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Achtes Kapitel.

O höchst gerechter Richter! Spruch war's. – Kommt,
Bereitet Euch.

Der Kaufmann von Venedig.

Es ist keineswegs meine Absicht, die Formen des schottischen Criminalverfahrens genau zu beschreiben, auch bin ich nicht gewiß, daß ich einen verständlichen und genauen Bericht davon liefern könnte, der die Kritik der Herren von der langen Robe aushalten würde. Ich fasse mich daher kurz.

Die Papiere, welche Effie's frühere Aussagen enthielten, und der erwähnte Brief Robertson's, den er aus dem Gefängniß geschrieben, wurden nun dem Gericht vorgelegt. In jenen fand sich etwa das, was die Sachwalter bereits angeführt. Der Aufforderung ihres Liebhabers zufolge, dessen Namen sie standhaft verschwieg, habe die Beklagte, nachdem sie Sattelbaum's Haus verlassen, sich zu jenem Weibe begeben. Auf eine böse Nachricht, die sie dort als Kindbetterin erfahren, sei sie sehr krank geworden. Worin aber diese Nachricht bestanden, wo die Frau wohne, wie sie heiße, und andere Nebenumstände, hatte sie durchaus nicht sagen wollen. Ihr könne es nicht helfen, erklärte sie stets auf diese Fragen, und auch das geschehene Unglück nicht wieder gut machen, wohl aber ein neues verursachen. Als sie wieder zum Bewußtsein gekommen, und man ihr gesagt, das Kind sei indeß gestorben, habe sie der Alten bittere Vorwürfe gemacht, und sie des Mordes beschuldigt, worauf diese sie sehr schlecht behandelt und sie so in Furcht gesetzt, daß sie in ihrer Abwesenheit, so krank sie auch gewesen, sich fortgeschlichen und nach St. Leonard's gegangen. Ihrem eigenen Geständniß nach hatte sie sich über ihren Zustand weder früher noch später ausgesprochen. Der vorgelegte Brief Robertson's war aus der Zeit, in welcher er und Wilson den Plan zu ihrer beiderseitigen Flucht entworfen hatten. Einige Worte in demselben deuteten auf eine Hoffnung dieser Art hin. Doch nur dem Kundigen verständlich, konnten sie die Spur des nicht genannten Briefstellers auf keine Weise verrathen.

Mehrere Zeugen für und wider die Gefangene wurden nun abgehört, über ihren früheren Ruf, so wie über ihr späteres Betragen befragt. Unter jenen trat Frau Sattelbaum auf. Mit Wärme und Innigkeit sprach sie zu Effie's Lobe, und helle Thränen flossen über ihre Wangen; ihre eigene Tochter hätte ihr nicht lieber sein können, sagte sie. Die Gutmüthigkeit der wackern Frau erwarb ihr allgemeines Wohlwollen. Nur Sattelbaum's Beifall wurde ihr nicht zu Theil. »Dieser Ihr Niklas Novit versteht sich nicht darauf, Zeugen zu wählen,« flüsterte er Stummendeich zu. »Mußte er da ein Weib herbringen, die schnattert und schluchzt, und den Herren Richtern was vorgreint? Mich hätte er citiren sollen. Ich wollte ein Zeugniß abgelegt haben, daß sie ihr kein Haar auf ihrem Haupte hätten krümmen dürfen.«

»Geht es nicht noch?« fragte der Lord. »Ich will Novit einen Wink geben.«

Sattelbaum erklärte ihm jedoch, daß dieß jetzt von keinem Nutzen sein würde, er hätte debito tempore vorgeladen werden müssen. Dabei wischte er sich mit seinem seidenen Taschentuche wichtig den Mund, und nahm wieder die Miene und Stellung eines aufmerksamen, wohl unterrichteten Zuhörers an.

Der erste Vertheidiger der Beklagten kündigte jetzt in wenigen Worten an, daß er im Begriff sei, die wichtigste Zeugin aufzurufen, von deren Aussage die Sache größtentheils abhänge. »Gerichtsdiener,« sagte er, »ruft Jeanie Deans, die Tochter des Meiers David Deans von St. Leonard's, herein!«

Als er diese Worte aussprach, fuhr die arme Gefangene zusammen und bog sich weit über die Schranke, nach der Seite hin, wo ihre Schwester erscheinen sollte. Und als die aufgerufene Zeugin mit dem Gerichtsboten eintrat, und sich langsam dem Sitzungstisch näherte, veränderten sich plötzlich Effie's Züge; der Ausdruck der Furcht und Scham wich dem des heißen inbrünstigen Flehens. Mit zurückfliegendem Haar bog sie sich ihr entgegen und streckte ihre Hände nach ihr aus. Sie sah sie mit ängstlich bittenden Augen an, die in Thränen glänzten, und mit einem Ton, der durch alle Herzen ging, rief sie laut: »O Jeanie, Jeanie, rette mich, rette mich!«

Mit einem verschiedenen, seiner stolzen Unbeugsamkeit völlig angemessenen Gefühl, zog sich der alte Deans noch weiter zurück, da seine Tochter als Zeugin erscheinen sollte. Jeanie warf beim Eintreten einen scheuen Blick nach dem Sitz, wo sie ihn verlassen hatte, doch sein ehrwürdiges Antlitz war ihr nicht sichtbar.

»O Mylord, dies ist das Härteste,« flüsterte er Stummendeich zu, der neben ihm saß, und dabei rieb er sich vor Unruh die Hände wund; »wenn ich das überstehe! – Mir schwindelt der Kopf. – Allein der Herr ist mächtig in seinem schwachen Knechte.« – Nach einigen Augenblicken stillen Gebetes fuhr er wieder in die Höhe und rückte nach und nach in sichtbarer Ungeduld wieder auf seinen früheren Platz.

Jeanie war indeß zu dem Tisch getreten, und unfähig, ihren Gefühlen zu widerstehen, streckte sie die Hand nach ihrer Schwester aus. Effie war ihr so nahe, daß sie sie mit der ihrigen ergreifen, sie an ihren Mund drücken, mit Küssen bedecken und in Thränen baden konnte, mit einer Inbrunst, als sei ihre Schutzheilige vom Himmel herabgestiegen, sie zu retten; während Jeanie ihr Gesicht mit der andern Hand bedeckte und schmerzlich weinte. Der Anblick war herzzerreißend. Viele der Zuschauer vergossen Thränen. Selbst der Lord Oberrichter mußte erst seine Bewegung zu bemeistern suchen, um die Zeugin zur Fassung zu ermahnen, die Gefangene vor den heftigen Ausbrüchen des Gefühls zu warnen, die Ort und Zeit nicht gestatteten.

Er forderte nun Jeanie den feierlichen Zeugeneid ab: die Wahrheit zu sagen, und keine Wahrheit zu verbergen, so weit sie sie wüßte und darum befragt würde, im Namen Gottes, und wie sie es einst vor Gottes Richterstuhl verantworten könnte – eine furchtbare Beschwörung, die auch bei den Verstocktesten selten ihres Eindrucks verfehlt und selbst die Redlichsten erschüttert. Jeanie, in der frömmsten Ehrfurcht vor Gott erzogen, wurde von dieser feierlichen Anrufung seines Namens tief ergriffen, doch zugleich über jede andere Rücksicht hinweggehoben, als die allein, sich mit reinem Gewissen auf ihn berufen zu können. Mit leisem aber deutlichen und ehrfurchtsvollen Tone sagte sie dem Richter Wort für Wort die Eidesformel nach. Als dies beendet war, wandte er sich mit einigen mild ermahnenden Worten an sie, und forderte sie nochmals auf, die Wahrheit zu sagen.

Man legte ihr hierauf die üblichen Fragen vor: Ob ihr Jemand das Zeugniß, welches sie abzulegen gedenke, vorgeschrieben? Ob ihr Jemand eine Belohnung dafür versprochen? Ob sie irgend einen Groll gegen den Anwalt der Krone, dem sie als Zeugin gegenüberstehe, in ihrem Herzen trage? – Sie beantwortete alle diese Fragen mit einem ruhigen Nein. Zu großem Aergerniß aber gereichte der Inhalt derselben ihrem Vater, der nicht wußte, daß sie jedem Zeugen vorgelegt wurden.

»Nein, nein,« rief er laut genug, um von den Umstehenden gehört zu werden, »mein Kind ist nicht gleich der Wittwe von Tekoa – und Keiner hat ihr Worte in den Mund gelegt.«

Einer von den Richtern, der vielleicht besser mit den Gesetzbüchern, als mit den Büchern Samuelis bekannt war, fühlte sich geneigt, augenblicklich nach dieser Wittwe von Tekoa zu forschen; denn er vermuthete, daß diese die Zeugin zu falschem Zeugniß habe verleiten wollen. Doch der Präsident, besser in der biblischen Geschichte bewandert, flüsterte seinem gelehrten Collegen die nöthige Erklärung zu, und die durch dieses Mißverständniß veranlaßte Pause war in so weit von Nutzen, daß sie Jeanie Deans Zeit gewährte, sich zu ihrer schmerzlichen Aufgabe zu sammeln.

Der gerichtliche Anwalt der Beklagten, ein Mann von großer Kenntniß und Erfahrung, sah die Nothwendigkeit ein, der Zeugin Zeit zu lassen, sich zu sammeln. Er begann daher mit einigen unbedeutenden Fragen. In seinem Herzen hegte er indeß den Argwohn, daß sie komme, falsches Zeugniß in der Sache ihrer Schwester abzulegen.

»Sie sind, glaube ich, die Schwester der Gefangenen?«

»Ja, Herr.«

»Aber nicht die rechte Schwester?«

»Wir sind von verschiedenen Müttern.«

»Sie sind mehrere Jahre älter als Ihre Schwester?«

»Ja, Herr.«

Nachdem er sie durch diese und ähnliche unbedeutende Fragen auf Wichtigeres vorbereitet zu haben glaubte, fragte er, ob sie nicht in der letzten Zeit, als ihre Schwester bei der Familie Sattelbaum gewesen, ihren veränderten Gesundheitszustand bemerkt habe?

Jeanie bejahte es.

»Und sie sagte Ihnen die Ursache, meine Liebe, nicht wahr?«

»Ich bedaure, meinen Herrn Collegen unterbrechen zu müssen,« fiel hier der Anwalt der Krone ein, indem er aufstand; »ich stelle es aber dem Lord Oberrichter anheim, ob diese Frage nicht eine verleitende ist?«

»Wenn dieser Punkt bestritten werden soll,« sagte der Oberrichter, »so muß die Zeugin indessen entfernt werden.«

»Keineswegs,« sagte Effie's Vertheidiger; »wenn der königliche Anwalt gegen die Form meiner Frage etwas einwendet, so will ich sie anders stellen. – Befragten Sie Ihre Schwester darüber, als Sie dieselbe übel aussehend fanden? Fassen Sie Muth, mein Kind – reden Sie.«

»Ich fragte sie, was ihr fehle,« erwiederte Jeanie.

»Gut; besinnen Sie sich. – Und was gab sie Ihnen für eine Antwort?«

Jeanie schwieg und wurde todtenblaß. Nicht daß auch nur der geringste Gedanke an eine Unwahrheit ihr in den Sinn kam; allein sie zögerte, ihrer unglücklichen Schwester den letzten Funken der Hoffnung zu rauben.

»Fassen Sie Muth,« wiederholte der Anwalt. – »Ich frage, was sagte Ihnen Ihre Schwester, als Sie sie über ihre Krankheit befragten?«

»Nichts,« erwiederte Jeanie leisen Tones, und doch wurde das halb geflüsterte Wort bis zum äußersten Ende des Gerichtssaales gehört, ein so tiefes Schweigen herrschte in den bangen Augenblicken zwischen des Anwalts Frage und ihrer Antwort.

Dem Rechtsgelehrten sank der Muth; doch er faßte sich schnell und fuhr fort: »Nichts? Sie meinen im Anfang. – Als Sie aber von Neuem in sie drangen, sagte sie Ihnen nicht die Ursache ihrer Krankheit?«

Diese Frage geschah in einem Tone, der ihr die ganze Wichtigkeit ihrer Antwort begreiflich machen sollte. Sie kannte dieselbe nur allzu gut. Allein die Bahn war gebrochen, und mit geringerem Zögern als zuvor, erwiederte sie jetzt: »Weh mir! Sie sprach niemals eine Sylbe darüber.«

Ein dumpfes Seufzen ging durch die Versammlung. Tiefer und schmerzlicher ertönte es aus der Brust des beklagenswerthen Vaters. Die geheime Hoffnung, an der er sich unwillkürlich gehalten, war nun zerstört, und bewußtlos stürzte der ehrwürdige Greis vorwärts hin, den Kopf zu den Füßen der erschrockenen Jeanie gekehrt. Mit leidenschaftlicher Ohnmacht sträubte sich die unglückliche Jeanie gegen ihre Wachen. »Laßt mich zu meinem Vater! – Ich will zu meinem Vater! – Ich will zu ihm! Er ist todt. – Ich habe ihn getödtet!« rief sie mit wahnsinnigem Schmerz.

Selbst in diesen Augenblicken der bittersten Angst und einer allgemeinen Verwirrung verlor Jeanie jene Besonnenheit nicht, die sie ihrem tiefen, festen Gemüth verdankte. »Es ist mein Vater – es ist unser Vater,« sprach sie sanft zu denen, die sie von dem Greise trennen wollten, als sie sich zu ihm niederbeugte, sein graues Haar zurückschlug und ihm emsig die Schläfen zu reiben begann. Tief gerührt gab der Lord Oberrichter Befehl, Vater und Tochter in ein nah gelegenes Zimmer zu führen und ihnen sorgfältig Hülfe zu leisten. Die Gefangene sah ihnen starr nach, als wollten ihre Augen aus ihren Höhlen treten, während man den Vater hinaustrug und Jeanie langsam folgte. Als sie nicht mehr zu sehen waren, schien sie in ihrem verlassenen, trostlosen Zustande einen Muth zu finden, den sie bis jetzt noch nicht gezeigt. »Das Bitterste ist nun vorüber,« sagte sie; dann wandte sie sich kühn an das Gericht: »Gefällt es Ihnen, jetzt fortzufahren, meine Herren? Der schwerste Tag muß ja auch einmal zu Ende gehen.«

Der Lord Oberrichter, der tiefen Antheil an jenen erschütternden Vorgängen genommen, erstaunte, sich von der Beklagten an seine Pflicht erinnert zu sehen. Er faßte sich und fragte Effie's Sachwalt, ob er noch andere Beweise beizubringen habe. Muthlos verneinte es derselbe. Die Sachwalter dieser und jener Seite wandten sich jetzt wechselsweise an die zur Entscheidung gewählten Geschwornen, und setzten ihnen ihre Gründe und Gegengründe weitläuftig auseinander. Während dieser langen und gelehrten Reden schlief Sattelbaum fest ein.

Nach Beendigung derselben sprach der Lord Oberrichter noch einige ernste Worte über die Pflicht der Richter und Geschwornen, den bestehenden Gesetzen gemäß zu verfahren. Er wolle jedoch nicht das Urtheil der Geschwornen dadurch zu bestimmen suchen, fügte er hinzu. Wenn ihr Eid und ihre Pflicht ihnen erlaubten, einen günstigen Ausspruch zu thun, so würde er sich gewiß so sehr darüber freuen, wie nur irgend Einer in der Versammlung; denn nie sei ihm die Pflicht seines Amtes schwerer geworden, als am heutigen Tage, und gern sähe er sich der noch peinlichern überhoben, die ihm sonst bevorstände.

Als er geendet hatte, verbeugten sich die Geschwornen, und gingen unter Vortritt eines Gerichtsboten in das zu ihrer Berathung bestimmte Zimmer.


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