Charles Sealsfield
Das Kajütenbuch oder Nationale Charakteristiken
Charles Sealsfield

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Das waren nun harte Schläge, zwei Dritteile unserer besten Männer gefallen, die Festungen in der Gewalt der Feinde, unsere ganze Macht kaum mehr siebenhundert Mann – gegen zahlreiche siegreiche Heere, die immerfort noch Verstärkungen an sich zogen! Wohl ein Moment, die stärksten Männerseelen zu prüfen!

Allenthalben Flüchtlinge zu Tausenden; in ganzen Zügen kamen sie; schwangere, todesmüde Weiber, hilflose Mütter mit saugenden Kindern, Scharen von Mädchen und Knaben auf Mustangs und Wagen gepackt, hinter ihnen her Rotten von Dragonern, die Präries durchschweifend, alles mit Feuer und Schwert verheerend.

Der General en chef, der Präsident von Mexiko, Santa Anna, dringt mit seiner Armee in zwei Divisonen heran, die eine längs der Küste auf Velasco zu, die andere gegen San Felipe de Austin; er selbst bildet das Zentrum.

Bei Fort Bend, zwanzig Meilen unter San Felipe, setzt er über den Brazos, rückt gegen Louisburg vor, zieht da sechshundert Mann an sich, verschanzt sich in seinem Lager; seine Stärke beträgt beiläufig fünfzehnhundert Mann.

Unser Hauptquartier unter dem Oberbefehl General Houstons stand vor Harrisburg, wohin sich der Kongreß zurückgezogen.

Es war in der Nacht des zwanzigsten April. Wir lagerten etwa sechshundert Mann – die ganze disponible Macht, die wir noch hatten – vor einer Insel von Sykomores. Trübe, stürmisch hingen die Wolken über die Baumwipfel herein, deren Ächzen und Stöhnen nur zu sehr mit unserer wilden Stimmung harmonierte. Wir saßen um den General und den Alkalden – beide sehr trübe und gespannt. Sie waren öfters aufgestanden, in die Insel hinein, wieder zurückgekehrt. Sie schienen etwas, und zwar höchst ungeduldig, zu erwarten. Totenstille herrschte im ganzen kleinen Lager.

Auf einmal erschallten laut Werdas! Eine Ordonnanz kam eilig, wisperte dem Alkalden etwas in die Ohren. Er sprang auf, rannte in die Insel hinein, kam nach einigen Minuten zurück und flüsterte dem General ein paar Worte in die Ohren, dieser uns; im nächsten Augenblicke waren wir auf den Beinen.

Alle unsere Leute waren trefflich beritten, mit Stutzen, doppelten Pistolen und Bowie-Messern gerüstet. Ehe zehn Minuten vergingen, waren wir auf dem Marsche. Von den sechs Kanonen, die wir mit uns hatten, nahmen wir bloß vier, aber mit doppeltem Gespanne, mit. Die ganze Nacht ging der Zug im raschen Trabe vorwärts, ein riesig hagerer Mann sprengte als Wegweiser voran. Mehrere Male fragte ich den Alkalden, wer er wäre? ›Werdet es erfahren, wer er ist!‹ war seine Antwort.

Ehe der Morgen angebrochen, hatten wir fünfundzwanzig Meilen zurückgelegt, aber von den vier Kanonen zwei zurücklassen müssen. Noch wußten wir nicht unsere Bestimmung. Der General befahl den Leuten, sich mit Speise und Trank zu stärken. Wir sammelten uns um ihn zum Kriegsrate. Jetzt erfuhren wir den Grund unseres Nachtmarsches. Der Präsident und General en chef der Mexikaner stand keine Meile von uns in einem verschanzten Lager; zwanzig Meilen zurück General Parza mit zweitausend Mann, achtzehn unten am Brazos, General Filasola mit tausend, fünfundzwan- zog oben Viesca mit fünfzehnhundert. Nur ein rascher, entschlossener Angriff konnte Texas retten.

Kein Augenblick war zu verlieren, keiner ward verloren. Der General trat unter die essenden und trinkenden Männer und sprach:

›Brüder, Freunde, Bürger! General Santa Anna steht in einem verschanzten Lager, fünfzehnhundert Mann stark. Der Augenblick, der über Texas' Unabhängigkeit entscheidet, ist gekommen. Ist der Feind unser?‹

›Er ist unser!‹ riefen jubelnd die Männer, und mit dem Rufe rückten sie vor.

Zweihundert Schritte vom mexikanischen Lager angekommen, ließen wir unsere zwei Kanonen ihr Kartätschenfeuer eröffnen, hielten aber das unserer Stutzen zurück, bis wir auf fünfundzwanzig Schritte angedrungen; da gaben wir dem Feinde eine Salve, warfen dann Stutzen weg, und Pistole in der Rechten und Linken, Bowie-Messer zwischen den Zähnen, sprangen wir die Brustwehr hinan, schossen die wie betäubt erstarrten Mexikaner mit der einen Pistole vor die Köpfe, griffen dann zu den Bowie-Messern, und mit einem Hurra, dessen grausig-wilde Tonleiter mir noch heute durch die Ohren und Nerven gellt, brachen wir in das Lager ein.

Ganz wie beim Entern eines feindlichen Schiffes – das Schlachtmesser in der Rechten, die Pistole in der Linken – drangen die Leute vor. Was nicht niedergestochen, ward niedergeschossen, mit wildem Jubel, dämonischem Lachen, ganz dem desperaten Ungestüm tollkühner Seeleute, die das feindliche Schiff bereits als das ihrige betrachten.

Ich kommandierte am rechten Flügel, wo die Brustwehr in einer Redoute endigend steiler auflief. Hinangesprungen, war ich abgeglitten; ein zweiter Versuch fiel nicht glücklicher aus. Mit Hilfe eines meiner Hintermänner war ich zum dritten Male emporgeklimmt, aber durch meine eigene Schwere zurückgezogen auf dem Punkte, in den Graben hinabzufallen, als eine Hand von oben mich beim Kragen ergriff und die Brustwehr hinaufzog.

In der Verwirrung, dem Tumulte sah ich den Mann nicht, wohl aber das Bajonett, das ihm in dem Augenblicke, wo er mir half, in die Schulter drang. Er zuckte nicht, ließ nicht fahren, bis ich oben war, erst dann wandte er sich mit einem schmerzhaften Rucke zur Seite und hob langsam die Pistole gegen den Mexikaner, als dieser von dem herangesprungenen Alkalden niedergestochen ward. Da kreischte er ein ›no thanks to ye, Squire!‹, das mich selbst in dieser grausigen Szene noch grausig wild durchzuckte. Ich schaute mich um nach ihm, aber bereits war er wieder an der Seite des Alkalden im Kampfe mit einer Rotte desperat sich wehrender Mexikaner begriffen. Er focht nicht wie ein Mensch, der tötet, sondern wie einer, der selbst getötet sein will. Wie ein blinder angeschossener Eber drang er mitten unter die Feinde hinein, hieb links und rechts um sich, der Alkalde ihm zur Seite, wieder Hiebe und Stiche von ihm abwehrend.

Um mich hatten sich jetzt ein Hundert meiner Leute gesammelt; einen Augenblick überschaute ich das Schlachtfeld, wo wohl meine Hilfe am nötigsten sein dürfte, dann wandte ich mich, um vorzudringen.

In diesem Momente drang die Stimme des Alkalden in mein Ohr.

›Seid Ihr stark verwundet, teurer Bob?‹

Das ›teurer Bob‹, die kreischend ängstliche, beinahe verzweifelte Stimme des Alkalden durchzuckten, hielten mich zurück.

Ich schaute mich um.

Bob, wie er leibte und lebte, lag blutig, ohnmächtig in den Armen des Alkalden.

Noch einen Blick warf ich auf ihn, und dann rissen mich die Meinigen vorwärts, mitten in das Getümmel hinein dem Zentrum des Lagers zu, wo der Kampf am heißesten. Etwa fünfhundert Mann, der Kern der feindlichen Armee, hatte sich da um Generale und Generalstab wie ein Bollwerk gesammelt. Ein furchtbarer Knäuel, der sich verzweifelt wehrte! General Houston hatte sie mit dreihundert Mann angegriffen, war aber nicht imstande gewesen, ihre Reihen zu durchbrechen.

Was das erstemal nicht gelungen, gelang beim zweiten Angriff. Ein wildes Hurra gaben meine Leute, schossen jeder eine Pistole ab, und dann sprangen sie zugleich über die Leichen der Gefallenen und Fallenden in die zerrissenen Reihen ein.

Ein gräßliches Metzeln erfolgte. Nicht Menschen mehr waren diese sonst so friedlich ruhigen Bürger – eingefleischte Teufel! Ganze Reihen von Feinden fielen unter ihren Messern. Sie mögen sich eine Idee von der Gräßlichkeit dieser Metzelei geben, wenn ich Ihnen sage, daß die ganze Schlacht vom Angriffe bis zur Gefangennehmung der sämtlichen Mexikaner innerhalb zehn Minuten entschieden war, binnen dieser weniger denn zehn Minuten aber beinahe achthundert Feinde niedergeschossen, –geschmettert und –gestochen waren. Alle wären sie ohne Ausnahme niedergemetzelt worden – das Rachegeschrei: ›Keinen Pardon, denkt an Alamo, an Goliad, an den braven Fanning, Ward!‹ brüllte von allen Seiten –, aber General und Stabsoffiziere warfen wir uns vor die auf den Knien liegenden und ›Misericordia! quartel por el amor de Dios!‹ heulenden Mexikaner, drohten, unsere eigenen Leute niederzustechen, wenn sie nicht dem Blutbade ein Ende machten.

Das wirkte. Es gelang, den Rasenden Einhalt zu tun und so einen Sieg, der in der Geschichte Texas' gewiß als einer der schönsten glänzen wird, vor dem Makel unmännlicher Grausamkeit zu bewahren.

Aber erschöpft taumelte ich von der gräßlichen Schlachtbank zur Stelle hin, wo ich den Alkalden mit Bob gelassen.

Dieser lag, wohl aus sechs Wunden blutend, nur wenige Schritte von der Stelle, wo er mich heraufgezogen. Zu Kissen dienten ihm zwei übereinandergeschichtete Leichname. Das Haupt hielt ihm der zur Seite kniende Alkalde – so schmerzerfüllt, den Blick so wehmutsvoll düster auf die brechenden Augen, die erstarrenden Züge des Sterbenden geheftet! Wunderbar ergriff mich diese Szene. Ich trat mit etwas wie frommem Schauder näher. Bob war im Sterben begriffen. Aber es war nicht das Sterben eines Mörders, nicht mehr die gräßlich wilden Züge, der stiere, verzweifelnde Blick des Totschlägers – eine heitere Ruhe, ein frommes, besseres Bewußtsein verklärte das Antlitz, die Augen waren hoffend, flehend gen Himmel gerichtet.

Wie ich mich über ihn beugte, ihn mit bewegter Stimme fragte, wie er fühle, schien er seine Geisteskräfte nochmals sammeln zu wollen, aber erkannte mich nicht mehr. Nach einer Weile stöhnte er: ›Wie steht es um die Schlacht?‹

›Wir haben gesiegt, Bob! Der Feind ist tot oder gefangen, kein einziger entronnen.‹

›Sagt mir‹, röchelte er wieder nach einer Weile – ›habe ich meine Schuldigkeit getan? Darf ich zu Gott hoffen?‹

Mit erschütterter Stimme versetzte der Alkalde:

›Der Gottessohn, der dem Schächer am Kreuze verziehen, er wird auch Euch gnädig sein. Seine Heilige Schrift sagt: Die Engel im Himmel haben größere Freude über einen bekehrten Sünder als über neunundneunzig Gerechte. Hoffet, Bob! Der Allbarmherzige wird Euch gnädig sein!‹

›Dank Euch, Squire!‹ röchelte Bob – ›seid ein wahrer Freund, ein Freund bis in den Tod, im Tode. Wollt Ihr nicht für meine arme Seele beten? Ich fühle, sie ist am Scheiden. Mir wird so wohl!‹

Der kniende Alkalde betete:

›Unser Vater, der du bist in dem Himmel!‹

Unwillkürlich kniete ich neben ihm nieder.

Bei den ersten Bitten bewegten sich noch die Lippen des Sterbenden, dann verzog sie der Todeskrampf. Bei den Schlußworten – denn dein ist das Reich und die Herrlichkeit – war das Auge bereits gebrochen, das Leben entwichen.

Mit schmerzvollen Blicken starrte der Richter den Leichnam eine Weile an, dann stand er auf und sprach leise: ›Der Gott droben will nicht den Tod des Sünders, sondern daß er lebe und sich bekehre. So dachte ich damals, als ich ihn heute vor vier Jahren vom Aste des Patriarchen schnitt.‹

›Heute vor vier Jahren –?‹ sprach ich erschüttert. ›Und Ihr habt ihn also abgeschnitten, auf daß er sich bekehre? Und hat er sich bekehrt? War er es, der uns gestern ins Lager vor Harrisburg die Nachricht vom Feinde brachte?‹

›Er hat mehr als das getan‹, versetzte der Alkalde, und eine Träne brach nach der andern hervor, ›er hat todesmüde und lebenssatt vier Jahre sein elendes, verachtetes, geachtetes Dasein fortgeschleppt. Vier Jahre hat er uns gedient, für uns gelebt, gekämpft, den Spion gemacht, ohne Hoffnung, Aussicht, Ehre, Trost, ohne eine einzige ruhige Stunde, ohne einen anderen Wunsch als den Tod. Die erhabenste Tugend, der höchste Patriotismus würde zurückschaudern vor den Opfern, die dieser Mann uns – Texas gebracht. Und er war ein sechsfacher Mörder! Gott wird seiner Seele gnädig sein! Wird er nicht?‹ fragte er wieder leise.

›Er wird es!‹ versetzte ich erschüttert.

Eine Weile stand er in tiefem Sinnen verloren; dann rief er plötzlich: ›Er muß es sein, Oberst! Er muß; denn glühte nicht in diesem Bob bis zu seinem letzten Atemzuge ein gewaltig göttlicher Funke? Loderte er nicht mächtig in ihm für Bürgerglück und Nächstenwohl? Lebte, litt er nicht für seine Mitbürger, Mitmenschen? Ah! wüßtet Ihr, Oberst!‹

Er zuckte, hielt inne, wie einer, der befürchtet, zuviel zu sagen.

Ich schaute ihn erstaunt an. Der Mann war auf einmal so außer sich geraten. Es fehlte nicht viel, daß er es unkonstitutionell an Gott gefunden hätte, Bob nicht zu begnadigen.«

»Ganz amerikanisch das!« unterbrach den Oberst hier der Supreme Judge.

»Doch merkte ich auch«, fuhr dieser fort, ohne auf die Unterbrechung zu achten, »daß hier denn noch etwas mehr als gewöhnliche Sympathie – daß ein wichtiges Geheimnis im Spiele sei. Der Alkalde war so gar außer sich, er, der sonst so kühl, ruhig, durch nichts aus dem Gleichgewicht gebracht werden konnte, sprach, gebärdete sich wie ein Wahnsinniger. Ich suchte ihn dem Walplatze, auf dem es wieder sehr laut werden zu wollen schien, zuzuziehen. Er, stieß mich beinahe rauh zurück.

›Ah! wüßtet Ihr! Dieser Bob –!‹

›Was ist mit diesem Bob, teurer Alkalde?‹

Er sah mich mit einem scheuen Blicke an, murmelte: ›Geht, geht, überlaßt mich meinem Schmerze!‹

Noch zauderte ich, aber mehrere meiner Leute kamen gerannt, zogen mich mit Gewalt dem Walplatze zu.

Alles war da in der größten Verwirrung, Santa Anna war nicht unter den Gefangenen – er war entwischt. Die Entdeckung, soeben gemacht, brachte die Gemüter in die furchtbarste Gärung. Begreiflich! An ihm war selbst mehr als an der gewonnenen Schlacht gelegen; denn Urheber der Invasion, allgewaltiger Präsident Mexikos, General en chef seiner sämtlichen Armeen, mußte seine Gefangennehmung das Schicksal des Krieges entscheiden. Der Sieg, so glänzend er auch ausgefallen, war verhältnismäßig nichts ohne ihn, denn eben die Gewißheit, ihn in unsere Gewalt zu bekommen, dem Kriege so mit einem Schlage ein Ende zu machen, hatte mehr als alles zur verzweifelten Tapferkeit angespornt. Und nun war er entwischt!

Ein sehr kritischer Moment! Wir hatten unter unseren Leuten ein paar Dutzend unglaublich desperate Gesellen, mit denen wir immer, die Pistole in der einen, den Degen in der anderen Hand, unterhandeln mußten. In einem Knäuel zusammengedrängt standen sie, Blicke auf die Gefangenen schießend, die uns in gar keinem Zweifel ließen.

Kein Augenblick war da zu verlieren. An der Spitze unserer bewährtesten Männer drangen wir rasch vor, nahmen die Gefangenen in unserer Mitte, und nachdem wir sie gesichert, begannen wir unser Verhör mit ihnen.


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