zu sein wie damals, als er sie zum Narren gehalten hatte. Dieser Gedanke stumpfte ihren Zorn ab. Sie zweifelte nicht an ihrer aufrichtigen Antipathie gegen ihn, obgleich sich heimlich in ihr ein Widerspruch regte, als sie sich einredete, sie sei unzufrieden, ihn wieder zu treffen und sie wolle nicht mit ihm sprechen. Gertrude gab inzwischen Erskine kurze Antworten und lauschte auf Trefusis. Sie hatte aus dem häuslichen Gezänke der letzten Tage so viel entnommen, daß Lady Brandon gegen den Willen ihres Mannes einen berüchtigten Demagogen, den reichen Sohn eines erfolgreichen Baumwollspinners, zu einem Besuch auf Beeches eingeladen hatte. Sie war entschlossen, solch einen Mann von oben herab zu behandeln. Als sie aber den längst vergessenen Smilasch wiedererkannte, war sie so erstaunt, daß sie nicht wußte, was sie tun sollte. So verharrte sie in steifem Schweigen, und um nichts Unpassendes zu tun, tat sie gar nichts, wie das die Gewohnheit der englischen Damen in solchen Fällen ist. Nach und nach hatte dann sein unbefangenes Selbstbewußtsein sie ebenso gefesselt wie die andern, und ihre Absicht, ihn verächtlich zu behandeln, verschwand, wie so viele Vorsätze, die man nicht ausführt. Erskine blieb allein frei von dem Einfluß des Eindringlings. Er wünschte sich selbst an einen andern Ort, aber abgesehen von Gertrude störte ihn die Gegenwart oder Abwesenheit irgendeines Menschen sehr wenig.

»Wie geht es den Jansenius'?« fragte Trefusis plötzlich und wandte sich an Agatha.

»Danke, es geht ihnen sehr gut,« sagte sie in gemessenem Tone.

»Ich traf kürzlich John Jansenius in der Stadt. Sie kennen Jansenius?« fügte er zu Sir Charles gewendet bei. »Cotmans Bank – der letzte Cotman, der in der Firma war, starb, bevor wir geboren wurden. Der Präsident der Transkanadischen Eisenbahngesellschaft.«

»Ich kenne den Namen. Ich bin selten in der City.«

»Natürlich,« stimmte Trefusis bei. »Denn wer wollte sich wohl selbst damit quälen und sich, ohne dazu gezwungen zu sein, unter eine solche Sklavenmenge begeben? Ich meine natürlich Sklaven des Mammon. In Cornhill an ihren Gesichtern vorbei Spießruten zu laufen, das kann einen feinfühlenden Mann auf Stunden zur Verzweiflung bringen. Nun, Jansenius, der eine hohe Stellung am Hofe Mammons einnimmt, sieht sich dort nach einem guten Posten für seinen Sohn um. Jansenius ist übrigens der Vormund von Miß Wylie und der Vater meiner verstorbenen Frau.«

Agatha hätte dem am liebsten widersprochen, da es aber wahr war, mußte sie es ruhig anhören. Sie wollte aber zeigen, daß die Beziehungen zwischen ihrer Familie und Trefusis keine herzlichen seien, und fragte absichtlich: »Hat Mr. Jansenius mit Ihnen gesprochen?«

Gertrude blickte auf, als sei das eine unpassende Bemerkung für eine Dame.

»Ja,« sagte Trefusis. »Wir sind die besten Freunde in der Welt – wenigstens so weit das möglich ist. Er wollte meine Unterschrift zu einem Fonds haben, der den Armen aus Eastend dadurch hilft, daß er ihnen die Auswanderung möglich macht.«

»Ich nehme an, Sie haben reichlich gezeichnet,« sagte Erskine. »Das war doch eine Gelegenheit, auch praktisch etwas Gutes zu tun.«

»Ich hab es nicht getan,« sagte Trefusis und lächelte über den Spott. »Diese Transkanadische Eisenbahngesellschaft hat von der kanadischen Regierung eine große Menge mageres Land umsonst erhalten. Sie hält es nun für eine gute Idee, englische Arbeiter dort anzusiedeln und eine Rente von ihnen zu beziehen. Viele englische Arbeiter, die durch Maschinen, billige fremde Arbeit oder durch sonst etwas brotlos geworden waren, wollten gerne gehen. Da sie aber die Überfahrt nach Kanada nicht bezahlen konnten, wandte sich die Gesellschaft an die öffentliche Mildtätigkeit, durch Unterzeichnung für sie zu bezahlen, da der Wechsel ihre elende Lage verbessern werde. Ich sah aber nicht ein, warum ich Geld ausgeben sollte, um eine reiche Gesellschaft mit Farmern zu versehen, und ich sagte das auch Jansenius. Er entgegnete, wenn es auf Geld und nicht auf Redensarten ankäme, dann würden die englischen Arbeiter bald einsehen, wer ihre wirklichen Freunde seien.«

»Ich verstehe nichts von solchen Fragen,« sagte Sir Charles und machte ein Gesicht, als ob er etwas Überzeugendes vorbrächte. »Aber ich sehe nicht ein, was man gegen die Auswanderung vorbringen könnte.«

»Die Idee der Auswanderung,« entgegnete Trefusis, »ist wirklich eine für uns gefährliche. Machen Sie den Arbeiter erst damit vertraut, dann wird er eines Tages einsehen, was für eine famose Sache das ist, wenn er mich und Sie und das Oberhaus mit der ganzen Sippe müßiger Besitzer nach St. Helena verschickt und uns als Entschädigung ein reizendes Geschenk mit der Insel macht. Wir sind solch ein ruheloses, unglückliches Geschlecht, daß ich nicht weiß, ob das Ganze nicht auch für uns gut sein werde. Die Arbeiter würden nichts verlieren außer dem Anblick unserer eleganten Person, unserer feinen Manieren und unseres delikaten Geschmacks. Vielleicht schützen sie sich gegen diesen Verlust, indem sie ein paar von uns herauswählen und als Zierrat benutzen. Keine Nation, die Sinn für Schönheit hat, würde Lady Brandon oder Miß Lindsay oder Miß Wylie verjagen.«

»Solch ein Unsinn!« sagte Jane.

»Sie werden es kaum glauben, wieviel Geld ich schon ausgegeben habe, um Arbeiter ins Ausland zu senden, trotzdem das ja nach meiner Ansicht nicht im Interesse des Landes liegt,« fuhr Trefusis, zu Erskine gewandt, fort. »Sobald ich einen Arbeiter bekehrt habe, benutzt er die erstbeste Gelegenheit, um irgendwo in einer Rede seine neuen Ansichten darzulegen. Sein Brotherr entläßt ihn dann, er gibt ihm den Laufpaß, wie man sagt. Die Entlassung ist das Schwert des Kapitalisten, und der Hunger hält es stets scharf für ihn. Sein Schild ist das Gesetz, das durch seine eigene Klasse ausdrücklich zu dem Zwecke gemacht ist. So gewappnet, ruiniert er meinen armen Bekehrten, und dieser kommt in seinem Elend zu mir und bittet um meine Hilfe. Da ich ihm für sein ganzes Leben keine Rente bezahlen kann, schaffe ich ihn mir vom Halse, indem ich ihm helfe, auszuwandern. Manchmal geht es ihm gut, und er bezahlt mir das Geld zurück. Mitunter höre ich auch nichts mehr von ihm, oder er kommt, wie er vorher gewesen war, wieder zurück. Ein Mann, den ich nach Amerika sandte, erwarb sich ein Vermögen, aber er war kein Sozialdemokrat. Er war ein Handlungsgehilfe, der eine Unterschlagung gemacht hatte und sich an mich um eine Unterstützung wandte, weil er glaubte, ich halte es für eine sehr verdienstliche Sache, einem Kapitalisten die Kasse zu bestehlen.«

»Er war jedenfalls ein praktischer Sozialist,« sagte Erskine.

»Im Gegenteil, er war ein etwas zu habgieriger Individualist. Aber wie es auch sei, ich ermöglichte es ihm, seine Unterschlagung wieder gut zu machen – in der City kann man jede Unterschlagung wieder gut machen, wenn man das Geld zurückzahlt – und nach Neuyork zu gehen. Aber er wußte es besser als ich, denn er erwarb sich ein Vermögen, indem er mit Geld spekulierte, das nur in der Einbildung derer existierte, mit denen er Geschäfte machte. Er hat mir nie etwas zurückbezahlt. Er ist offenbar ein viel zu guter Geschäftsmann, um Geld zurückzuzahlen, das man ihm nicht durch gesetzliche Mittel oder Abschneidung des Kredits abnehmen kann. Mr. Erskine,« fügte Trefusis, zu dem Dichter gewandt, mit ruhiger Stimme hinzu, »es ist unrecht, daß Sie gegen Ihre eigene Natur die Partei von Halunken und Glücksjägern nehmen, selbst wenn diese von einem Mann angegriffen werden, der das Photographieren dem Radieren vorzieht.«

»Aber ich versichere Ihnen – Sie mißverstehen mich wirklich,« sagte Erskine verwirrt. »Ich –« Er stockte, blickte Sir Charles um Hilfe an und sagte dann lebhaft: »Ich zweifle nicht, daß Sie völlig recht haben. Ich hasse Geschäfte und Geschäftsmenschen, und was die sozialen Fragen angeht, so habe ich da nur einen Glaubensartikel, daß das einzige Schöne im Menschenleben die schöne Kunst ist.«

»Und ich glaube, daß das einzige Schöne in der Kunst das Menschenleben ist. Die Kunst wächst, wenn die Menschen wachsen, und sie verkommt, wenn die Menschen verkommen. Was ist Ihre Meinung?«

»Ich stimme in mancher Beziehung mit Ihnen überein,« entgegnete Sir Charles nervös, denn ein Mangel an Interesse für seine Mitmenschen und ein Übermaß von Interesse für sich selbst waren die Ursache, daß er nichts von sozialen Dingen verstand. Da er aber glaubte, ein Baronet müßte das eigentlich auch wissen, fürchtete er sich natürlich, irgend jemand zu widersprechen, der in zuversichtlicher Weise davon anfing. »Wenn Sie an Kunstsachen Interesse haben, kann ich Ihnen, glaube ich, manches Sehenswerte zeigen.«

»Das wird mich freuen. Ich werde Ihnen dafür gelegentlich eine Sammlung von Photographien zeigen, von denen ich viele selbst aufgenommen habe. Vielleicht wird sie Ihnen einige Belehrung bieten.«

»Ohne Zweifel,« sagte Sir Charles. »Wollen wir zur Galerie zurückkehren? Ich habe da ein paar Schätze, die die Photographie so bald noch nicht übertreffen wird.«

»Ich denke, wir gehen durch das Gewächshaus,« sagte Jane. »Lieben Sie Blumen, Mr. Smi– Nie kann ich mich doch auf Ihren richtigen Namen besinnen.«

»Das ist seltsam,« sagte Trefusis.

Sie erhoben sich und betraten ein langgestrecktes Treibhaus. Lady Brandon hatte Erskine an ihrer Seite – Sir Charles und Gertrude gingen vor ihr. Aber sie sah sich nach Trefusis um, denn sie beabsichtigte, unter dem Vorwand, ihm die Blumen zu zeigen, ein wenig mit ihm zu flirten. Er war nicht zu sehen, aber sie hörte seine Schritte auf dem Wege an der andern Seite des Gewächshauses. Agatha war ebenfalls nicht zu sehen. Jane, die diese Anordnung nicht ändern durfte, wenn sie nicht ihre Absicht auffällig machen wollte, mußte mit Erskine weitergehen.

Agatha hatte ohne jede Absicht den andern Durchgang betreten. Als sie sah, was sie getan hatte, und sich wirklich ganz allein mit Trefusis, der ihr gefolgt war, fand, tadelte sie ihn deswegen und war schon dabei, zurückzugehen, als er kühl bemerkte:

»Waren Sie bestürzt, als Sie von Henriettas plötzlichem Tod hörten?«

Agatha kämpfte einen Augenblick mit sich selbst und sagte dann mit unterdrückter Stimme: »Wie können Sie es wagen, mit mir zu sprechen?«

»Warum nicht?« fragte er erstaunt.

»Ich will mich nicht in eine Auseinandersetzung mit Ihnen einlassen. Sie wissen ganz gut, was ich meine.«

»Sie glauben, Sie wären durch mich beleidigt. Das ist klar genug. Aber wenn ich von einer jungen Dame in freundlichster Weise scheide und sie mich nach Jahren, während derer ich sie nicht gesehen und ihr nicht geschrieben habe, gefragt werde, wie ich es wagen dürfte, mit ihr zu reden, dann bin ich natürlich erstaunt.«

»Wir schieden nicht in freundlichster Weise.«

Trefusis spannte seine Augenbrauen an, als ob er sein Gedächtnis anspannen wollte. »Wenn wir es nicht taten,« sagte er, »so habe ich es auf mein Ehrenwort vergessen. Wann schieden wir voneinander, und was geschah da? Es kann nichts sehr Ernsthaftes gewesen sein, sonst müßte ich mich dessen erinnern.«

Seine Vergeßlichkeit verwundete Agatha. »Sie sind zweifellos sehr daran gewöhnt –« Sie unterbrach sich selbst, und es gelang ihr schnell, wieder in ihren gewöhnlichen Unterhaltungston einem Herrn gegenüber zu kommen. »Jetzt, da ich nachdenke, erinnere ich mich kaum, was es eigentlich war. Wahrscheinlich irgendeine Kleinigkeit. Lieben Sie Orchideen?«

»Die haben jetzt nichts mit unserer Sache zu tun. Die Orchideen interessieren Sie auch garnicht so, Sie wollen nur von dem Mißverständnis davonlaufen, anstatt es aufzuklären. Das ist immer eine kurzsichtige Politik.«

Agatha wurde unruhig, denn sie fühlte, wie sein früherer Einfluß sie wieder überkam. »Ich habe nicht den Wunsch, darüber zu sprechen,« sagte sie fest.

Ihre Festigkeit war bei ihm verloren. »Ich weiß noch immer nicht, worum es sich überhaupt handelt,« sagte er. »Aber ich möchte es wissen, denn ich glaube, es liegt da ein Mißverständnis vor, und es ist eine Gewohnheit Ihres Geschlechts, Mißverständnisse zu verewigen, indem Sie sich jede Anspielung darauf verbitten. Als ich Lyvern so schnell verließ, habe ich vielleicht vergessen, ein Versprechen zu erfüllen oder Lebewohl zu sagen oder sonst irgend etwas. Aber wissen Sie, wie plötzlich ich weggerufen wurde? Ich erhielt eine telegraphische Nachricht, daß Henrietta im Sterben liege, und ich hatte kaum die Zeit, meine Kleider zu wechseln – Sie erinnern sich ja an meine Vermummung – um den Zug zu erreichen. Und schließlich war sie schon tot, als ich ankam.«

»Ich weiß das,« sagte Agatha ängstlich. »Bitte, sagen Sie nichts mehr darüber.«

»Nicht, wenn es Sie betrübt. Hoffentlich denken Sie aber auch nicht, ich machte Ihnen Vorwürfe wegen Ihres Anteils an der Sache, oder ich hätte Jansenius davon erzählt. Das tat ich nicht. Ob ich Orchideen liebe? Ja. Eine Pflanze, die auf einem Holzbrettchen leben kann, ist ein Beweis für die Sparsamkeit der Natur –«

» Sie machen mir Vorwürfe!« schrie Agatha. »Ich habe es nie den Jansenius' erzählt. Was würden sie von Ihnen gedacht haben, wenn ich es getan hätte?«

»Sie hätten schlimmer über Sie gedacht als über mich, natürlich mit Unrecht. Sie waren die unmittelbare Ursache der Tragödie, ich nur die entfernte. Jansenius ist nicht weitblickend, wenn seine Gefühle gekränkt werden. Die wenigsten Männer sind das.«

»Ich verstehe Sie nicht im mindesten. Welche Tragödie meinen Sie?«

»Henriettas Tod. Ich nenne ihn konventionell eine Tragödie, obgleich er natürlich in Wirklichkeit nichts Ungewöhnliches an sich hatte.«

Agatha machte eine Pause und starrte ihn an. »Was soll das heißen, was Sie jetzt sagten? Ich sei die unmittelbare Ursache der Tragödie, und Sie reden von Henriettas – von Henrietta? Ich hatte mit ihrer Krankheit nichts zu tun.«

Trefusis sah sie an, als überlegte er, ob er weitergehen sollte. Dann sagte er, indem er sie mit der Neugierde eines Vivisektors beobachtete: »Es ist seltsam, Agatha« – sie fuhr stolz zurück, als sie den Namen hörte, »aber wenn Sie nicht gewesen wären, lebte Henrietta vielleicht noch. Ich bin sehr froh, daß sie es nicht tut, und so brauchen Sie sich also meinetwegen keine Vorwürfe zu machen. Sie starb durch eine Reise nach Lyvern, die sie in großer Erregung und Trauer und bei außerordentlich kaltem Wetter machte. Sie veranlaßten sie zu der Reise, denn Sie schrieben ihr einen Brief, der sie eifersüchtig machte.«

»Wollen Sie mir etwa vorwerfen –«

»Halt! Nein,« sagte er schnell, und seine ganze Vivisektionslust verging vor ihrer zitternden Stimme. »Ich werfe Ihnen gar nichts vor. Warum sprechen Sie nicht aufrichtig zu mir, wenn Sie in Ihrer gewöhnlichen Stimmung sind? Wenn Sie Ihre wirkliche Ansicht nur auf der Folter gestehen, wer sollte nicht Lust bekommen, Sie zu foltern? Man muß Ihnen gleich eine Mordtat vorwerfen, damit Sie von etwas anderm als Orchideen sprechen.«

Aber Agatha hatte durch ihre früheren Erfahrungen gelernt und wollte sich nicht mundtot machen lassen. »Es war nicht meine Schuld,« sagte sie. »Es war Ihre – ganz allein Ihre Schuld.«

»Ganz allein meine Schuld,« stimmte er zu und war froh, sie unwillig statt ängstlich zu finden.

Diese wörtliche Zustimmung besänftigte sie nicht. »Ihr Benehmen war eines Mannes sehr unwürdig. Ich habe Ihnen das auch gesagt, und Sie konnten es nicht leugnen. Sie behaupteten, daß Sie – Sie behaupteten, Sie hätten Gefühle – Sie gaben sich Mühe, mir den Glauben daran beizubringen – Oh, was bin ich töricht, daß ich mit Ihnen rede. Sie wissen ganz gut, was ich meine.«

»Vollständig. Ich versuchte, Ihnen den Glauben beizubringen, daß ich Sie liebte. Woher wissen Sie, daß es nicht wahr war?«

Sie verschmähte es, zu antworten. Aber da er ruhig wartete, sagte sie: »Sie hatten kein Recht, in mich verliebt zu sein.«

»Das ist kein Beweis dagegen, daß ich es nicht doch war. Sehen Sie, Agatha, Sie gaben vor, mich zu lieben, und es lag Ihnen doch gar nichts an mir. Das sprachen Sie deutlich genug in jenem Unglücksbrief aus, den ich noch irgendwo zu Hause habe. Er ist quer durchgerissen, und die Spur von ihrem Absatz ist noch daran zu sehen. Das arme Mädchen muß ihn in ihrem Zorn mit Füßen getreten haben. So kann ich Ihnen also Ihre eigene Handschrift als Beweis zeigen, daß Sie mit mir gespielt haben, und Sie klagen mich – ohne jeden Beweis – an, ich hätte Sie getäuscht.«

»Sie sind klug und können alles verdrehen. Welch ein Vergnügen macht es Ihnen, mich zu quälen?«

»Ha!« rief er in einem abgebrochenen, bitteren Lachen. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, Sie behexen mich.«

Agatha gab keine Antwort und ging ruhig zu dem Ende des Gewächshauses, wo die andern auf sie warteten.

»Wo haben Sie gesteckt und was haben Sie die ganze Zeit über angefangen?« fragte Jane, als Trefusis eilig hinter Agatha herkam. »Ich weiß nicht, wie Sie das nennen, ich nenne es einfach ungehörig.«

Sir Charles errötete über das schlechte Benehmen seiner Frau, und Trefusis erwiderte ruhig: »Wir haben die Orchideen bewundert und uns darüber unterhalten. Miß Wylie interessiert sich dafür.«


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