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Zehntes Kapitel.

Ihr Wesen, ihre Miene priesen alle,
Höflich, doch schüchtern, sanft, und doch bescheiden;
Ihr Auge zeigte jugendliche Freude
Und jeder Blick sprach Herzensruhe aus.

Crabbe.

Die Besuche des Lord wurden wieder zu Alltagsgegenständen, wovon nichts zu erwarten, noch zu fürchten war. Könnte ein Liebender eine Schöne gewinnen, wie man sagt, daß die Schlange den Vogel bezaubert, indem sie denselben beständig mit ihren grünen Augen anstarrt, so würde Stummendeich dies ohne Zweifel erreicht haben. Doch die Kunst der Bezauberung scheint unter die verlornen Künste zu gehören, und ich erfahre nicht, daß dieser beharrlichste aller Anstarrer irgend eine Wirkung hervorbrachte, außer einem gelegentlichen Gähnen.

Unterdessen wuchs Effie Deans unter der liebevollen Pflege ihrer Schwester zur blühenden Jungfrau heran, und ward wegen ihrer ausgezeichneten Schönheit von allen die sie sahen bewundert. Um ihr anmuthiges Haupt wogte eine Fülle glänzend brauner Locken, und senkte sich, aus einem blau seidenen Netze quillend, auf ein jugendlich lächelndes Antlitz, das Bild der Gesundheit und Freude. Ihre ländliche, eng anschließende Kleidung von einer dunklen Farbe, zeigte die schlanke, leichte, wohlgebildete Gestalt im vortheilhaftesten Lichte.

Diese wachsenden Reize, dieser Jugendglanz hatten dennoch nicht die Macht, den unerschütterten Sinn und die beharrlichen Blicke des Lord Stummendeich von Jeanie abzuziehn, obgleich diese längst über die Jahre ihrer Blüthe hinaus war, und auch früher nie den körperlichen Reiz ihrer Schwester besessen. Jedes andre Auge jedoch, als das seinige, konnte dieses frisch blühende Schönheitsbild nicht ohne Vergnügen betrachten. Der Reisende, schon der Stadt, dem Ziel seiner Bahn nahe, hielt sein Pferd an, die liebliche Gestalt anzuschauen, die mit ihrem Milcheimer auf dem Haupt so leicht und frei unter ihrer Bürde dahin schwebte, daß diese eine Zierde, nicht ein Hinderniß für sie schien. Die Jünglinge der benachbarten Vorstadt, die Abends zu jugendlichen Spielen und Belustigungen heraus in's Freie kamen, lauerten auf Effie's Schritte, und stritten mit einander um den Vorzug, von ihr bemerkt zu werden. Man nannte sie die Lilie von St. Leonard's, ein Name, den sie eben sowohl wegen ihrer Unschuld, als wegen der ungemeinen Lieblichkeit ihres ganzen Wesens verdiente.

Doch war Einiges in Effie's Gemüthsart, das nicht allein den streng urtheilenden David Deans, sondern auch die nachsichtigere Schwester ihretwegen besorgt machte. Effie war ein wenig verdorben durch die Erziehung. Des alten Mannes spät geborne Tochter, sein Schooßkindchen, hielt er sie noch lange als ein Kind, nachdem sie schon ganz herangewachsen war, und ließ sie als ein solches gewähren. Ihre Schwester hatte bei aller Liebe und Sorgfalt einer Mutter doch nicht die Gewalt einer Mutter über sie, und je älter Effie ward, um so mehr glaubte sie sich berechtigt, nach ihrem eigenen Willen zu handeln. Denn bei all ihrer Unschuld und Gutmüthigkeit, besaß die Lilie von St. Leonard's einen kleinen Vorrath von Eigendünkel und Eigensinn, und eine empfindliche Heftigkeit, zum Theil ihr angeboren, doch durch die ungezügelte Freiheit ihrer Kinderjahre um Vieles vermehrt. Eine häusliche Abendscene wird ihre Gemüthsart in deutlicherem Lichte zeigen.

Der thätige Vater war draußen beschäftigt, die geduldigen Thiere zu füttern, deren Ertrag ihn nährte, und der Sommerabend schon weit vorgerückt, als Jeanie sehr unruhig wegen ihrer Schwester ward, und zu fürchten begann, sie werde nicht zurück sein, wenn der Vater von der Arbeit hereinkomme. Er pflegte dann die Abendandacht mit seinen Kindern zu halten, und sie wußte, daß Effie's Abwesenheit ihm zu großem Verdruß gereichen würde. Diese Besorgniß lag ihr um so schwerer auf dem Herzen, da Effie schon seit mehreren Abenden immer um dieselbe Zeit verschwunden war, und ihre Abwesenheit, zuerst ganz kurz und kaum bemerkbar, sich nach und nach bis zu einer halben und einer ganzen Stunde ausgedehnt, und nun heute gar beträchtlich länger als je währte. Jeanie stand in der Thür, die Hand vor den Augen, sie vor den blendenden Strahlen der tief stehenden Sonne zu schirmen, und sah abwechselnd die verschiedenen zu ihrer Wohnung führenden Wege hinunter, ob sie irgend die schlanke Gestalt ihrer Schwester entdecken könnte. Es lag in einiger Entfernung ein weitläufiges Gehege, durch eine niedrige Bretterwand von der Heerstraße getrennt. Hierhin richtete sie oft ihre Augen, da sah sie an der Gatterthür zwei Menschen erscheinen, so plötzlich, als hätten sie bis dahin sich dicht an der Einzäunung gehalten, um nicht gesehen zu werden. Der eine, ein Mann, zog sich schnell zurück, die andre, eine weibliche Gestalt, eilte durch die Thür und kam näher, es war Effie. Sie ging auf ihre Schwester mit jener erzwungenen Lustigkeit zu, die Frauen zuweilen annehmen, ihre Verwirrung zu verbergen, und trällerte:

»Am Hügel saß der Elfenfürst,
Der Ginster grünt, der Ginster blüht;
Du holde Maid, mit munterm Lied
Nicht mehr auf die Heide du gehen wirst.«

»Bst, Effie,« sagte die Schwester, »der Vater wird gleich kommen.« Sie schwieg. »Wo bist Du so spät gewesen?«

»Es ist nicht spät,« erwiederte Effie.

»Alle Uhren in der Stadt haben schon acht geschlagen, und die Sonne ist bereits hinter die Berge gegangen. Wo kannst Du denn so spät noch gewesen sein?«

»Nirgend,« antwortete Effie.

»Und wer war Jener, der an der Gatterthür von Dir ging?«

»Keiner,« versetzte Effie wieder.

»Nirgend? – Keiner? – Ich wünsche es mögen rechte Wege und rechte Leute sein, von denen man sich bei so spätem Abend zurückhalten läßt, Effie.«

»Und ich sehe gar nicht ein, warum Du Einem immer nachzuspüren brauchst? Frage ich Dich, warum der Lord von Stummendeich einen Tag wie den andern hieher kommt, wie eine wilde Katze zu glotzen, nur sind seine Augen etwas grüner und einfältiger, daß man sich vor Langeweile fast zu Tode gähnen möchte?«

»Weil Du sehr gut weißt, daß er kommt unsern Vater zu besuchen,« erwiederte Jeanie auf diese vorwitzige Bemerkung.

»Und Schulmeister Butler, kommt der auch, um den Vater zu besuchen, der seine lateinischen Redensarten so liebt?« sagte Effie, froh, den gefürchteten Angriff abwenden zu können, indem sie den Krieg in des Feindes Gebiet hinüberspielte; und mit jugendlichem Muthwillen verfolgte sie ihren Sieg über ihre ältere, verständigere Schwester. Sie sah sie mit schlauem, etwas spöttischem Blick an, indem sie leise, aber mit Nachdruck eine Strophe aus einem altschottischen Volksliede sang:

»An der Kirchhofspfort'
Da traf ich den Lord,
Der arme Schelm, er that mir kein Leid;
Doch später kam, ach!
Sein Schreiber ihm nach –«

Hier schwieg die Sängerin, blickte ihrer Schwester ins Gesicht, und da sie Thränen in ihren Augen bemerkte, schlang sie plötzlich die Arme um ihren Hals und küßte ihr die Tropfen weg. Jeanie, obgleich verletzt und unwillig, konnte doch den Liebkosungen dieses einfachen Naturkindes nicht widerstehen, deren Gutes und Böses aus einem unwillkürlichen Triebe, nicht aus Ueberlegung entsprang. Als sie jedoch zum Zeichen völliger Versöhnung den schwesterlichen Kuß zurückgab, konnte sie den sanften Vorwurf nicht unterdrücken: »Wenn Du auch dergleichen dumme Lieder lernest, Effie, solltest Du wenigstens einen freundlichern Gebrauch davon machen.«

»Wohl hast Du Recht, Jeanie,« sagte das Mädchen, ihre Schwester inniger umschlingend, »und ich wünschte, ich hätte nie welche gelernt, und mir lieber die Zunge verbrannt, als Dich damit geärgert.«

»Laß das nur, Effie,« erwiederte die liebevolle Schwester, »ich kann nicht sehr böse werden über etwas, was Du mir sagst. Aber kränke unsern Vater nicht!«

»Ach nein – nein,« rief Effie, »und wenn es auch morgen Abend dort so viele Tänze gebe, als muntere Tänzer sich um Mitternacht am Himmel drehen, so will ich doch keinen Schritt darnach thun.«

»Tänze?« wiederholte Jeanie voll Erstaunen. »O, Effie, wie könntest Du zu einem Tanze gehen?«

Vermuthlich hätte die Lilie von St. Leonard's in ihrer jetzigen hingebenden Stimmung der Schwester ein volles Vertrauen geschenkt, und mir den Schmerz erspart, eine traurige Geschichte zu erzählen; doch das Wort Tanz hatte das Ohr des alten Deans erreicht, der in demselben Augenblick um die Ecke des Hauses biegend, seine Töchter mit seiner Gegenwart überraschte. »Tanz?« rief er mit finsterer Miene. »Tanz? – Tanz, sagtet Ihr? Ich rathe Euch, Ihr Thörinnen, auf meiner Schwelle nicht dergleichen Worte auszusprechen! Es ist ein liederlicher, unheiliger Zeitvertreib! Wer tanzte wohl, als die Israeliten, in Abgötterei versunken, vor ihrem goldenen Kalbe, und jenes unglückliche Mädchen, die Johannes des Täufers Kopf abtanzte! Und höre ich nur noch ein einziges Mal das Wort tanzen von Euch, oder denkt Ihr nur daran, daß solch ein Ding in der Welt ist, als das alberne Springen nach einer Fidel, so gewiß meines Vaters Seele bei den Gerechten wohnt, ich erkenne Euch nicht mehr für die Meinigen! – Geht hinein, Mädchen, geht hinein!« fügte er dann mit sanfterem Tone hinzu, denn die Thränen Beider, insonderheit Effie's, flossen unaufhaltsam, – »geht hinein, Ihr Kinder, und wir wollen Gott bitten, uns vor allem Unheiligen und Thörichten zu bewahren, welches mit dem Reich des Lichts streitet, und uns zur Sündhaftigkeit führt.«

David Deans' Ermahnung war, obgleich gut gemeint, doch sehr zur unrechten Zeit angebracht. Sie erzeugte einen Zwiespalt der Gefühle in Effie's Brust, und hielt sie zurück, ihrer Schwester das beabsichtigte Geständniß abzulegen. »Ich würde ihr verächtlich sein, wie der Staub zu ihren Füßen, wenn sie wüßte, daß ich viermal auf der grünen Wiese, und einmal bei Maggie Macqueen mit ihm getanzt; und sie könnte mir am Ende drohen, es meinem Vater zu sagen, und dann ganz und gar die Herrin über mich spielen. Aber hingehen will ich nicht wieder; hingehen will ich ganz gewiß nicht mehr. Ich will ein Blatt in meine Bibel legen, und das ist so gut, als hätte ich einen Eid geleistet, daß ich nicht mehr hin will.« – Und sie hielt dies Gelübde eine ganze Woche lang, in welcher Zeit sie sich überaus mürrisch und ärgerlich zeigte, eine Unart, die man sonst nicht an ihr bemerkt, oder doch nur in einem Augenblick des Widerspruchs.

Das Geheimnißvolle in allem diesen machte die verständige, wohlwollende Jeanie sehr unruhig. Und sie war es um so mehr, da sie es ihrer Schwester nicht zu leide thun mochte, den vielleicht ungegründeten Verdacht dem Vater mitzutheilen. Auch sah sie, ungeachtet ihrer Ehrfurcht vor dem guten Alten, gar wohl ein, daß er hitzig und unbeugsam sei, und seine Abneigung gegen jugendliche Vergnügungen vielleicht weiter treibe, als Vernunft und Frömmigkeit es geböten. Das plötzliche Beschränken einer bisher ungezügelten Freiheit, fürchtete sie, könnte eher Böses als Gutes wirken, und Effie das, was in ihres Vaters Grundsätzen übertrieben sei, als eine Entschuldigung ansehn, sich ganz und gar darüber hinwegzusetzen. Alles dies überdachte Jeanie vielmals mit großer Herzensangst, als ein Umstand eintrat, der geeignet schien ihrer Sorge abzuhelfen.

Frau Sattelbaum, mit welcher der Leser schon bekannt geworden, war eine entfernte Verwandte von David Deans; und da sie einen untadelhaften Ruf und ein gutes Vermögen besaß, hatte immer eine Verbindung zwischen den Familien stattgefunden. Nun bedurfte diese fleißige Frau eines Ladenmädchens zum Beistand in ihren vielfachen Geschäften, und sie meinte ihre Muhme Effie Deans werde sich besonders gut zu diesem Amt schicken.

Der Vorschlag gefiel dem alten David. Effie sollte ein gutes Gehalt, freie Beköstigung haben, sie würde unter den Augen der Frau Sattelbaum sein, die eine fromme und redliche Frau war, und nahe bei der Zollhauskirche wohnen, wo sie die erbaulichen Reden der wenigen Prediger hören könnte, die ihre Knie (nach Deans Ausdruck) nicht vor dem Baal gebeugt. Nur that es ihm leid, daß sie unter demselben Dach mit einem so weltlich-klugen Manne wie Bartel Sattelbaum leben sollte. Denn Vater Deans hatte keine Ahnung davon, daß jener ein Dummkopf sei, überzeugt, er besitze alle die rechtswissenschaftliche Kenntnisse wirklich, an welche er Anspruch machte. Allein dies gab ihm nur eine desto schlechtere Meinung von Sattelbaum, und unter andern Ermahnungen gab er seiner Tochter die Warnung mit auf den Weg, sich nicht mit den Grundsätzen eines solchen Weltkindes bekannt zu machen.

Jeanie's Gefühle, als sie sich von ihrer Schwester trennen sollte, waren zwischen der Trauer um ihren Abschied, und zwischen Hoffnung und Besorgniß getheilt. Auf der einen Seite fürchtete sie den Leichtsinn Effie's und die Versuchungen, denen sie ausgesetzt sein könnte. Auf der andern Seite glaubte sie der Klugheit und Wachsamkeit der Frau Sattelbaum völlig vertrauen zu dürfen. Auch, meinte sie, würden durch Effie's Entfernung gefährliche Bekanntschaften abgebrochen, die sie, wie zu vermuthen, in der nahen Vorstadt geknüpft. So sah sie denn der Schwester Abreise eher gern als ungern, und nur in dem Augenblick, wo sie zum erstenmal in ihrem Leben sich von einander trennen sollten, fühlte sie mit dem Schmerz des Abschieds das ganze Gewicht schwesterlicher Sorge. Als sie wieder und wieder sich unter Küssen umschlangen, und einander die Hände drückten, nahm Jeanie diesen innigen Augenblick wahr, ihrer Schwester die äußerste Vorsicht bei ihrem Aufenthalt in Edinburg zu empfehlen. Effie hörte sie still an, ohne ein einzigmal ihre langen dunklen Augenwimpern zu erheben, aus welchen die Tropfen dicht wie aus einem Springquell herabfielen. Als die Schwester geendet, schluchzte sie nochmals laut auf, küßte die liebevolle Rathgeberin, und versprach Alles, was sie ihr gesagt, zu befolgen; und so trennten sie sich.

Während der ersten Wochen leistete Effie Alles was ihre Verwandte nur von ihr erwarten konnte, und noch mehr sogar. Doch dieser Diensteifer erschlaffte bald, und Frau Sattelbaum war besonders darüber mit ihr unzufrieden, daß sie zu lange ausblieb, wenn sie in Geschäften des Ladens ausgeschickt wurde, so wie über ihr ungeduldiges Betragen, wenn sie Verweise deshalb erhielt. Allein die gute Frau meinte, jenes könne man wohl einem jungen Mädchen nachsehen, dem in Edinburg Alles neu und bemerkenswerth scheine, und dieses sei nur der Trotz eines verzogenen Kindes, jetzt zum erstenmal in die Fessel strenger Hausordnung gezwängt. Aufmerksamkeit und Gehorsam müßten nach und nach gelernt werden, sie würde ihre Fehler mit der Zeit ablegen.

Die Hoffnung der verständigen Matrone schien gegründet. Nach Verlauf einiger Monate war Effie wie gekettet an ihre Dienstgeschäfte, obgleich sie dieselben nicht mehr mit dem muntern Schritt und der lächelnden Miene verrichtete, wodurch sie sich anfangs bei den Käufern so beliebt gemacht. Ihre Gebieterin sah zuweilen Thränen in ihren Augen, aber Effie suchte diese Zeichen geheimen Kummers eiligst zu verbergen, sobald sie sich bemerkt glaubte. Woche auf Woche verging, ihre Wange wurde bleich, ihr Schritt schwer. Die Ursache dieser Veränderungen wäre dem erfahrnen Auge der Frau Sattelbaum nicht entgangen, hätte nicht gerade damals eine Krankheit sie mehrere Monate an ihr Bett gefesselt.

In dieser Zwischenzeit grenzte der Zustand der unglücklichen Effie an Verzweiflung. Mit der äußersten Anstrengung kämpfte sie oft gegen die Anfälle der Schwäche und Ohnmacht, denen sie jetzt häufig ausgesetzt war; und so gewaltige Mißgriffe machte sie in ihren Dienstverrichtungen, daß Bartel Sattelbaum alle Geduld mit ihr verlor. Denn ohnedies gab es ihm nicht die beste Laune, während der Krankheit seiner Frau seinen Lieblingszeitvertreib vernachlässigen zu müssen, und nach seinem Geschäft zu sehen. Die Nachbaren und Dienstgenossen Effie's bemerkten mit schadenfroher Neugier, oder herabwürdigendem Mitleid die veränderte Gestalt, die nachlässige Kleidung und die bleichen Wangen des einst so schönen und noch immer interessanten Mädchens. Aber keinem ihr Vertrauen schenkend, setzte sie dem Spott Bitterkeit entgegen, der ernsten Ermahnung ein hartnäckiges Läugnen oder eine Thränenfluth.

Unter dem Vorwande der Kränklichkeit erbat Effie endlich von ihrem Herrn die Erlaubniß, auf einige Wochen zu den Ihrigen zurückzukehren, um, wie sie sagte, sich durch den Genuß der Ruhe und freien Luft wieder herzustellen. Und Bartel ließ sie gehen, ohne den geringsten Verdacht zu schöpfen. Wie es sich später fand, war der Augenblick, wo sie Sattelbaum's Haus verließ, von dem ihrer Ankunft zu St. Leonard's durch den Zwischenraum von einer Woche getrennt.

Sie, die vor weniger als anderthalb Jahren das väterliche Haus als jugendlich blühendes Mädchen verlassen, erschien jetzt vor ihrer Schwester eher einem Gespenst als einem lebenden Wesen ähnlich. Die langwierige Krankheit ihrer Gebieterin hatte ihr in den letzten Monaten einen Vorwand geliehen, nicht aus dem dunklen Bezirk des Ladens hervorzugehen, und Jeanie war gerade so sehr mit häuslichen Verrichtungen beschäftigt, daß sie selten einmal Muße zu einem eiligen Besuch bei ihrer Schwester fand. So hatten sich die beiden Mädchen in der letzten Zeit wenig gesehen, und kein schmähsüchtiges Gerücht war zu den einsamen Bewohnern von St. Leonard's gedrungen. Bis zum Tode erschreckt bei dem Anblick ihrer Schwester, überhäufte Jeanie sie mit Fragen, auf welche die Unglückliche zuerst wilde, unzusammenhängende Antworten gab, und dann bewußtlos zu Boden sank. Des Verderbens ihrer Schwester nur zu gewiß, hatte Jeanie jetzt nur die angstvolle Wahl, ob sie es dem Vater entdecken, oder Alles anwenden sollte, es ihm zu verheimlichen. Bei allen Fragen nach Namen oder Stand ihres Verführers, und nach dem Schicksal des kleinen Wesens, dem ihr Fall das Dasein gegeben, blieb Effie stumm wie das Grab, dem sie zuzueilen schien; ja es war, als ob die Erwähnung dieser Gegenstände sie zum Wahnsinn brächte. Jeanie, in Angst und Verzweiflung, wollte schon zur Frau Sattelbaum eilen, um bei ihr Rath zu holen, und vielleicht dort einiges Licht in dieser unglücklichen Sache zu erhalten, als ein neuer furchtbarer Schlag des Schicksals ihr diese Mühe ersparte.

David Deans war sehr erschreckt worden durch den zerrütteten Gesundheitszustand, in welchem seine Tochter ins Vaterhaus zurückkehrte; doch hatte Jeanie genauere Nachforschungen zu verhüten gewußt. Es war daher dem alten Mann ein Donnerschlag, als in der Stunde, die bereits den Lord von Stummendeich herbeigeführt, noch andere furchtbare Gäste zu St. Leonard's ankamen. Die Diener der Gerechtigkeit waren es, mit einem Verhaftsbefehl ausgerüstet, um Euphemia, oder Effie Deans, des Kindermordes angeklagt, aufzusuchen und mit sich zu führen. Die betäubende Gewalt eines so unerwarteten Schlages drückte den bedauernswürdigen Greis gänzlich darnieder; ihn, der in den bürgerlichen Unruhen seiner frühern Jahre zur Behauptung seiner Grundsätze dem Drohen der Folter und des Schwertes muthig widerstanden. Ohne Bewußtsein sank er der Länge nach bei seinem eigenen Herde hin; und jene Männer, froh, dem Augenblick seines Erwachens zu entgehen, eilten mit rauher Menschlichkeit, Effie, den Gegenstand ihrer Nachforschungen, von ihrem Lager zu heben, und in einen Wagen zu setzen, den sie zu diesem Zweck mitgebracht.

Die schleunigen Mittel, welche Jeanie anwandte, ihren Vater wieder zu sich zu bringen, begannen kaum zu wirken, als das Geräusch der dahinrollenden Räder ihre Aufmerksamkeit wieder auf die bejammernswerthe Schwester zog. Laut schreiend dem Wagen nachzueilen war das erste vergebliche Bestreben ihrer Seelenangst. Doch einige von den Nachbarinnen, welche die ungewöhnliche Erscheinung einer Kutsche an diesem einsamen Orte herbeigeführt, zogen sie beinahe gewaltsam in das Haus zurück. Die theilnehmende Betrübniß dieser armen Leute, bei welchen die kleine Familie zu St. Leonard's in hoher Achtung stand, erfüllte die ländliche Wohnung mit Klagegeschrei. Sogar Stummendeich wurde aus seiner gewohnten Gleichgültigkeit gerissen; »Jeanie,« rief er, nach seiner Börse herumtastend, »Jeanie, Mädchen, weine nicht – es ist ein schlimm Ding freilich, aber Gold wird schon helfen.« Und damit zog er die Börse aus der Tasche.

Der Greis hatte sich indessen erhoben, und indem er um sich schaute, als fehle ihm Jemand, schien er nach und nach zum Bewußtsein seines Elends zu gelangen. »Wo,« rief er mit einer Stimme, von der die Wände des Zimmers erdröhnten, »wo ist die Buhlerin, die das Blut eines redlichen Mannes geschändet? – Wo ist sie, die unter uns gekommen, befleckt mit ihren Sünden, wie der Böse unter die Kinder Gottes? Wo ist sie, Jeanie? – Bringe sie zu mir, daß ich sie tödte mit einem Wort und einem Blick!«

Alle drängten sich um ihn, jeder bot ihm nach seiner Art Beistand und Trost; der Lord seine Börse, Jeanie gebrannte Federn und starkes Wasser und die Weiber ihre Ermahnungen.

»David – wird denn Gold nicht helfen?« sagte der Lord, noch immer seine mit Guineen gefüllte grüne Börse hinhaltend.

»Ich sage Euch, Lord,« erwiederte Deans, »meine ganze irdische Habe hätte ich hingegeben, sie vor dieser schwarzen Schlinge zu bewahren, wäre mit Mütze und Stab hinausgewandert, ein Almosen um Gotteswillen zu erflehen, und hätte mich dabei für einen glücklichen Mann gehalten. Könnte aber auch nur ein Dollar oder der zehnte Theil eines Pfennig ihre offenbare Schuld und Schmach vor offenbarer Strafe retten, David Deans würde diesen Handel niemals eingehen! – Nein, nein, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben, Blut um Blut, – es ist das Gesetz der Menschen, es ist das Gesetz Gottes. – Verlaßt mich, Freunde, verlaßt mich – allein und auf meinen Knieen muß ich mit dieser schweren Prüfung ringen.«

Jeanie, jetzt wieder einigermaßen im Stande, ihre Gedanken zu sammeln, stimmte dieser Bitte bei. Der nächste Tag fand Vater und Tochter zwar noch im tiefsten Schmerz; doch ließ der fromme Stolz des Vaters ihn die Last seines Unglücks mit finsterer Ruhe tragen, die Tochter unterdrückte sorglich ihre Gefühle, um nicht die seinigen rege zu machen. Dies war die Lage der bedauernswerthen Familie bis zu dem Morgen nach Porteous' Tode, ein Zeitpunkt, den wir jetzt wieder erreicht haben.


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