Charles Sealsfield
Das Kajütenbuch oder Nationale Charakteristiken
Charles Sealsfield

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Eine tiefe Stille, die nur durch das Gekreisch der Kinder unterbrochen wurde, trat ein. Soldaten und Matrosen schlugen erschüttert die Augen zu Boden. Der Offizier war vorgesprungen, um dem jungen Staatsverbrecher beizustehen, der, das eine Kind in seinem Arme, nur mit Mühe die sinkende Frau mit dem anderen aufzufangen und zu halten imstande war. Nicht ohne Delikatesse nahm er ihm die Kinder ab, es so dem Manne möglich machend, die Frau auf das Verdeck niederzulassen.

›Ich bedaure, Señor, aber Sie müssen zurück.‹

Die Worte waren in einem bewegten, ja ehrfurchtsvollen, aber bestimmten Tone gesprochen, der junge Mensch jedoch hörte sie nicht – wie ein Geistesabwesender kniete er neben der Frau, ihr die Schläfe reibend. Der Kapitän nahm unterdessen ein Stück Kautabak, schnitt davon ein Quid ab, steckte ihn in den Mund, und ebenso mechanisch den Paß entfaltend, hielt er ihn dem Offizier hin, der aber unwillig den unempfindlichen Amerikaner zurückwinkte, selbst empört, wie es schien. Es war aber auch etwas Empörendes in dieser Gefühlslosigkeit eines jungen, kaum fünfundzwanzigjährigen Mannes! Freilich war er Kapitän im Dienste eines Handelshauses, dem alles daran gelegen sein mußte, den Verdacht abzuwälzen, als stehe er im Einverständnisse mit dem Flüchtlinge; der Schoner lag keine fünfhundert Fuß von dem Fort, ein bloßer Wink des Offiziers, und er mußte zurück, um vielleicht einer scharfen Untersuchung, einer schweren Strafe zu verfallen. Aber diese eisige Ruhe bei einer so erschütternden Szene, sie verriet doch ein gar zu fühlloses Herz, die impassablen Züge ein für jedes edlere Gefühl erstorbenes Gemüt! Nicht doch! Wir täuschen uns. So haarscharf sich die gewöhnliche Seele in ihrem äußeren Spiegel, dem Gesichte, abzeichnet, die kräftige, starke hat der Rinden, die den edlen Kern bedecken, viele und rauhe! Ein leichtes, wie konvulsivisches Zucken begann jetzt in dem eisernen Gesicht des Kapitäns zu spielen, das keiner bemerkte als sein Leutnant, der an ihn herantrat und dem er einige Worte in die Ohren wisperte. Dann ging er abermals auf den Offizier zu und lud ihn ein, einige Erfrischungen in der Kajüte zu nehmen.

Es ist dies, wie ihr wisset, die gewöhnliche Courtoisie, die Kapitäne visitierenden Hafenoffizieren stets erweisen und die auch der Spanier annahm.

In der Kajüte schien unser Kapitän mit einem Male ein ganz veränderter Mann geworden zu sein. Mit einer Zuvorkommenheit, die niemand bei ihm gesucht hätte und die auch gewiß niemand so glücklich affichieren kann als der Yankee, wenn es ihm darum zu tun ist, einem guten Freunde sawder, wie er zu sagen pflegt, in die Augen zu streuen, war er auf einmal die Beweglichkeit, die Bonhommie selbst geworden. Während der Steward den Tisch mit Boston Crackers, Mandeln und Oliven besetzte, entkorkte er eine Madeirabouteille und war dabei zugleich so sehr beflissen, dem Offizier seine Unschuld an dem Vorfalle darzustellen, daß dieser, der den Madeira versucht, ihn tröstend versicherte, der Paß sei zwar falsch, für einen andern ausgestellt, aber er solle sich beruhigen, der Madeira sei echt, der Staatsgefangene aber ein Mann von größter Wichtigkeit, den noch erwischt zu haben er sich Glück wünschen dürfe.

Die Spanier lieben ein Glas Madeira, besonders wenn reinölichte Oliven die Grundlage bilden. Der Offizier schien sich ganz behaglich in der Kajüte zu fühlen. Unterdessen befahl er doch, das Gepäck des Staatsgefangenen, und zwar unverzüglich, in das Boot zu bringen.

Der Kapitän, nachdem er artig um Vergebung gebeten, ihn allein lassen zu müssen, eilte, dem Befehle Folge zu leisten.

Während er die Kajütentreppe hinaufstieg, schwankte ihm der unglückliche Staatsgefangene entgegen. Seine Gesichtsfarbe war blau geworden wie die eines Gehängten, die Züge ins Gräßliche verzerrt; das eine Kind hielt sich an seinem rechten Schenkel geklammert, die Frau, mehr tot als lebendig, hing an seinem Nacken; die Dienerin, eine junge Indianerin, trug das zweite noch saugende Kind. Unser Kapitän mochte bereits solcher Szenen mehrere in seinem bewegten Seeleben gesehen haben, aber diese hatte doch etwas Eigentümliches, Erschütterndes. Der stille Adel der Frau, die verzweifelnde Zerrissenheit des Mannes führten eine eigene Sprache, die wohl die stärksten Nerven erschüttern konnte. Wie er jetzt heranschwankte, loderte ein so gräßliches Feuer in seinen Augen, die Gesichtsmuskeln, die Lippen zuckten so konvulsivisch! Die Zähne klapperten ihm, als wäre er vom Fieberfroste befallen; dazu haschte und tappte er wie wahnsinnig unter seinen Rockärmel nach dem Griffe eines Dolches!

Sie schien nicht mehr den Lebenden anzugehören, aber selbst in ihrer erstarrten Bewußtlosigkeit war sie unsäglich reizend!

Der Kapitän erfaßte die Hand des Unglücklichen und versuchte ihn zu trösten.

›Hättet Ihr mir doch nur einen Tag früher Eure Lage entdeckt, ich würde für Hilfe gesorgt haben, denn Tyrannei ist mir so wie jedem Amerikaner unter allen Umständen verhaßt; aber hier ist Hilfe beinahe unmöglich, die Order des Offiziers bestimmt; die Kanonen des Forts können uns in wenigen Sekunden in den Grund bohren. Ich bedaure Euch, aber Hilfe, wie gesagt –‹

Der Unglückliche ließ ihn nicht ausreden. Er faßte seine Hand, preßte sie wie ein Ertrinkender, stöhnte, versuchte zu reden, vermochte es aber nicht. Endlich brachte er schluchzend und gebrochen heraus:

›Hört, Kapitän, ich bin geborner Kolumbier, Offizier in der Patriotenarmee, wurde kriegsgefangen in der unglücklichen Schlacht von Cachiri, von da mit meinen Unglücksgefährten nach der Havanna abgeführt. Meiner Frau und Kindern wurde erlaubt, mir zu folgen, um – eine der ersten Familien Kolumbiens ganz in Gewalt zu haben. Vier Monate lag ich in einem der entsetzlichsten Kerker, Seekrebse und Ratten und giftiges Ungeziefer aller Art waren meine einzigen Gesellschafter. Bloß meiner starken Konstitution verdanke ich es, daß ich noch lebe. Von siebenhundert meiner Unglücksgefährten sind alle bis auf einige wenige Opfer der spanischen Grausamkeit geworden. Ein vollständiges Gerippe, holte man mich vor vierzehn Tagen aus meinem Kerker hervor, quartierte mich in die Stadt ein, um mich wieder zu einigen Kräften zu bringen und dann – abermals lebendig einzumauern. Bereits ist der Befehl gegeben, mich in die vorige grausame Haft zurückzubringen. Daß ich in dieser keine acht Tage mehr aushalten kann, davon bin ich so gewiß, als daß ein Gott im Himmel ist. Ein Freund, der ungeachtet der großen Gefahr sich unserer Lage erbarmte, hat uns einen Paß und Geld verschafft, mich an Euch angewiesen. Der Paß gehörte einem am Gelben Fieber verstorbenen Spanier; mit ihm und durch Euch hoffte ich Rettung. In Euch beruht meine, meiner armen Frau, meiner Kinder einzige Hoffnung, Leben oder Tod! Gebt Ihr mich auf, so ist mir dieser gewiß, aber ich schwöre es Euch: ehe ich mich zurückbringen und abermals einmauern lasse zu Leiden, deren Gräßlichkeit ich nicht beschreiben kann, bin ich fest entschlossen zu sterben. Nein, nun und nimmermehr lasse ich mich zurückliefern in die Hand des entsetzlichen Spaniers.

Armes Weib! Arme Kinder! Armes Vaterland!‹

Der Kapitän, ohne eine Miene zu verziehen, stand, an seinem Kautabak schneidend, fuhr dann mit der Hand über die Stirn und trat rasch auf das Verdeck. Den Matrosen befahl er, die Koffer und Portemanteaux der Familie auf das Verdeck – aber nicht in das Boot zu bringen; dann prüfte er Himmel und Wetter und wisperte angelegentlich mit dem Leutnant. Noch raunte er dem Steward zu, den Soldaten und Bootsleuten ein paar Bouteillen Rum zu reichen, und stieg dann die Kajütentreppe hinab. Wie er diese betrat, murmelte er, ohne den Patrioten anzusehen, die Worte: ›Vertraut auf ihn, der dann hilft, wenn die Not am größten ist!‹ Kaum hatte er diese Worte gemurmelt, als der Spanier aus der Kajüte heraussprang, und wie er den Staatsgefangenen erblickte, diesem finster rief, sogleich ins Boot hinabzusteigen. Aber der Kapitän trat vor und bat, doch zu erlauben, daß sein unglücklicher Passagier noch ein Glas – einen Valettrunk nähme. Er sei Soldat und er als Kapitän auch ein halber, und er sei überzeugt, daß der tapfere und großmütige Spanier, und jeder Spanier sei tapfer und großmütig, ihn nicht zwingen werde, einen Unglücklichen ungastlich von seinem Verdecke zu lassen.

Der junge Offizier war kein harter Mann, er nickte beifällig, trat selbst zur Treppe, und die Hand bietend, geleitete er den Kolumbier diese hinab in die Kajüte ein.

Die beiden nahmen am kleinen Kajütentische Platz. Der Kapitän brachte eine frische Bouteille, und zwar Xeres, der denn so vortrefflich war, daß des Spaniers Augen beim ersten Glase bereits funkelten. Die Unterhaltung wurde trotz der tödlichen Spannung des Kolumbiers immer lebhafter. Der Kapitän sprach das Spanische geläufig und überließ sich einer Suada, die niemand in dem trockenen, düsteren jungen Manne gesucht hätte. So verging eine Viertel-, vielleicht eine halbe Stunde.

Auf einmal erhielt der Schoner einen Stoß, der die Gläser zum Schwanken und Fallen brachte.

Der Spanier sprang zornig auf.

›Kapitän, der Schoner segelt!‹

›Ganz natürlich!‹ versetzte ruhig der Kapitän; ›Ihr werdet doch nicht erwarten, Señor, daß wir bei der herrlichsten Brise, die je einem Schoner blies, ruhig liegenbleiben werden?‹

Ohne ein Wort zu erwidern, sprang der Offizier der Kajütentür zu, die Treppe hinauf, warf einen Blick auf den Molo.

Das Fort lag gute zwei Meilen im Rücken.

Der Spanier wurde wütend.

›Soldaten!‹ schrie er sogleich, ›ergreift den Staatsgefangenen und Kapitän. Verrat ist hier im Spiele. Ihr, Steuermann, wendet um!‹

Und Verrat war wirklich im Spiele, denn so verräterisch waren die Segel angezogen worden, daß weder die ruhig forttrinkenden Soldaten noch Bootsleute es gemerkt hatten. Erst die Ankunft des Offiziers hatte sie aufmerksam gemacht.

Der Kapitän blieb jedoch ganz ruhig.

›Verrat!‹ versetzte er ernst. ›Gott sei Dank, wir sind Amerikaner und haben also nichts zu verraten, keine Treue zu brechen; was aber diesen Staatsgefangenen betrifft, so bleibt er hier.‹

›Hier!‹ schnaubte der Spanier. ›Wir wollen Euch zeigen, Ihr verräterischer –‹

›Hier!‹ versetzte ruhig der Kapitän. ›Gebt Euch keine unnötige Mühe, Señor! Die Musketen Eurer Soldaten sind, wie Ihr seht, in unseren Händen, meine sechs Matrosen mit Fängern und Pistolen wohlversehen. Wir acht nehmen es sehr gut mit euch zehn auf. Bei der ersten Bewegung schießen wir euch nieder.‹

Der Offizier ward sprachlos, wie er jetzt um sich schaute. Die Musketen seiner Soldaten lagen auf einem Haufen, von zwei bewaffneten Matrosen bewacht.

›Ihr würdet es wagen?‹ schrie er. Der Zorn ließ ihn nicht ausreden.

›Ich würde ohne weiteres, hoffe aber, Ihr werdet mich nicht dazu zwingen; auch ist es ganz und gar nicht vonnöten. Ihr bleibt noch für einige Stunden mein Gast, und dann fahrt Ihr in Eurem tüchtigen Boote zurück und habt gegen einen vielleicht monatlichen Arrest das Bewußtsein, einen edlen Feind von Tod und Verzweiflung gerettet zu haben.‹

Alles das war ruhig, ernst, aber zugleich auch so scharf und bestimmt gesprochen, als den Spanier zucken machte.

›Maestro! Maestro!‹ sprach er, ›ich hoffe, Ihr treibt Scherz!‹

›Sind keine sehr scherzhaften Leute, wir Amerikaner!‹ versetzte gelassen der Kapitän.

›Wißt Ihr, daß Ihr Euch eines todeswürdigen Verbrechens schuldig macht?‹ schrie wieder der Spanier.

›Wäre ich ein Spanier, ja, als Amerikaner nein‹, versetzte wieder ruhig der Kapitän, den Finger mit einem eigentümlich launigen Rucke in einen Kübel Seewassers tunkend, den der Steward soeben an der Schiffswand herausgezogen.

›Wir sind auf der See, auf amerikanischer See, und Ihr wisset wohl, daß wir Amerikaner auch auf dieser die Herren – und zu stolz sind, uns von irgendeiner Nation, welche immer sie sei, Gesetze vorschreiben zu lassen. Nehmt Verstand an und seid menschlich!‹ fügte er freundlicher hinzu, ›dieser Patriot da hat nichts verbrochen, im Gegenteile seine Schuldigkeit getan, getan, was unsere Washingtons, Putnams, Greenes und Tausende unserer Revolutionshelden auch taten – für sein Vaterland, die Freiheit gefochten; und ihr, statt ihn – den unglücklichen Gefangenen – menschlich zu behandeln, habt ihn zur Leiche gemartert! Seht ihn Euch an und sagt, ob ich nicht härter als Stein sein müßte, wollte ich ihn abermals euren Klauen überliefern. Er soll nicht zurück!‹

Der Offizier knirschte mit den Zähnen, gab aber die Hoffnung offenbar noch nicht auf. Zwar war an Widerstand nicht zu denken, die Musketen seiner Leute waren in der Gewalt der Amerikaner, die, Pistolen in den Händen und Fänger in den Zähnen, davorstanden. Die Soldaten selbst schien der Rum nichts weniger als zum Fechten begeistert zu haben; die Bootsleute waren Neger, und also von Hause aus kampfunfähig; aber mehrere Regierungs- oder Revenue-Kutters waren in nicht sehr großer Entfernung zu sehen. Gelang es ihm, auch nur einem derselben ein Zeichen zu geben, so mußte der Schoner angehalten, aufgebracht werden. Er sah ängstlich in der Richtung hin, in der soeben eine bewaffnete Sloop dem Hafen zuschwankte.

Der Kapitän schien seine Gedanken zu erraten.

›Señor, wie gesagt, Ihr müßt uns schon die Ehre antun, noch ein leichtes Gabelfrühstück mit uns zu nehmen. Das Mittagsmahl dürftet Ihr wohl zur See zubringen, aber zum Souper mögt Ihr wieder zu Hause sein.‹

Und mit diesen Worten reichte er ihm artig die Hand, die der Spanier, gute Miene zum bösen Spiel machend, wohl annehmen mußte, denn die Züge des Amerikaners hatten nun einen Ernst angenommen, der verriet, daß er in der Tat nichts weniger als scherzhaft aufgelegt sei. Die beiden Gatten aber stießen einen unartikulierten Schrei aus, und dann sanken sie einander in die Arme. Zu reden, zu danken vermochten sie nicht, das Herz war ihnen zu voll. Schluchzend hingen sie einander am Halse, sich so krampfhaft umschlingend, als wollten sie sich nimmermehr trennen lassen, dann lachten sie wieder wie wahnsinnig auf – murmelten wieder, stierten auf das gräßliche Havanna, den entsetzlichen Molo zurück!


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