Heinrich Seidel
Neues von Leberecht Hühnchen
Heinrich Seidel

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II. Unterwegs.

Am 24. December lag der Schnee überall fusshoch, und es war bitterlich kalt. Hühnchen hatte mich gebeten, recht früh zu kommen, und so machte ich mich, nachdem ich um ein Uhr zu Mittag gegessen hatte, auf den Weg zum Bahnhofe. In der Stadt herrschte um diese Zeit, wenn man so sagen darf, eine friedliche Unruhe, und fast kein Mensch wurde gesehen, der nicht irgend etwas trug. Selbst der lässigste Junggeselle und der gewissenloseste Vater sowohl, als diejenige bedauernswerthe Klasse von Menschen, welche die Bescheerung für eine lästige Komödie halten, hatten sich zu guter Letzt noch in Trab gesetzt, ihren weihnachtlichen Pflichten zu genügen und aus den Spielwaaren- und anderen Läden, wo an diesem Tage Greuel der Verwüstung herrschte, Einiges zu entnehmen.

Die Tannenbaumhändler standen frierend, aber zufriedenen Gemüthes zwischen ihren gelichteten Beständen und wurden ihre Strassenhüter an die Nachzügler los. Schaukelpferde, welche vor einiger Zeit in einem traurigen Zustande der Verwahrlosung auf geheimnissvolle Weise von ihrem gewohnten Standorte verschwunden waren, hatten sich auf der wunderbaren Himmelwiese des Weihnachtsmannes wieder glänzend herangefüttert, ihre Wunden waren geheilt, und mit grossen blanken Augen schauten sie von den Schultern ihrer Träger vergnüglich in den kalten Wintertag. Puppenstuben von märchenhafter Pracht und eingewickelte, grosse Gegenstände von phantastischen Formen schwankten vorüber, die Transportwagen der grossen Geschäfte karriolten überall und hielten bald hier, bald da; die sogenannten Kremser, welche die Post zur Weihnachtszeit zu miethen pflegt, rumpelten schwerfällig von Haus zu Haus mit Schätzen reich beladen, Lastwagen donnerten auf den bereits gereinigten Strassen oder quitschten pfeifend auf dem hartgefrorenen Schnee, wo dies nicht der Fall war, – kurz, es war umgekehrt, wie sonst die gewöhnliche Redensart lautet, der Sturm vor der Stille.

Diese festliche Unruhe erstreckte sich auch bis auf den Zug, der nach Steglitz fuhr. Die Wagen waren erfüllt von verspäteten Einkäufern, welche ängstlich Packete von jeglicher Form hüteten und mächtige Düten, denen ein süsser Kuchenduft entströmte; wahrlich, man hätte einen Preis aussetzen können für Denjenigen, der heute nichts bei sich trug. Ich hätte ihn gewiss nicht gewonnen, denn ausser einem Kästchen mit zarten Süssigkeiten von Thiele in der Leipziger Strasse für Frau Lore, führte ich für Hühnchen eine Cigarrenspitze bei mir, deren Kopf aus einem Gänseschädel gebildet war, welchem durch geschickte Bemalung, ein Paar eingesetzte Glasaugen und eine Zunge von rothem Tuch das Ansehen einer abscheulichen, zackigen Teufelsfratze verliehen worden war. Ich wusste, dass dieses Kunstwerk Hühnchen in die höchste Begeisterung versetzen würde. Für Hans und Frieda, die beiden Kinder, hatte ich Robert Beinick's Märchen, Geschichten und Lieder eingekauft, ein Buch, das ich jedem Kinde schenken möchte, welches es noch nicht hat, und eine Puppe, welche nach dem Urtheile weiblicher Kennerschaft »einfach süss« war. Ich kann also wohl sagen, dass mein Weihnachts-Gewissen rein war, wie draussen der frischgefallene Schnee, und dass ich mit derjenigen Ruhe, welche das Bewusstsein erfüllter Pflicht uns ertheilt, in die nächste Zukunft sah.

 

 


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