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1841.

Oratorienmusik: 1) »Die Zerstörung Jerusalems« von F. Hiller; 2) »Der Erlöser« von I. F. E. Sobolewsky. – Neue Sonaten für Pianoforte. – Etuden für Pianoforte. – S. Thalberg. – Kürzere Stücke für Pianoforte. – Ueber einige corrumpirte Stellen in classischen Werken. – Die Abonnementconcerte in Leipzig 1840-41.

Neue Oratorien.

I.
Ferdinand Hiller: Die Zerstörung Jerusalems. Oratorium nach der heiligen Schrift von Dr. Steinheim.

Werk 24.

Von der Aufführung dieses Werkes in Leipzig, von dem günstigen Erfolge, den sie gehabt, berichtete die Zeitschrift schon und sprach den Wunsch nach baldiger Veröffentlichung aus, der bald darauf in Erfüllung gegangen. Binnen Kurzem soll auch noch die Partitur folgen.

Die auffallende Erscheinung, daß sich in neuester Zeit viele jüngere Componisten der Kirchenmusik mit Vorliebe zuwenden, ist schon von Anderen bemerkt worden. Der Erfolg, den Mendelssohn's Paulus gehabt, scheint große Ursache daran zu haben. Viele, ja die Meisten werden sich freilich täuschen in ihren Hoffnungen auf gleiche oder nur ähnliche Siege. Wohl nicht die Kirche, nicht die Art der dahingehörigen Kunstgattung hat ihn errungen, eine Gattung, deren Blüthe schon längst vorüber, sondern die hohe Kunst des einzelnen Künstlers, dem im Paulus ein Meisterwerk gelungen. Viel tiefer wurzelt z. B. das Bedürfniß nach einer neuen deutschen Oper; vielleicht, daß auch bald hierin ein starker Künstler vorangeht und Nacheiferung und Muth erweckt, wie es Mendelssohn's Paulus für die Kirchenmusik gethan. Wie dem sei, wir müssen jedem Streben nach so ernstem Ziel unsere innigste Aufmerksamkeit zuwenden. Was dem Künstler, der für die Kirche arbeitet und sich in den strengen Formen, die ihre Musik erheischt, bewegen muß, auch vom Beifalle des großen Haufens abgehen möge, es kömmt ihm auf andere Weise für seine Kunst und hundertfältig zu gute. Wer Kirchen bauen kann, dem sind dann die Häuser ein Leichtes; wer ein Oratorium zu Stande gebracht, dem wird es in anderen Formen dann spielend gelingen.

Es gibt Baumeister, die wissen, was sie bauen; geschickte praktische Männer, die sich streng nach dem Riß halten, der sich ihnen schon oft zweckdienlich erwiesen; nichts ist da vergessen, die Kirchenthür an guter Stelle, der Glockenthurm an seiner. Ein solcher ist der alte Dessauer Meister. Es gibt andere, die wissen es auch. Aber ehe sie beginnen, beten sie einen frommen Spruch, ihr Geschäft gilt ihnen ein heiliges. Von der gewöhnlichen Bauart vielleicht abweichend, sinnen sie wohl auch auf Neues; kleine Capellen entstehen an den Seiten, Muttergottesbilder werden angebracht und versteckte tiefsinnige Zierrath; ein solcher ist der Meister des Paulus. Nach solcher Meisterschaft ringt auch sein Freund Ferdinand Hiller. Mit Freude muß man es bemerken: es scheint unter einer Anzahl jüngerer Künstler wie eine stillschweigende Uebereinkunft zu bestehen, dem alten Schlendrian mit gründlichen Thaten entgegenzutreten, ein Bündniß gegen eine gewisse Classe von Handwerksmusikern, die nach der Elle componiren, heute eine Kirchenmusik, und morgen für den Tanzsaal. Gerade unter den Kirchencomponisten sind einige zu Ruf und Namen gekommen, was der Nachwelt, wenn sie vergleicht, daß zur selben Zeit z. B. noch Beethoven lebte und für die Kirche schuf, unbegreiflich erscheinen muß; gerade in der Kirchenmusik hatte sich ein süßlich sentimentaler Ausdruck eingeschlichen, der eher zum Tempel hinaustrieb, als zur Andacht erweckte. Andere, immerhin aber bessere, wie B. Klein, verfuhren wieder zu trappistisch, als daß sie Einfluß gewinnen konnten. Mendelssohn aber hat unter den Norddeutschen zuerst wieder auf die wahre Spur hingelenkt, auf Händel und Bach; die über die weichen Süddeutschen Mozart und Haydn etwas in Vergessenheit gerathen waren, auf die wahren Glaubenshelden unserer Kunst. Auch Hiller'n sind diese Vorbilder wohl bekannt, und läßt sich dies nicht im Einzelnen nachweisen, so doch an der ganzen würdigen Haltung seines Werkes; sein Streben nach kräftigstem Ausdruck, nach Uebereinstimmung zwischen Wort und Ton, mit einem Worte nach Wahrheit seiner Musik spricht dafür. – Ehe wir zu einer kurzen Analyse des musikalischen Theils des Werkes übergehen, sei noch erst mit einigen Worten des Textes gedacht.

Es ist bekannt, daß auch Löwe ein Oratorium gleichen Namens componirte; erinnere ich mich aber recht, so schildert dies die spätere Zerstörung Jerusalems durch die Römer. Hiller's ist die alttestamentliche durch Babylon. Der Dichter hat den Stoff äußerst einfach angelegt und gehalten. Als Hauptperson hebt sich Jeremias, der Prophet, hervor, der dem König von Juda, Zedekia, den Fall seines Reiches prophezeit. Jeremias wird deshalb in das Gefängniß gebracht, Juda aber später erobert. Jeremias kömmt wieder zum Vorschein: »doch unverloren bleibt Jehovah's Volk«; der Schlußchor ist eine Anrufung des Herrn aller Völker. Dies ist im Kurzen der Gang der Geschichte. Jeremias gegenüber, als frivoles Princip, steht Chamital, die Mutter des Königs. Der König selbst ist eine schwache Figur, die sich furchtsam zwischen der Mutter und dem Propheten anklammert. Jeremias zur Seite stehen noch zwei zarte Nebenfiguren, Achicam und Hanna. Diese fünf sind die einzelnen Personen des Oratoriums.

Der Chor zerfällt in drei verschiedene, in den der Israeliten, der Diener Zedekia's und der Babylonier. Der erste repräsentirt das israelitische Volk im Allgemeinen und zeigt sich, durch Jeremias' Prophezeiung geängstigt, ebenso fromm wie schwach und leidend. Diesem gegenüber steht singend und jubelnd der der Diener Zedekia's, die trotz Jeremias in ihrem Wandel beharren. Der dritte endlich ist der feindliche der Eroberer.

Dies Wenige genüge, vom Ganzen, seinen Theilen, seinen Gegensätzen sich ein Bild zu machen. Der Text selbst ist meistens nach Worten der heiligen Schrift zusammengesetzt.

Folgen wir nun dem Componisten in sein Werk. Wir wissen, er hatte ein Jahr vor Vollendung dieser Arbeit eine Oper auf der Mailänder Scala aufführen lassen. Der Sprung vom Theater in das alte Testament schien gewagt genug. Wie er ihm geglückt, zeigt sicher von großer Gewandtheit und Geistesfrische. Man würde sich vergebens mühen, im Oratorium etwas zu finden, was nur entfernt wie italienische Musik aussähe. Es ist ein durchaus deutsches Werk, verräth überall die guten Muster, die dem Componisten geläufig, überall Bildung, Fleiß und Gewissenhaftigkeit. Gewährt schon der Clavierauszug großes Interesse, so noch mehr die Partitur, in der sich der Componist auch als gewandter, geistreicher Instrumentator gezeigt. So begrüßen wir ihn denn vorweg als einen seiner Aufgabe gewachsenen, tüchtigen und achtungswerthen Künstler.

In seinen einzelnen Theilen besteht das Oratorium aus Chören, Duetten und Arien, die durch die herkömmlichen recitativischen Sätze verbunden sind: zusammen aus 47 Nummern. Der Choral, als eine Idee des Christenthums, ist mit Recht nicht angewandt. Eine Ouverture fehlt, wogegen nichts einzuwenden; die erste Nummer beginnt gleich mit einem Chor; unter viel schöner Musik gelangen wir bald in die Mitte der Begebenheiten. Nach Jeremias' erstem Auftreten fesselt uns kurz darauf der schöne klagende Chor: »eine Seele tief gebeugt«, dem mit lebhafter Wirkung gleich der rauschende der Diener Zedekia's folgt. Auch der Festmarsch verdient wegen seines eigenen Colorits hervorgehoben zu werden. Der König erscheint, schwermuthvoll, die nächste Zukunft fürchtend. Dazu überall treffende Musik. Jeremias' Warnungen machen nur auf den Chor Wirkung: »wir zittern ob des Sehers Dräuen«; eine Arie der Hanna spricht tröstend zu. Der folgende Chor »Israel bleibt seinem Gotte angetraut« führt diese Stimmung in der Musik weiter aus; so schätzbar er als Musikstück, so hätte er zur rascheren Aufeinanderfolge wirksamer wegfallen können. Jetzt wird der Feind angekündigt, Nebukadnezar, der immer näher kommt. Hier greift zum erstenmal Chamital ein, vom Componisten mit besonderer Liebe gezeichnet, und reizt zum Widerstand. Ein wilder Chor dringt auf Jeremias ein und droht ihm mit dem Tode. Seine Freunde klagen in einem weichen Duett nach dem Bibeltexte: »O wär' mein Haupt eine Thränenquelle«. Eine Anrufung des Höchsten in einem feierlichen Chor beschließt den ersten Theil.

Die erste Nummer des zweiten Theiles schildert die Israeliten furchtsam genug vor dem Nahen des Feindes. Chamital läßt sich deshalb nicht abhalten, dem Baal die üblichen Opfer zu bringen; es ist diese Arie (Nr. 20) mit dem später dazutretenden Chor eine der frischesten Nummern. Jeremias, jetzt im Gefängniß, klagt über sein und seines Landes Schicksal, in etwas moderner Weise, die im Einzelnen an ein bekanntes Motiv von Marschner erinnert. Der folgende Chor (Nr. 35), mit sehr glänzender Orchesterbegleitung, hofft noch auf Rettung. Zedekia will sich Jeremias in die Arme werfen; doch zu spät. »Es gehet über Zion hin der Pflug«, antwortet Jeremias. »Mit seinem Haupte büße er seinen Wahnwitz«, spricht Chamital, worauf Jeremias: »nun bin ich gar dahin«. Von den letzten Worten erwartete ich mehr in der Musik, wie denn überhaupt gegen das Ende der Arbeit hin eine gewisse Eile sich bemerkbar macht, als fürchte der Componist, zu lang zu werden. Auch in den späteren Recitativen zeigt sich dies. Schön ist der Chor »o Gott der Langmuth«, erinnert aber sehr an einen im Paulus (in Es dur). Die Gefahr wird immer drohender; die Israeliten sind geschlagen. Allgemeine Flucht im wilden Chor. Die Babylonier treten auf; der Componist hat sie ziemlich unliebenswürdig gemalt; der Marsch erinnert etwas an den wüsten der Katholiken in den »Hugenotten«. Auch Jeremias' Klagelied sagt mir nicht zu und erweckt wenig Theilnahme. Aufregend, frisch ist wieder der Chor der Babylonier »heh, wir haben sie vertilgt«; nur das unangenehme »heh« wünschte ich in einen anderen Spottlaut verwandelt. Ein ausgezeichnetes Musikstück bringt uns dann wieder der Chor der fortziehenden Israeliten. Es folgen die vielleicht bedeutendsten Worte des Ganzen aus Jeremias' Munde:

»Zur letzten Zeit wird Gottes Haus höher stehen denn alle Berge und erhaben über alle Hügel!« –

doch hat sie der Componist zu leicht behandelt, die er sich gerade für seine glücklichste, kräftigste Stunde hätte aufbewahren müssen. Dagegen schließt ein Chor in würdigster Weise das Ganze ab.

Viel, ja stundenlang ließe sich über ein so umfangreiches, musikschweres Werk – sprechen. Was aber dem Musiker am meisten gefällt, ihm auch am meisten nützt, Besprechung des Reinmusikalischen bis in's Detail der Formen, nimmt sich so wenig gut auf dem Papier aus und interessirt nur die, die das Werk schon genauer kennen. So mögen denn diese Zeilen, die nicht erschöpfen wollen, zum wenigsten Andere zur Durchsicht des Werkes reizen, das, bis jetzt die größte Arbeit des jungen Componisten, neben allen ähnlichen in neuerer Zeit entstandenen seinen selbstständigen Platz behauptet.

*

II.
Eduard Sobolewsky: Der Erlöser. Oratorium nach Worten der heiligen Schrift.

Wer die große Anzahl geistlicher Compositionen, die vor uns liegt, ansähe und noch zweifeln wollte, ob sich nicht auch auf dem Gebiete der Kirchenmusik ein erfreuliches Streben der Gegenwart zeigte, müßte blind oder ungerecht genannt werden. Man möchte eher fragen, wo dies Alles im kleinen deutschen Vaterland hin soll und wie es verarbeitet werden kann. Erfreulich und bedeutsam bleibt aber diese wieder erwachende Vorliebe für die Kirchenmusik immer. Wir sprachen unsere Gedanken darüber schon bei Anzeige des Hiller'schen Oratoriums »die Zerstörung Jerusalems« zu Anfang dieses Bandes aus. Eine würdige Richtung zeigt sich auch in obengenanntem, das den Namen eines bisher mehr als musikalischer Schriftsteller denn als Componist bekannten Mannes auf dem Titel nennt. Es kömmt aus Königsberg, einer in religiöser Beziehung neuerdings oft genannten Stadt. Der Umstand scheint nicht ganz zu übersehen zu sein. Die Luft, in der wir athmen, durchdringt nun einmal auch den ganzen innern Menschen, und wollen wir dem Oratorium auch nicht einen durchaus mystischen Charakter beilegen, so neigt es sich doch auffallend in's Grüblerische und Düstere. Vielleicht, daß Manches durch den Reiz einer schönen Instrumentation, die zu beurtheilen uns versagt ist, gemildert erscheint, aber der Clavierauszug gibt zunächst jenen Eindruck, wozu vielleicht auch das Finstere der Ausstattung etwas beitragen mag. Der Text zum Oratorium ist ziemlich lose aneinander gereiht und scheint stückweise in verschiedenen Zeiten entstanden. Vier Abtheilungen: die Verkündigung, die heilige Nacht, Johannes der Täufer und Johannis Enthauptung bilden das Ganze. Es fehlt ihm jedoch ein Mittelpunkt, eine Hauptfigur, die Interesse erweckte, um die sich die Handlung bewegte. Kurz das Buch leidet an Confusion. Dies konnte dem Componisten freilich nur schädlich werden; da die Handlung nicht fortreißt, vermochte der Componist sich auch nicht zu steigern, und dieser Mangel der Steigerung, innerer wie äußerer, wird dem Gefallen und der Wirkung des Werkes am meisten Eintrag thun. Sollten wir überhaupt irren, wenn wir die beiden ersten Abtheilungen des Oratoriums für später geschrieben glauben, als die zwei letzteren? Auch die Dedication bringt auf diesen Gedanken: die beiden ersten Theile sind nämlich dem jetzt regierenden König von Preußen, die späteren ebendemselben, aber als Kronprinz, zugeeignet, was denn leicht unsere Nachkommen irre machen könnte. Wie dem sein mag, der erste Theil des Werkes, wie es uns jetzt vorliegt, scheint den andern an Gehalt und Kunstwerth zu übertreffen, und vor allem an klarerer Rundung und Einheit der einzelnen Musikstücke. Vermag nun das Ganze nicht unser Interesse bis zum Schlusse festzuhalten und zu erhöhen, so sind die meisten der einzelnen Stücke, für sich betrachtet, mit Auszeichnung zu nennen. Eines, um es gleich vorauszuschicken, vermissen wir aber in allen: recht natürlichen Gesang. Wie schimmert doch selbst in den kunstvoll'st verschlungenen Gebilden Seb. Bach's eine geheime Melodie hindurch, wie in allen Beethoven's! Dies weiß der geistreiche Componist auch selbst, aber freilich zwischen Wissen und Schaffen liegt noch eine ungeheuere Kluft, zwischen denen sich oft erst nach harten Kämpfen eine vermittelnde Brücke aufbaut. Darauf scheint mir denn der Componist vorzüglich achten zu müssen: auf bestimmtere und natürlichere Aussprache der Melodie, die auch in der Kirche ihr Recht will, ebenso wie die Anmuth der Gestalt in der kirchlichen Malerei. In harmonischer Hinsicht gibt er uns dagegen viel Interessantes, wenn auch manches Gekünstelte. Daß aber kunstvollere Formen überhaupt im kirchlichen Styl angewandt werden, kann nur Zustimmung erhalten. Wir finden davon eine Menge. Doppelcanon's, Doppelfugen u. s. w. geben vom Fleiß und der Bildung des Componisten an vielen Stellen ein rühmliches Zeugniß; auch zeichnen sich die Themen oft durch Eigenthümlichkeit und Besonderheit aus. Nach Anhören des Werkes in seiner ursprünglichen Gestaltung, d. h. mit Orchesterbegleitung, treten seine Vorzüge vielleicht noch entschiedener hervor. Ein Clavierauszug, so sorgfältig auch der vorliegende ausgearbeitet ist, bleibt immer ein dürftiger Nothbehelf, der dem Componisten sein vollständiges Recht bei der Kritik nie gibt und geben kann. So gut es unter diesen Umständen möglich, versuchen wir noch von einzelnen Nummern der ersten und, wie wir glauben, bedeutendern Hälfte des Oratoriums eine Ansicht zu geben.

Die Ouverture hat den Charakter der Einleitung und ist kein abgerundetes Musikstück. Das fugenartige Allegro erinnert an Händel'sche Weise; schon hier fängt der Componist an, Beispiele von künstlerischer Arbeit, wie Umkehrung der Themen u. s. w. zu geben. Die erste Gesangnummer enthält eine Begrüßung an die Jungfrau Maria; die Form ist die des Doppelcanons im Chor, die Haltung würdig und angemessen. Nr. 3 bietet nichts Hervorstechendes. Dagegen sagt uns Nr. 4, eine Arie für Sopran, durch größere Innigkeit des Gesanges besonders zu. In Nr. 5 fällt Seite 8, letztes System, Tact 3 die sich plötzlich verändernde Bewegung auf, über die sich Director und Chor nur mit Mühe verständigen möchten. Die folgende Fuge gehört wieder zu einer seltenern Gattung: sie ist per motu contrario, das Thema übrigens ein glückliches.

Die zweite Abtheilung des ersten Theiles beginnt mit einem Doppelchor der Hirten und Hirtenknaben, dessen erstere Hälfte namentlich von schöner Wirkung sein muß. Die Worte: »O seht, Herr tröste uns,« und den sich auf einmal verändernden Charakter des Chores verstehen wir nicht zu fassen. Die folgende Altarie klärt nur halb auf, die uns auch als Musikstück zu kurz gerathen scheint. Vortreffliche Wirkung mag aber in der Kirche der folgende Chor der Engel und Hirten hervorbringen. Der der letzteren nimmt den andern immer im pp, wie im Echo auf. Die Melodie des Chorals ist schön. Es folgt ein kurzer Fugensatz mit einem etwas sonderbaren Thema. Nach ihm tritt zum erstenmale ein Recitativsatz auf. Simon singt in einer kurzen Arie: »Herr, meine Augen haben den Heiland gesehen«, die uns im Charakter sehr wohl gefällt, aber als Musikstück ebenfalls der schönen Form und Rundung entbehrt. Abermals folgt ein Doppelcanon und diesem der Schlußchor mit Doppelfuge; auch diese Sätze finden wir zu kurz; der Chor kann nicht recht in's Feuer kommen, und namentlich strömt der Schluß nicht kräftig genug aus, als Schluß eines ganzen Theils.

Nach diesen kurzen Andeutungen mag man etwa auf die andere Hälfte des Oratoriums schließen. Ueberall tritt uns der Componist als ein Starkwollender entgegen, der immer wahrhaft Würdiges und dabei Eigenes geben möchte. Oft verläßt ihn die Kraft des Meisters; aber scheint er dann selbst kleinmüthiger, so sinkt er doch nirgends zum leichtsinnigen Handwerker herab. Viel hat ihm der Text geschadet, dessen Planlosigkeit wir schon rügten. Gewiß aber bezeichnet das Oratorium im Bildungsgange des Componisten einen bedeutenden Schritt vorwärts, und er stärke sich in diesem Bewußtsein bald zu neuen größeren Arbeiten, wie wir denn seinen Namen schon jetzt denen der edler Strebenden unter den gegenwärtigen lebenden vaterländischen Künstlern anreihen müssen. –

*

Neue Sonaten für das Pianoforte.

Unsere letzte Sonatenschau schloß im December 1839. Nur weniges in diese edle Gattung Einschlagendes ist seitdem erschienen, und freilich, scheint es, hat sie mit drei starken Feinden zu kämpfen, – dem Publicum, den Verlegern und den Componisten selbst. Das Publicum kauft schwer, der Verleger druckt schwer und die Componisten halten allerhand, vielleicht auch innere Gründe ab, dergleichen Altmodisches zu schreiben. Die es trotzdem thun, sollen uns doppelt werth sein. Es folgen hier die Namen der Componisten, die uns neuerdings Sonaten gegeben: W. Klingenberg, F. A. Lecerf, J. Genischta, W. Taubert und F. Chopin; sie stehen nach der Reihe des Interesse, das sie uns zu haben scheinen.

Die erstgenannte von Klingenberg heißt Phantasiesonate. Wäre der Wille die That, man müßte sie gut heißen; ein Ringen, sich vom alten Schlendrian loszumachen, ist darin unverkennbar, überhaupt ein Streben, Selbstständiges zu leisten. Aber die Kräfte reichen nicht aus; es fehlt sogar an voller Ausbildung der unteren, wohin wir z. B. Satzreinheit u. s. w. rechnen. So ist denn aus diesem Mißverhältniß der Kraft zum Streben ein sonderbares, verschrobenes, geschmackloses Stück geworden, das sogar hier und da zierlich und galant sein möchte. Und das ist das Unglück; wenn musikalische Kleinstadtbewohner sich auf einmal modisch Pariserisch bewegen wollen, ein Unglück, das leider bei uns in Deutschland mehr als irgendwo zu Hause ist. Speciell zu belegen, was wir hier angeführt, würde Bogen füllen können. Ein Gutmusikalischer muß nach den ersten Seiten schon über die Composition im Klaren sein, vielleicht der Componist jetzt selbst, angenommen, daß er jetzt sein Werk um einige Jahre überwachsen. Wer ihn übrigens zum Ikarusflug verleitet, scheint klar; es ist Beethoven mit seiner Sonata quasi fantasia. Wer liebte denn diese nicht? Aber freilich auch das Copiren verlangt Uebung und Fertigkeit. Vielleicht gibt uns der Componist bald eine neue Probe seiner Kunst, die nicht zu schwach gegen das Original absticht. –

Es gibt eine Classe von Sonaten, über die sich am schwierigsten reden läßt; es sind jene richtiggesetzten, ehrlichen, wohlgemeinten, wie sie die Mozart-Haydn'sche Schule zu Hunderten hervorrief, von denen noch jetzt hier und da Exemplare zum Vorschein kommen. Tadelte man sie, man müßte den gesunden Menschenverstand tadeln, der sie gemacht; sie haben natürlichen Zusammenhang, wohlanständige Haltung. Alle diese Tugenden zeichnen auch die Sonate des zweitgenannten Verfassers aus. Aber freilich, heutigen Tages aufzufallen, ja nur zu gefallen, dazu gehört mehr als blos ehrlich sein. Und hätte denn Beethoven so umsonst gelebt? Wer lesen kann, der hält sich nicht mehr bei dem Buchstabiren auf; wer Shakspeare versteht, ist über den Robinson hinüber; kurz der Sonatenstyl von 1790 ist nicht der von 1840: die Ansprüche an Form und Inhalt sind überall gestiegen. Das Lob des Fleißes, des Strebens nach Gutem bleibt aber dem Componisten auch dieser Sonate trotzdem unverkümmert, und so erfülle sie ihre Bestimmung, im großen Zeitenstrome eine Minute lang aufgetaucht zu sein und auch wieder zu verschwinden. Auch die folgende Sonate von Genischta erinnert im Wesentlichen an eine vergangene Periode; doch tritt uns in ihr eine eigenthümliche Persönlichkeit entgegen. Wir berichteten mit Vergnügen schon vor einigen Jahren von einer Sonate für Clavier und Violoncello desselben Componisten. Die Vorzüge, die wir dort auszeichneten, technische Fertigkeit, Klarheit, Anspruchlosigkeit des Charakters, finden wir auch hier: dies namentlich in den sehr gut gerundeten beiden ersten Sätzen. Höher aber steht noch der letzte, der sich mehr Beethoven'scher Art nähert, obgleich durch die äußere Aufregung überall ein freundlich ruhiges Gesicht durchblickt. Ganz aufklärt es sich vollends im Mittelsatz im Dur mit seinem eigenthümlichen Orgelpunkt im Sopran; es ist dies die Hauptstelle der ganzen Sonate und schwerlich zu übersehen. Der Schluß bringt nichts Außerordentliches; aber wir scheiden befriedigt, erheitert, mit aller Achtung, die wir einem gebildeten Künstler schuldig. Der Componist soll ein Pole sein. –

Von der Sonate von W. Taubert, seiner fünften, den Lesern einen Begriff zu geben, möchte schwer sein; sie ist absonderlicher Art, man muß sie sich selbst ansehen, und zwar öfter. Ich möchte sie hypochondrisch nennen; der Componist hängt sich eigensinnig an ein paar Gedanken, die er zergliedert, wieder zusammensetzt, wieder wegwirft, bis er sich dann durch eine Volksmelodie aus der wenig erquicklichen Stimmung herausreißen möchte, und zuletzt, da ihm dies nicht glückt, sich gar auf das Gebiet der Fuge flüchtet, wo er erst recht ordentlich zu grübeln anfängt. Sich ein Publicum zu gewinnen, darauf geht sie gewiß nicht aus; es ist eine Sonate, vom Componisten gleichsam nur für sich geschrieben, vielleicht in besonderen Lebensverhältnissen entstanden. Mit leichter Mühe hätte er auch ein Quartett daraus machen können, aber nein – der Componist wollte eben nur seine vier Wände zu Zuhörern; es steckt etwas von Menschen-, ja vielleicht von Musiküberdruß in dieser Musik. So wirkte die Sonate das erstemal, als ich sie spielte, auf mich, so später, als ich sie wiederholt las. C. M. von Weber hat eine auch in der Tonart (E moll) ähnliche, sehr eigenthümliche geschrieben, an die ich durch die von Taubert wieder erinnert wurde, nur daß, wie gesagt, die Melancholie der ersteren in der anderen in Hypochondrie verkältet erscheint. Dennoch übt die Musik auch hier ihre eigene verschönende Gewalt aus, und so fesselt uns in der Kunst, wie so oft, was uns im Leben abstößt. Doch genug der grübelnden Worte, die selbst nur ein Widerhall jener Musik zu sein scheinen; möchten sie Manche zur Durchsicht reizen; denn als Musiker zeigt sich der Componist wohl immer als ein achtungswerther. –

– Die ersten Tacte der zuletzt genannten Sonate sich ansehen und noch zweifeln zu können, von wem sie sei, wäre eines guten Kennerauges wenig würdig. So fängt nur Chopin an und so schließt nur er: mit Dissonanzen durch Dissonanzen in Dissonanzen. Und doch, wie viel Schönes birgt auch dieses Stück! Daß er es »Sonate« nannte, möchte man eher eine Caprice heißen, wenn nicht einen Uebermuth, daß er gerade, vier seiner tollsten Kinder zusammenkoppelte, sie unter diesem Namen vielleicht an Orte einzuschwärzen, wohin sie sonst nicht gedrungen wären. Man nehme z. B. an, irgend ein Cantor vom Lande kommt in eine Musikstadt, da Kunsteinkäufe zu machen – man legt ihm Neuestes vor – von nichts will er wissen – endlich hält ihm ein Schlaukopf eine »Sonate« entgegen – ja, spricht er entzückt, das ist für mich und noch ein Stück aus der alten guten Zeit – und kauft und hat sie. Zu Hause angekommen, fällt er her über das Stück – aber sehr irren müßt' ich mich, wenn er nicht, noch ehe er die erste Seite mühsam abgehaspelt, bei allen heiligen Musikgeistern darauf schwöre, ob das ordentlicher Sonatenstyl und nicht vielmehr wahrhaft gottloser. Aber Chopin hat doch erreicht, was er wollte: er befindet sich im Cantorat, und wer kann denn wissen, ob nicht in derselben Behausung, vielleicht nach Jahren erst, einmal ein romantischerer Enkel geboren wird, und aufwächst, die Sonate abstäubt, und spielt und für sich denkt: »der Mann hatte doch so Unrecht nicht«.

Mit alle diesem ist schon vorweg ein halbes Unheil abgegeben. Chopin schreibt schon gar nichts mehr, was man bei Anderen ebenso gut haben könnte; er bleibt sich treu und hat Grund dazu.

Es ist zu bedauern, daß die meisten Clavierspielenden, selbst Gebildete darunter, nicht über das hinaussehen und urtheilen können, was sie nicht mit ihren eigenen Fingern bewältigen können. Anstatt so schwierige Stücke erst zu überblicken, krümmen und bohren sie sich tactweise fort; und sind sie dann kaum über die gröbsten förmlichen Verhältnisse im Klaren, legen sie's weg und dann heißt es »bizarr, verworren« etc. Gerade Chopin hat (wie etwa Jean Paul) seine Häkelperioden und Parenthesen, bei denen man sich beim ersten Durchlesen eben nicht lange aufhalten darf, um nicht die Spur zu verlieren. Auf solche Stellen stößt man denn auch in der Sonate fast auf jeder Seite, und Chopin's oft willkürliche und wilde Accordschreibung macht das Herausfinden noch schwieriger. Er liebt nämlich nicht zu enharmonisiren, wenn ich mich so ausdrücken darf, und so erhält man oft zehn- und mehrfach bekreuzte Tacte und Tonarten, die wir alle nur in wichtigsten Fällen lieben. Oft hat er darin Recht, oft aber verwirrt er auch ohne Grund und, wie gesagt, entfernt sich dadurch einen guten Theil des Publicums, das (meint es) nicht unaufhörlich gefoppt und in die Enge getrieben sein will. So hat denn auch die Sonate fünf Bee oder B moll zur Vorzeichnung, eine Tonart, die sich gewiß keiner besonderen Popularität rühmen kann. Der Anfang heißt nämlich:

noten

Nach diesem hinlänglich Chopin'schen Anfange folgt einer jener stürmischen leidenschaftlichen Sätze, wie wir deren von Chopin schon mehre kennen. Man muß dies öfter, und gut gespielt hören. Aber auch schönen Gesang bringt dieser erste Theil des Werkes; ja es scheint, als verschwände der nationelle polnische Beigeschmack, der den meisten der früheren Chopin'schen Melodieen anhing, mit der Zeit immer mehr, als neige er sich (über Deutschland hinüber) gar manchmal Italien zu. Man weiß, daß Bellini und Chopin befreundet waren, daß sie, die sich oft ihre Compositionen mittheilten, wohl auch nicht ohne künstlerischen Einfluß auf einander geblieben. Aber, wie gesagt, nur ein leises Hinneigen nach südlicher Weise ist es; sobald der Gesang geendet, blitzt wieder der ganze Sarmate in seiner trotzigen Originalität aus den Klängen heraus. Eine Accordenverflechtung wenigstens, wie wir sie nach Abschluß des ersten Satzes vom zweiten Theil antreffen, hat Bellini nie gewagt, und konnte sie nie wagen. So endigt auch der ganze Satz wenig italienisch, – wobei mir Liszt's treffendes Wort einfällt, der einmal sagte: Rossini und Consorten schlössen immer mit einem » votre très humble serviteur«; – anders aber Chopin, dessen Schlüsse eher das Gegentheil ausdrücken. – Der zweite Satz ist nur die Fortsetzung dieser Stimmung, kühn, geistreich, phantastisch, das Trio zart, träumerisch, ganz in Chopin's Weise: Scherzo nur dem Namen nach, wie viele Beethoven's. Es folgt, noch düsterer, ein Marcia funebre, der sogar manches Abstoßende hat; an seine Stelle ein Adagio, etwa in Des, würde ungleich schöner gewirkt haben. Denn was wir im Schlußsatze unter der Aufschrift »Finale« erhalten, gleicht eher einem Spott als irgend Musik. Und doch gestehe man es sich, auch aus diesem melodie- und freudelosen Satze weht uns ein eigener grausiger Geist an, der, was sich gegen ihn auflehnen möchte, mit überlegener Faust niederhält, daß wir wie gebannt und ohne zu murren bis zum Schlusse zuhorchen, – aber auch ohne zu loben: denn Musik ist das nicht. So schließt die Sonate, wie sie angefangen, räthselhaft, einer Sphinx gleich mit spöttischem Lächeln. –

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Etuden für das Pianoforte

Theodor Kullak, 2 Concertetuden

Zweites Werk

Der Componist, ein junger jedenfalls, kündigt sich mit den ersten Tacten als ein mit dem neusten Clavierspiel vertrauter an. Die Etuden sind schwer und verrathen überall namentlich Bekanntschaft mit Henselt's und Thalberg's Arbeiten. Dem Virtuosen gegenüber haben wir nichts gegen diese Richtung und Vorliebe. Dem Componisten aber, wenn er ein tüchtiger werden will, möchten wir davon abrathen. Im Gebiete der mechanischen Combinationen ist jetzt kaum mehr zu erreichen, als die Virtuosen der neuesten Zeit wirklich erreicht haben. Auf das Verschränken der Hände, ob es so oder so, auf die Accordenmasse, ob sie etwas mehr oder weniger voll, darauf kommt jetzt nichts mehr an; wir haben darin in Henselt's, Liszt's, Thalberg's Arbeiten vollauf genug. Die Nachfolgenden müssen, wenn sie Bedeutung gewinnen wollen, den umgekehrten Weg einschlagen, den zur Einfachheit, zur schönen ordnungsvollen Form, und daraus entwickele sich dann auch das Complicirtere. Der Weg liegt klar vorgezeichnet. Wer ihn nicht sieht, wird umsonst arbeiten.

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I. Rosenhain, 24 Etuden ( Etudes mélodiques)

Werk 20.

» Invita Minerva« hätte der Componist darauf schreiben sollen. Die Etuden scheinen mit großer Unlust geschrieben zu sein, vielleicht auf Anrathen des – ursprünglich französischen – Verlegers. Daß für schwächere, kleinere Spieler durch Etuden gesorgt wird, ist gewiß gut. Doch trägt, als Componist wenigstens, Hr. Rosenhain, wie uns scheint, nur wenig Beruf dazu in sich. Ich wüßte seit lange kein Werk, was mir in jedem Bezug so entschieden mißfallen hätte. Nichts wirklich Anmuthiges im ganzen Werke, von Melodie kaum eine Spur; einzelne Etuden gänzlich mißrathen in der Form; Vieles uncorrect und ungefällig in der Harmonie. Und dazu nun noch die Bemerkungen über jeder einzelnen Nummer, wie diese werthlosen Stücke am besten vorzutragen seien. Wahrhaftig, da schreibt Bertini wie ein Engel dagegen. Bleibe man also, bis nicht etwas Besseres kommt, jungen Gemüthern durch Uebungen Lust zur Musik zu machen, bei Bertini. Hr. Rosenhain ist diesmal das Widerspiel seines Namens und die zarten Finger würden sich wund greifen an seinen Etuden.

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Eduard Wolff, 24 Etuden.

Werk 20.

Der Componist ist ein junger, jetzt in Paris lebender Pole, und seine Anhänglichkeit an Chopin um so leichter zu erklären. Vor 50 Jahren würde man Etuden, wie die Wolff'schen, geradezu für verrückt erklärt haben, heute gelten sie nur noch als »schwer«. Leider aber ist Schwierigkeit ihr eigenthümlichstes Merkmal, und es steckt in mancher Chopin'schen Masurka mehr Musik als in allen diesen 24 Etuden. Begriffen es doch die jungen Componisten immer zeitig genug, daß die Musik nicht der Finger wegen da ist, sondern umgekehrt, und daß man, um ein guter Virtuos zu werden, nie ein schlechter Musiker sein dürfe. Hrn. Wolff geradezu zu den letzteren zu zählen, wäre indeß ungerecht. Es fehlt ihm nicht an Phantasie und er weiß eine Stimmung, auch anders als durch bloße Fingereffecte, hervorzurufen und festzuhalten; dazu übt jeder melancholische Charakter, wie auch der seinige ist, Interesse auf uns, namentlich auf Jüngere. Leider aber treffen wir in dieser Etudensammlung auch auf gar zu Triviales, geradezu Verwerfliches, wie es in Deutschland kein Lehrer seinen Schüler aufschreiben, geschweige drucken ließe, und, dem Componisten zum Doppelschaden, gerade auf den ersten Seiten seines Werkes; denn Mancher wird sich dadurch abhalten lassen, im Dickicht weiter vorzudringen. Erst auf der 14ten Seite, der sechsten Etude in H moll, stoßen wir auf eine anziehendere; hier erreicht der Componist mit wenigen Mitteln mehr, als vorher mit so vielen, und man sieht, er kann wohl auch einfacher sein, wenn er will. Auch die zwei darauf folgenden Nummern gehören zu den gelungeneren, und nach diesen die zehnte (Cis moll), die achtzehnte (G moll) und die zweiundzwanzigste (F moll). Die übrigbleibenden haben meist nur als mechanische Combinationen für Uebende Interesse; manche der Zusammenstellungen sind darin neu, – schön selten. Das chromatische Auf- und Niederziehen durch verminderte Septimenaccorde in den verzwicktesten Lagen und Doppelgriffen gehört wie zu den Lieblingszügen aller jüngeren Virtuosen, so auch zu den seinigen. Man findet einen solchen Gang fast in jeder der Etuden. Ob das Werk bereits in Deutschland gedruckt, wissen wir nicht; wir würden dann für eine Auswahl stimmen, die dem Componisten mehr zur Ehre gereichen würde, als vollständiger Abdruck.

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Carl Mayer, sechs Etuden.

Werk 55.

Spielt man diese Etuden nach den vorigen, so glaubt man sich wie aus finsterem struppichtem Waldesdickicht auf eine grüne glatte Rasenfläche versetzt. Freundlich sind diese Etuden genug, wie fast alle Compositionen dieses Componisten; aber man hätte nach manchen seiner früheren erwartet, er würde sich zu einer eigenthümlichen Autorität heraufbilden; eine Erwartung, in der wir getäuscht sind. Seine Physiognomie hat an Schärfe und Ausdruck viel verloren; man möchte ihn jetzt oft für einen jungen Salonspieler halten, der mit Thalberg und Henselt rivalisiren wollte, und dies an einem älteren Künstler zu bemerken, könnte beinahe traurig stimmen, wenn andererseits das vorliegende Werk nicht so manches Einnehmende an sich hätte, so daß man darüber vergißt, was der Componist unter andern Verhältnissen hätte leisten müssen. Die Befürchtung aber, daß er sich im Ganzen verflacht, stützt sich zunächst auf obige Etuden; wer aber weiß, was er vielleicht noch im Vorrath hat? Und gehen große Genien wohl einmal einige Minuten rückwärts, um wie eher kann es Anderen geschehen. Die Etuden werden, wie gesagt, gern gespielt und gehört werden; das erstere namentlich, weil sie so sehr leicht in die Finger fallen, daß mittlere Spieler fast nirgends fehlzugreifen zu fürchten brauchen, bis in der letzten, einer Etude in Sprüngen, » Souvenir à Thalberg« genannt, die wir ihm gern erlassen hätten: denn es ist nichts leichter, als dergleichen zu Dutzenden zu schreiben. Besonders anmuthig ist sodann die zweite in As dur. Die dritte in Fis moll wünschten wir dagegen gänzlich ungedruckt, da sie sich gegen Henselt's » Poëme d'amour« wie ein schwacher Schattenriß ausnimmt. Componisten setzen solchen Vorwürfen oft den Einwand entgegen: »sie hätten den sogenannten Schattenriß eher componirt, als das vermeintliche Original sein Stück« etc.; aber auch dann dürfen sie's nicht drucken lassen; die Etude ist an sich zu wenig bedeutend. Die andern mögen sich alle, die den Componisten von früherher liebgewonnen, selbst ansehen und selbst urtheilen, wo er sich treu geblieben, wo nicht. –

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Stephen Heller, 24 Etuden.

Werk 16. Zwei Lieferungen.

Die Zeitschrift hat schon öfters auf diesen jungen geist- und phantasievollen Künstler aufmerksam gemacht. Er lebt seit etwa zwei Jahren in Paris, wo sein Talent als Componist und Virtuos gleichfalls schon rühmliche Anerkennung gefunden. Die Etuden sind sein größtes bis jetzt erschienenes Werk. Ordentliche Etudenspieler irren aber, wenn sie darin auf rechte Fingerarbeit zu treffen hoffen; sie finden mehr, Charakterstücke nämlich in bunter Reihe, darunter einige von ausgezeichnetem Werthe, sämmtlich aber einen musikalisch-regen Geist verrathend, an dem nur zu bedauern, daß er seinen Reichthum in so kleinen Formen zersplittert. Andere haushälterischere Componisten würden aus manchen Grundgedanken der Etuden ganze Concerte und Sonaten aufgebaut haben; unser Componist zieht es vor, nur anzudeuten und flüchtig anzuregen; sein überwiegender Humor will es so, und auch der Schattenriß ist willkommen. Es liest sich die Etudensammlung etwa wie ein Tagebuch. Mannichfaltige Meinungen sind hier neben einander ausgesprochen, bittere Bemerkungen fehlen nicht, auch nicht liebe Erinnerungen. Der Künstler, der Philosoph, der Freund läßt sich darin gehen, als sähe ihm kein Menschenauge zu, als gäbe es keine Recensenten. Vielen wird dies offene hingebende Wesen gefallen, Andern Stoff zur Befürchtung geben, ob diese heitere Freigebigkeit sich nicht etwa in der Zukunft räche, im Alter, wo man oft mit Wenigem auskommen muß, und oft gegen seinen Willen. Wie der Componist nur andeutete, so deutet auch, der darüber schreibt, nur an und meint, der junge Künstler verschwende nicht zu viel im Kleinen. Viele, die gerade davon nützen, werden ihm dankbar sein. Im Angesichte der Kunst aber gilt es Consequenz, Energie, Kraftausspruch durch große Arbeiten, unausgesetztes Streben nach Veredelung. Möge die Zeit nicht kommen, wo der, der diese Zeilen hervorgerufen, sie nur ungern wieder in die Hand nähme. Die schönen Keime, die auch dieses sein letztes Werk in großer Zahl enthält, geben indeß auf schönere Hoffnungen Anspruch, und dies ist schon einer schärferen Auszeichnung werth, der er denn auch im hohen Grade würdig. Dies wird hinreichen, auf die Etuden als auf etwas nicht Gewöhnliches aufmerksam zu machen und das Andenken an den Componisten bei seinen Landsleuten wieder aufzufrischen. Sein interessantestes und liebenswürdigstes Etudenstück steht übrigens in dieser Sammlung nicht, sondern in der Moscheles-Fétis'schen Schule, auf die wir bald zu sprechen kommen werden. –

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