Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.

Dem Menschen in der Prüfungszeit
Ist dieses Recht verliehen,
Wenn Stürme toben nah und weit,
Zum Himmel aufzuschauen.

Watts's Hymnen.

Mit festem Schritte ging Deans in das Zimmer seiner Tochter, entschlossen, sie in dem für ihn sehr zweifelhaften Falle ganz dem Licht ihres eigenen Gewissens zu überlassen.

Das kleine Gemach war sonst das gemeinschaftliche beider Schwestern gewesen, und das kleine Bett, welches Jeanie für Effie eingerichtet hatte, da sie sich wegen ihrer Unpäßlichkeit geweigert, wie in glücklichern Zeiten das Lager mit ihrer Schwester zu theilen, stand noch darin. Die Augen des alten Deans richteten sich unwillkürlich auf diesen Gegenstand, als er eintrat. Eine Fülle quälender Erinnerungen drängte sich ihm auf, und beraubte ihn fast der Fähigkeit, seiner Tochter zu eröffnen, weshalb er komme. Ihre gegenwärtige Beschäftigung erleichterte ihm indeß diese Mittheilung. Sie blickte ernst auf ein Stück Papier, welches sie in der Hand hielt. Es war die Vorladung, wovon Mittelburg gesprochen. Während seines Gesprächs mit dem Vater hatte er ihr dieselbe durch einen Gerichtsboten überbringen lassen.

Diese Maßregel kam dem alten Deans sehr zu statten, indem sie ihm jede peinliche Erörterung ersparte. Mit dumpfer, zitternder Stimme sagte er daher nur die Worte: »Ich sehe, Du weißt schon, um was es sich handelt.«

»O Vater, wir sind grausam zwischen die Gesetze Gottes und die der Menschen gestellt. – Was sollen wir thun? – Was können wir thun?«

Wir müssen bemerken, daß Jeanie nicht den geringsten Zweifel hegte, ob es Recht sei, vor Gericht zu erscheinen. Spitzfindigkeiten dieser Art waren freilich oft genug in ihrer Gegenwart durchgefochten worden, da sie aber völlig außer ihrem Bereich lagen, gab sie, wenn gleich eine geduldige, doch nie eine theilnehmende Zuhörerin dabei ab. Ihre Unruhe bei dieser Vorladung war daher eine ganz andere, als die ihres Vaters, und die Folge ihres Gesprächs mit dem Unbekannten bei den Muschat-Steinen. Sie fürchtete, man ziehe sie nur vor Gericht, um ihr die grausame Wahl zu lassen, ob sie ihre Schwester durch einen Meineid retten, oder durch die Wahrheit opfern wolle. Und so ausschließlich war sie mit diesem Gedanken beschäftigt, daß sie des Vaters Anrede: »Ich sehe, Du weißt schon um was es sich handelt,« auf jenen Rath bezog, der ihr mit so furchtbarer Heimlichkeit war ertheilt worden. Sie sah ihn mit ängstlichem Erstaunen an. Ein Schauder faßte sie, und seine nächsten Worte waren nicht geeignet, sie zu beruhigen.

»Ich bin immer der Meinung gewesen, liebe Tochter,« sagte er, »daß in Dingen zweifelhafter Art jeder Christ sein eigenes Gewissen zum Wegweiser nehmen sollte. Prüfe also Dein Gemüth hinlänglich, und handle, wie Du handeln zu müssen glaubst.«

»Vater,« sagte Jeanie, die vor dem Sinn erbebte, den sie diesen Worten unterlegte, »kann dies – kann dies etwas Zweifelhaftes sein? Gedenke, Vater, des achten Gebots: Du sollst kein falsch Zeugniß reden wider Deinen Nächsten.«

David Deans schwieg; denn indem er ihre Rede auf die Schwierigkeiten bezog, die er sich vorstellte, schien es ihm als ob sie, ein Weib, eine Schwester, kaum das Recht habe, so bedenklich bei einem Schritt zu sein, den er, ein Mann, geprüft im Glauben, sich nicht scheue ihr zu gestatten. Ja, hatte er sie nicht gewissermaßen aufgefordert, den Gefühlen ihres Herzens zu folgen? Doch blieb er noch bei dem früher gefaßten Vorsatz, bis seine Blicke wieder auf das kleine Bettchen fielen, und Effie's Gestalt sich ihm vergegenwärtigte, wie sie dasaß, das Kind seines Alters, bleich, abgehärmt, ein Bild des Jammers. Diese Erscheinung seiner Einbildungskraft riß ihn fort. Beinahe unwillkürlich sprach er Einiges, sich und Jeanie zu überreden, was von ihr verlangt werde, könne unter gewissen Bedingungen erlaubt sein.

Doch bald warf er sich vor, daß er so die Glaubensfestigkeit seiner Tochter untergrabe. Er hielt plötzlich inne. »Jeanie,« fuhr er mit verändertem Tone fort, »ich sehe wohl, unsere irdischen Triebe sind zu mächtig für mich in dieser Stunde der Prüfung, als daß sie mir erlaubten, meine eigenen Pflichten im Auge zu behalten, oder Dich in der Deinigen zu leiten. Ich will nichts mehr darüber sagen, die Versuchung ist allzu groß. – Jeanie, wenn Du kannst, wenn Du es vor Gott und Deinem Gewissen darfst, sprich für diese Unglückliche« – seine Stimme stockte – »sie ist Deine Schwester im Fleisch, unwürdig, wie sie auch sein mag, sie ist die Tochter einer Seligen im Himmel, welche Dir, Jeanie, eine Mutter gewesen, anstatt Deiner eigenen. – Doch, wenn Dein Gewissen Dir nicht erlaubt vor Gericht für sie aufzutreten, folge Deinem Gewissen, Jeanie, und Gottes Wille geschehe!« Er ging und ließ seine Tochter in dem peinlichsten Zustande zurück.

So schweres Leiden David Deans auch bereits zu tragen hatte, so wäre es doch kein geringer Zuwachs desselben gewesen, hätte er ahnen können, seine Tochter glaube sich von ihm aufgefordert, eins jener göttlichen Gebote zu übertreten, die von allen Christen ohne Unterschied als die heiligsten geachtet werden.

»Ist es möglich?« sagte Jeanie, als die Thür sich hinter ihrem Vater schloß, »sind dies wirklich seine Worte, oder hat der Feind der Menschen sich seiner Stimme und Gestalt bedient, Gewicht zu geben den Rathschlägen, die da tödten? – Einer Schwester Leben, und ein Vater, der mir andeutet, wie sie zu retten! – O schütze mich, Gott! – Dies ist eine furchtbare Versuchung!«

Indem sie von einem Gedanken zum andern schweifte, fiel es ihr ein, ihr Vater könne das achte Gebot buchstäblich genommen haben, als untersage es nur falsches Zeugniß wider unsern Nächsten, und nicht eine Unwahrheit zu Gunsten der Angeklagten. Allein ihr klarer, richtiger Sinn verwarf augenblicklich eine so beschränkte und seines Urhebers so unwürdige Auslegung des Gesetzes. – Sie war in der gewaltsamsten Bewegung. Voll Scheu, sich ihrem Vater mitzutheilen, dessen Entscheidung sie vielleicht verwerfen mußte, – in herzzereißendem Jammer um ihre Schwester – bitterer noch durch das Bewußtsein, sie habe das Mittel der Rettung in ihrer Gewalt, und dürfe es nicht anwenden – wurde sie hin und her geschleudert, wie ein Schiff auf offener Rhede von dem Toben des Sturmes, und wie dieses festgehalten von einem sichern Tau und Anker – dem Glauben an die Vorsehung und dem Entschluß ihre Pflicht zu thun.

An Butler's Zuneigung und strengem Pflichtgefühl hätte sie in dieser Lage eine tröstende Stütze finden können; doch wegen der fortwährenden Beschränkung seiner Freiheit erschien er jetzt nicht zu St. Leonard's. So war sie denn auf sich selbst, und auf ihr eigenes Gefühl, was recht und unrecht sei, angewiesen.

Schon längst hatten beide Schwestern einander zu sehen gewünscht, und noch immer wurde ihnen dies versagt. Vorzüglich deshalb, weil man eher etwas über Robertson von ihnen herauszulocken hoffte, wenn man sie getrennt hielt. Bei einem neuen Versuch Jeanie's, zu ihrer Schwester eingelassen zu werden, befragte man sie über diesen Gegenstand. Sie erklärte fest und bestimmt, sie habe nie etwas von Robertson gewußt, und habe ihn nie gesehen, als in jener Nacht, wo er sie berufen, ihr einen Rath wegen ihrer Schwester zu geben. Was für ein Rath dies sei, sagte sie, müsse zwischen Gott und ihrem Gewissen bleiben. Von Robertson's früherem Leben, seinen künftigen Plänen, seinem gegenwärtigen Aufenthalt wisse sie nichts, und habe demnach nichts mitzutheilen.

Auch von Effie war nichts zu erfahren, obgleich aus andern Gründen. Umsonst versprach man ihr Milderung ihrer Strafe, und sogar völlige Begnadigung, wenn sie Alles aussagen würde, was ihr von ihrem Geliebten bekannt sei. Sie antwortete nur mit Thränen, oder wenn man sie allzusehr mit Fragen peinigte, mit unehrerbietigem Trotz.

In der Hoffnung, sie werde noch zu diesem Geständniß zu bewegen sein, hatte man es stets verzögert, ihre eigene Sache zum Spruch kommen zu lassen. Ermüdet von ihrer Hartnäckigkeit, setzte das Gericht endlich den Entscheidungstag fest.

Jetzt – und jetzt erst erinnerte sich Scharfenklau seines Effie gegebenen Versprechens, die Schwester zu ihr vorzulassen; oder vielmehr plagte ihn Frau Sattelbaum, seine Nachbarin, so unaufhörlich mit Vorstellungen, welch eine heidnische Grausamkeit es sei, die beiden armen unglücklichen Kinder auseinander zu halten, daß er die gewünschte Erlaubniß gab.

Am Tage vor dem zu der furchtbaren Entscheidung bestimmten, wurde es Jeanie nach so langer Trennung vergönnt, ihre unglückliche, tiefgesunkene Schwester in der Wohnung der Schuld und des Elends wiederzusehen.


 << zurück weiter >>