Charles Sealsfield
Das Kajütenbuch oder Nationale Charakteristiken
Charles Sealsfield

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Es ergab sich, daß Santa Anna noch zu Anfang der Schlacht, ängstlich unseren Angriff beobachtend, in seinem Reisewagen gesehen worden. Er mußte also während unseres Eindringens in das Lager geflüchtet, konnte nicht sehr weit sein. Wir ließen diese frohe Botschaft sogleich durch Tagesbefehl verkündigen und trafen dann schleunig Anstalten zur Verfolgung des Flüchtlings. Hundert unserer Leute wurden mit den Gefangenen nach Harrisburg, hundert andere dem Flüchtlinge nachgesandt. Mir ward die letztere Aufgabe zuteil.

Es gab da trefflich ausgerastete Pferde; wir bestiegen sie und jagten in die Prärie hinaus. Eine heiße Jagd, wie Sie sich leicht vorstellen mögen, aber hing doch das Schicksal Texas' von ihrem glücklichen Erfolge ab! Den möglichst größten Umkreis beschreibend, drangen wir auf der einen Seite bis in die Nähe der Division Filasolas, auf der anderen in die Parzas vor; dann rückten wir einander näher und wieder unserem Lager zu. Lange war all unser Spüren vergebens; über vierzehn Stunden waren wir bereits im Sattel, mehr als hundert Meilen geritten, noch keine Spur von dem für uns so köstlichen Wilde!

Bereits waren wir dem Lager wieder sieben Meilen nahe gekommen, als endlich einer unserer tüchtigsten Jäger die Spur eines zarten Mannesfußes entdeckte, die in der Richtung nach einem Sumpfe sich hinzog. Wir folgten dieser Spur, gerieten in den Sumpf und fanden in diesem bis auf den Gürtel im Schlamme steckend einen Mann, etwa vierzig Jahre alt, aber ganz unkenntlich vor Schlamm und Kot. Halbtot zogen wir ihn heraus, wuschen ihn, erkannten ihn an den milden, aber tückischen blauen Augen, der hohen schmalen Stirn, der langen, dünn anfangenden, fleischig endigenden Nase, der herabhängenden Oberlippe und dem langen Kinn. Der Beschreibung nach konnte es kein anderer als Präsident Santa Anna sein. Er war es auch, obwohl mich seine unglaubliche Feigheit lange in Zweifel ließ, denn auf die Knie warf er sich vor uns, um Gottes, aller Heiligen willen bat er, ihm nichts am Leben zu tun. Keine Versicherung, Beruhigung, selbst mein Ehrenwort und Schwur vermochten nicht, ihn zum Gefühl dessen, was er sich selbst schuldete, zu bringen.

Ich war sehr froh, als wir mit ihm im Lager ankamen. Gerade wie wir einritten, wurde Bob mit militärischen Ehren begraben. Alle Offiziere waren bei dem Leichenbegängnisse. Das wunderte mich nicht so sehr, als daß der Alkalde als Leidtragender erschien. Ich fragte, forschte, aber er gab keine Antwort. Nie sprach er mehr ein Wort über Bob, und wenn ich die Rede auf ihn lenkte, verzog sich immer sein Gesicht in düstere Falten. Was weiter folgte« – fuhr der Oberst fort – »wissen Sie aus den öffentlichen offiziellen und nichtoffiziellen Berichten.

Mit Santa Annas Gefangennehmung war der Krieg in der Tat am Ende. Noch an demselben Abende ward zwischen uns und dem Chef der Armeen von Mexiko Waffenstillstand abgeschlossen. Er selbst sandte dem ihm zunächst kommandierenden General Filasola Order, sich mit seiner Division sowie der General Parzas nach Bexar zurückzuziehen. General Viesca erhielt den Befehl, nach Guadaloupe Vittoria aufzubrechen. So waren zwei Drittel Texas' geräumt, wir einen Monat später wieder im Besitze des ganzen Landes. Zugleich hatte sich der Ruf von unserem Siege unglaublich schnell verbreitet. Von allen Seiten kamen Volontärs; nach drei Wochen hatten wir wieder eine Armee von mehreren tausend Mann, mit denen wir den Feind nacheinander aus seinen Positionen manövrierten. Zum Gefechte kam es nicht mehr, denn er hielt nicht mehr Stich; hundert der Unsrigen waren hinlänglich, Tausende von Mexikanern zu verjagen. Ehe noch Santa Anna an die Zentralregierung von Washington abgeliefert wurde, war Texas ganz frei.

Er hatte jedoch manche Unannehmlichkeiten, ja Mißhandlungen zu erdulden, dieser Santa Anna, doch war es seine Schuld; denn obwohl es rohe Leute unter den Unsrigen gab, würde sich doch keiner so tief erniedrigt haben, einen gefangenen Feind zu kränken. Auch war es nicht so sehr die unmenschliche Grausamkeit, mit der er gegen schuld- und schutzlose Weiber und Kinder gewütet, als die wahrhaft ekelhafte Niederträchtigkeit und Feigheit, die alle empörten, ihm so Mißhandlungen zuzogen. Später, als Gesetz und Disziplin wieder in Kraft getreten, hörten sie freilich auf – er wurde ganz seinem hohen Range gemäß behandelt; es ist dieses jedoch eine Saite, deren Berührung einigermaßen unangenehme Empfindungen heraufruft!

Doch genug und mehr als genug von ihm. Er wird schwerlich mehr je wagen, seinen Fuß auf texasischen Grund und Boden zu setzen, so wenig als ein anderer, und wagt er es, so wird sein Los nicht glücklicher ausfallen. Texas ist jetzt in der Verfassung, in der es wohl Mexiko, Mexiko aber nicht ihm mehr furchtbar sein kann. Es besitzt ein Heer, dem es ein leichtes wäre, bis zum alten Tenochtitlan vorzudringen – die ganze Republik über den Haufen zu werfen.

Das wollen wir jedoch nicht. Auf Texas hatten wir volles Anrecht; dieses Anrecht haben wir auch behauptet. Von der mexikanischen Regierung eingeladen, waren unsere Bürger mit Hab und Gut, mit Weibern und Kindern gekommen, hatten sich unter unsäglichen Mühseligkeiten und Drangsalen Häuser und Pflanzungen, Dörfer und Städte gebaut und gegründet. Nachdem sie diese gebaut und gegründet, kamen die heimtückischen Machthaber und wollten sie wieder aus dem Lande hinaus, die Städte und Pflanzungen für sich haben. Europäische Sklaven würden gehorcht, freie amerikanische Männer haben – empört widerstanden. Da haben Sie die kurzgefaßte Geschichte der Gründung, Entstehung, Empörung und – Freiheit Texas'.

Recht gerne gebe ich übrigens Ihnen zu, daß bei dieser Gründung, Entstehung und Empörung manches mit untergelaufen, das ebensowenig die strenge Prüfung der Moralphilosophie als der völkerrechtlichen Kritik aushalten dürfte; aber Staaten und Reiche werden weder auf der Kanzel noch auf dem Katheder – sie werden auf dem Schlachtfelde durch offene brutale Gewalt gegründet.

Jede Gewalttätigkeit, Eroberung aber ist schon an und für sich ungerecht, Verbrechen. Bei jeder Eroberung sind Ungerechtigkeit, ja Verbrechen mit im Spiele; auch bei der unsrigen waren sie es, nur mit dem Unterschiede, daß wir sie zwar benutzten, aber nicht selbst Verbrecher, nicht die Gebote der Natur, nicht die der Offenbarung je verletzten. Hatte Mexiko ein Recht auf Texas, so hat es dieses durch Unrecht, das es an uns begangen, nicht nur längst eingebüßt, die hohen Interessen der Freiheit, politischer sowohl als religiöser, forderten dringend die Losreißung von dem verdorbenen Mutterlande.

So räsonierten unsere großen Revolutionsmänner. Ich gestehe zwar, daß diese Räsonnements nichts weniger als stichhaltig von den Hugo Grotius' und Puffendorfs gefunden werden dürften; allein was wäre aus England, was aus der Welt geworden, wenn Professoren des Völkerrechtes das Rad der Weltgeschichte gerollt hätten! Wer gab den britischen Handelsleuten Rechte auf Ostindien, wer ihren Königen auf Massachusetts, Rhode Island, Virginien?

Das Recht des Stärkeren, nicht wahr? Es hat aber dieses Recht des Stärkeren wieder bei allem Unrechte, das es in seinem Gefolge mit sich bringt, sehr viel Gutes, ja so viel Gutes, daß es das Schlimme bei weitem überwiegt. Die gewaltsame Besitzergreifung der Wildnisse von Massachusetts und Virginien hat eines der größten Reiche der neueren Zeiten gegründet, die Faktoreien in Ostindien werden einst ein in tausendjährigem Schlafe gelähmtes Volk zu gleichem Ziele führen! Das Weltrad wird in seinem raschen Laufe nicht von Zwerg-, sondern von Riesenhänden getrieben. In seinen gewaltigen Revolutionen zermalmt es die Schwachen, die Stärkeren bewältigen – leiten es. Solche starken Riesenhände waren auch – lächeln Sie, soviel Sie wollen – in Texas tätig; wahre Riesenseelen, Männer, ich wiederhole es, die unter den groben Filzhüten die feinsten Köpfe, unter den rauhen Hirschwämsern die wärmsten Herzen, die eisernsten Willen bargen, die Großes wollten, die dieses Große auch mit den geringsten Mitteln durchgeführt, religiöse und politische Freiheit errungen, einen neuen Staat gegründet haben, der, so unbedeutend er Ihnen gegenwärtig erscheinen mag, sicher zu großen Dingen bestimmt ist.

Auf alle Fälle gereicht die Gründung dieses Texas-Staates unserer Handvoll von Bürgern zur Ehre. Sie hat bewiesen, diese Handvoll, wie sie die größten Dinge mit den geringsten Mitteln durchzuführen wisse.

Wir haben der Fehler viele, sehr viele, aber wir besitzen auch wieder Tugenden, die siegend über diese Fehler und Gebrechen hervortreten, uns Großes verbürgen. Die Tugenden sind aber eine unerschütterliche Willensfestigkeit und ein – alles aufopfernder Patriotismus, ein Patriotismus, der selbst in der tiefsten moralischen Verworfenheit noch glänzend sich bewährt. Nicht betrauern, nicht bemitleiden dürfen wir Bob, aber seinem aufopfernden Patriotismus Gerechtigkeit widerfahren lassen, das dürfen wir. Und wo ein solcher Patriotismus herrscht, läßt sich Großes erwarten.«

Der Oberst schwieg und erhob sich.

Seine Zuhörer blieben jedoch sitzen, schauten Bilder und Armleuchter, Fußteppiche und Bouteillen an – keiner sprach ein Wort. Mehrere Minuten herrschte eine tiefe Stille.

Endlich stand der General auf

»Oberst!« sprach er, »Ihr habt uns da etwas erzählt, auf das ich, so wahr ich lebe, nichts zu sagen weiß. Ich kann nicht, auf Ehre! Ich kann nicht. Wunderbare Gedanken durchkreuzen mir das Gehirn. Die Skizze des Krieges, die Aufschlüsse, die Ihr uns über den Ursprung desselben, den Fortgang gabet, sind sehr dankenswert. Ihr gabt uns in der Tat einen Leitfaden, mit Hilfe dessen wir die Zustände Texas' erst jetzt richtig zu beurteilen imstande sind. Das ist, wie gesagt, höchst dankenswert. Auch stimmt, was Ihr von dem Treffen am Salado, der Belagerung von Bexar, der Schlacht bei Louisburg sagtet, vollkommen mit dem überein, was wir bereits aus offiziellen und nichtoffiziellen Berichten wissen. Wir danken Euch verbindlichst dafür. Nur Eure Geschichte mit Bob – verzeiht mir, diese Eure Geschichte mit Bob, Oberst, diese Geschichte, so wahr ich lebe! – ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll! Je länger ich darüber nachdenke, desto seltsamere Gedanken kommen mir. Wenn ich nicht wüßte, daß Ihr von einem guten, einem unserer besten Häuser, fürwahr, Oberst –!«

»Es läßt sich, meiner Seele, nichts darauf sagen«, fiel Oberst Oakley ein, »ganz bizarre Gedanken kommen einem.«

Der Texaser versetzte ruhig, doch ein bißchen spöttisch: »Es sollte mir leid tun, Gentlemen, euren zarten Gewissen einen Stachel zurückgelassen zu haben. Erinnert euch jedoch, daß ihr es waret, die mich aufgefordert zu erzählen, wie ich nach Texas kam. Das tat ich nun, und da mich mein Geschick mit Bob und dem Alkalden verflochten, ja ich recht eigentlich durch die beiden in das von Texas hineingezogen worden, so mußte ich ihrer wohl erwähnen. Doch, wie gesagt, sollte es mir unendlich leid tun, euch auch nur den leisesten Skrupel verursacht zu haben. Tröstet euch jedoch, denn auch ich hatte diese Skrupel, und lange hatte ich sie; jetzt aber sind sie mir vergangen; denn allmählich sah ich ein, daß mein Freund, der Alkalde, der, ich versichere euch, gleichfalls aus sehr gutem Hause ist, ganz recht hatte, wenn er sagte, daß es uns wahrlich nicht zukomme, über Menschenwert und Unwert das Endurteil abzugeben oder gar uns über arme Teufel zu schockieren, durch die der große Staatsmann droben weit wichtigere Endzwecke erreicht als wir mit einem ganzen Dutzend kleiner – reicher Teufel.«

Er verbeugte sich und verließ dann den Saal.

Es entstand wieder eine Pause.

»Wollen darüber ausschlafen«, riefen endlich mehrere Stimmen.

»Ausschlafen?« schrie der rotnasige Steward, scherzweise der Mayordomo genannt, »ausschlafen! Ohne Punsch ausschlafen – ohne Punsch, der erst Skrupel löset!«

»Freund Phelim!« gab ihm der Supreme Judge zur Antwort, »es ist Zeit zu gehen und zu schlafen, die Uhr weiset auf Mitternacht.«

»Hohe Zeit!« bekräftigten alle.

»Ausschlafen! Mitternacht!« schrie Phelim. »Honies! hochachtbare, ehrenhafte, tapfere, großmächtige Honies! Ausschlafen, ohne euren Rum, euren Punsch getrunken zu haben, Honies!«

»Phelim! Phelim!« rief lachend der General, »ich glaube, du hast statt unser getrunken. Halte dafür, wollen den Punsch und Rum auf das nächste Mal lassen.«

»Aufs nächste Mal lassen!« schrie wieder mit gellender Stimme Phelim. »Um Jasus, ja Sankt Patricks willen! Hochachtbare Herren! Das nächste Mal, bedenkt, Herren! Das nächste Mal seid ihr alle, wo Kishogue ist. Erbarme dich ihrer, St. Patrick! Sie wissen nicht, was sie tun!«

Und so schreiend, heulend hopste, sprang der Irländer so toll im Saale herum!

»Den Punsch aufs nächste Mal!« schrie er außer sich, »den Johannistrunk verschmähen! – Wollt ihr? Wißt ihr, was ihr tut? St. Patrick!« heulte er wieder, »sie wissen nicht, was sie tun, wissen nicht, daß sie sich Kishogues Fluch zuziehen.«

»Kishogues Fluch!« rief lachend Oberst Oakley.

»Lacht nicht Oberst! Lacht nicht! Bitte, beschwöre Euch, lacht nicht, sonst weint Ihr, ehe vierundzwanzig Stunden vergangen.«

»Was will nur der närrische Bursche?« fragte, der Tür zutretend, der General.

»Kishogues Fluch!« schrie abwehrend Phelim.

»Was habt Ihr aber mit Eurem Kishogue?« rief wieder der General. »Ihr habt des Kishogue zuviel, sehe ich.«

»Zuviel?« schrie der Irländer. »Zuviel?« heulte er, mit Händen und Füßen um sich schlagend.

»Was ist Euch, Phelim? Was habt Ihr mit Eurem Kishogue?«

»Was ich mit Kishogue habe? Wollt ihr's wissen, was ich habe? Ganz Irland weiß es. Wollt ihr? Wollt ihr? – O tut's doch, fürtrefflichste, hochachtbarste, gewaltigste Herren! Tut, hört doch, geht nicht eurem Untergange entgegen!«

»Wohl, so sag an!« sprach ernster der General.

»Ei, will, will!« sprudelte der Irländer heraus. »Will, wenn Ihr hören wollt. Wer Ohren hat, zu hören, der höre!«

Mit rollenden Augen hob er an:


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