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Elftes Kapitel.

Warum Frau Forstmeister Geduld und Urlaub haben möchte und zu Huberta als Bittende kommt. – Was das Klärchen für Gottes Willen hält. – Robi läuft wie ein wildes Tier herum, und Annele sagt: »Ich bleibe da.« – Von einem Eilbrief und Zoes Vorschlag. – Warum Tante Lina einen Kuß bekommt, Annele sich verschluckt und Onkel Jakob unter der Haustüre steht. – Die Berge glühen.

 

Frau Hilde hatte sicher gehofft, wenigstens vor den Ferien wieder zurückkehren zu können, denn ihre Anwesenheit in der Pension war recht nötig, weil Tante Lina heuer die beiden Lehrerinnen in Urlaub schicken wollte. Mademoiselle Camille war seit Jahren nicht mehr in ihrer Heimat gewesen, und Miß White war von Verwandten in ein Seebad eingeladen worden. Nun aber war Großmutters Zustand noch immer kein guter, und der Arzt verbot jede Aufregung für sie. Er sagte dem Mämmeli: »Nur noch die nächsten Monate ihr alles fernhalten, was sie erregen könnte, wozu vor allem gehört, daß es keinen Wechsel in der Pflege gibt, dann, hoffe ich, sind wir über den Berg! Geben wir ihr irgendeine Pflegerin, wenn es auch die beste wäre, so wird's mit Herrn Jakob und dem alten Vreneli Schwierigkeiten haben. Das wissen Sie ja auch, und es läßt sich nicht vermeiden, daß die Kranke sich in ihrem Bett aufregt.«

Brief von Frau Forstmeister Hagen an Huberta.

Heimatfluh, Juli 19..

Mein Kind!

Heute kommt Deine Mutter als eine Bittende zu Dir, und ich wäre doch so viel tausendmal lieber die Gebende, die Gewährende. Hör' mir zu! Du weißt nun bereits durch Tante, daß ich wohl vor Herbst nicht werde kommen können. Das ist ein sehr drückendes Gefühl für mich, denn so gern ich bei unserm geliebten, hilfebedürftigen Großmütterlein bin, und so wunderbar schön es hier ist, so daß einem oft nur der eine Wunsch kommt, hier in diesem Paradies möchte man für immer bleiben dürfen, so sehr zieht's mich mit tausend Fäden nach St. und zu Euch allen zurück. Zuerst zu meinen lieben Kinderlen, die, wie ich weiß, ihr Mämmeli manchmal vermissen. Aber dann ist der Gedanke qualvoll für mich, Tante Lina, die nun so fest auf meine Hilfe gerechnet hat, gleichsam im Stiche lassen zu müssen. Du, meine Älteste, bist nun schon so vernünftig, daß ich Dir einmal klar unsere Verhältnisse auseinandersetzen will. Vater war nicht reich, und wenn ich auch eine Pension habe, so würde die nicht dazu reichen, mit Euch zu leben und vor allem Euch so viel lernen zu lassen, daß Ihr später im Leben Euch einen Beruf suchen könnt. Da war es nun ein großer Glücksfall, daß Tante Lina Euch bei sich aufgenommen hat, ohne daß ich etwas für Euch zahlen muß, und daß Ihr alles das lernen könnt, was Ihr einmal braucht, ganz besonders aber fremde Sprachen. Das einzige, was ich dafür Tante Lina wiederum erweisen konnte, war, daß ich ihr zu einer Art Stütze wurde, und nun fällt das schon seit Monaten weg, und jetzt verstehst Du, wie mich mein Fernbleiben drückt. Tante könnte für Annele und für Dich ganz gut noch zwei weitere zahlende Pensionäre aufnehmen, wodurch sie sich wieder viel Erleichterung verschaffen dürfte. Das einzige, womit wir uns einstens erkenntlich zeigen könnten, ist und bleibt, – was Du ja schon längst weiß – daß Du Dich zur tüchtigen Lehrerin ausbildest, wodurch später eine der andern Damen entbehrlich sein wird.

Nun weißt Du alles und weißt auch, warum das Lernen gerade für Dich so nötig ist. Aber jetzt komme ich mit meiner Bitte.

Wir können Tante Lina unmöglich über die ganze Ferienzeit ohne Hilfe lassen, wir müssen auch an Zoe und Rosemarie denken, die doch recht einsam wären. Und so, mein liebes Kind, stelle ich an Dich das große Ansinnen, daheim zu bleiben, statt nach Rieneck zu gehen, und in Gottes Namen zu helfen, wo Du kannst. – Nun sehe ich mein Bertele sehr traurig werden und möchte doch so gerne meinem lieben Kinde nur Freude gönnen. Aber ich weiß wirklich keinen andern Ausweg. Patin Charlotte wird mein Handeln verstehen, und wenn sie Annele aufnimmt, so bin ich ihr dankbar. Fühlst Du Dich aber ohne das Kind zu einsam, so behalte es bei Dir. Und nun segne Dich der liebe Gott, meine Alte, und gebe Dir Freudigkeit ins Herz! Schreibe bald

Deiner getreuen Mutter.

Freudigkeit ins Herz! Ach, wo sollte die auch nur herkommen, wenn man so was Arges von einem verlangt! Huberta war anfangs ganz auseinander, als sie diesen Brief erhalten hatte, und sie, die gewohnt war, mit all ihren Gefühlen herauszutreten, mußte diesmal ganz allein mit sich fertig werden, denn weder mit Tante Lina noch mit den Mädchen konnte sie ja über diese Sache sprechen. Sie sollte für alle solch großes Opfer bringen! Ach, warum nur gerade das, wo sie sich doch so gräßlich auf Rieneck gefreut hatte! Warum wurde gerade von ihr so etwas verlangt wie das Alleinsein mit Tante Lina, die so ganz anders als das Mämmeli war! Und dann, immer wieder das Allerschrecklichste, was hinter all dem steckte, der Gedanke, daß sie wirklich einmal Lehrerin werden und ewig und für alle Zeiten hier bleiben sollte, ihr Leben lang in der Schulstube sitzen und so unartige, widerspenstige Mädel, wie sie selber eines war, erziehen und unterrichten! Ganz verzweifelt lief Huberta an diesem Tage herum und war so zerstreut in den Stunden, daß sie nach längerer Zeit wieder einmal von Miß White den Verweis erhielt: »O Huberta, Sie uerden doch nicht wieder in das alte Uesen zurückfallen!«

Mademoiselle Camille aber meinte in der Konversationsstunde, daß sie noch nie gehört habe, daß man eine Sprache durch Schweigen erlerne, so wie Huberta es anscheinend heute erzwingen wolle. Beide Lehrerinnen wunderten sich in der Stille, denn die nicht leichte Schülerin hatte in der letzten Zeit doch recht hübsche Fortschritte gemacht.

Gegen Annele war Huberta auch ziemlich kurz und schweigsam, und als Rosemarie dieses fragte: »Weißt du nicht, hab ich deinem Bertele irgend etwas getan, daß sie mir vorhin kaum antwortete?« sagte das Annele: »Nein, ich weiß nicht, was sie hat. Ich weiß nur, daß sie einen langen Brief von Mämmeli schnell in den Schreibtisch verschlossen hat, und ich hätte doch so gerne gewußt, was es schreibt.«

Am Nachmittag saß Huberta vor einem angefangenen Briefbogen, und was bis jetzt darauf stand, lautete:

Mämmeli, ach Mämmeli!

Es ist entsetzlich, was Du da geschrieben! Ich verstehe ja alles; aber ich bin so traurig, daß ich nicht nach Rieneck und vor allem, daß ich so lange mit Tante Lina allein hausen soll. Das ist gräßlich, und ich weiß auch noch gar nicht, ob ich es kann. Aber ...

Bei diesem »Aber« war Huberta stehen geblieben, und je öfter sie das Geschriebene wieder las, desto mehr kam ihr doch, daß sie so unmöglich schreiben könne, und daß das ihr Mämmeli noch mehr betrüben müsse. Und es kam ihr auch, daß sie nun doch schon fünfzehn Jahre alt sei, und daß Mutter sich doch so vertrauensvoll an sie wie an eine Erwachsene gewendet habe.

Das Annele guckte ein paarmal herein und wollte fragen, ob es in den Garten dürfe. Zoe hatte ihr eine kleine Eisenbahn von lauter Fadenrollen und ein Zeppelinschiff aus einer Eierschale gemacht, das sie nun zusammen an einem Strauch aufhängen wollten. Aber Huberta hatte nur kurz genickt: »Tu, was du willst!«

»Was sie nur hat?« fragten sich Rosemarie und Klärchen. Und letztere, die Huberta ein Buch geliehen und es heute notwendig haben sollte, ging zaghaft hinein. Die Tür war angelehnt, und sie sah, wie die Freundin bitterlich weinte. Klärchen war ihr in letzter Zeit recht nahegekommen, und sie ging deshalb auf sie zu, nahm die Widerstrebende in ihren Arm und sagte in ihrer festen, ruhigen Art: »Was ist's, Bertele, warum mußt du weinen? Kannst du mir nicht sagen, was du hast?«

Da das Klärchen an der ganzen Sache ja nicht beteiligt war, und da Hubertas Herz zu voll war, so sagte sie ihr alles und las ihr auch des Mämmelis Brief vor. Klärchen saß da und weinte zuerst ein bißchen mit, denn das mit Rieneck war doch recht, recht schwer. Aber dann sagte sie: »Weißt, eins ist doch ganz merkwürdig! Du würdest doch weit lieber im Haushalte schaffen und lernst weniger gern. Mein allerhöchster Wunsch wäre, Lehrerin werden zu dürfen, und mir schrieben die Eltern erst vor ein paar Wochen, daß sie das Geld für einen längeren Pensionsaufenthalt nun nicht mehr erschwingen könnten, weil die Brüder gar so viel kosten. Ich hätte ja jetzt einen tüchtigen Schulsack, und nach der Einsegnung soll ich eben irgendwo Stütze der Hausfrau werden, das sei nun wohl so Gottes Wille.«

»Du, Klärchen, die Beste in unserer Klasse, von der wir alle dachten, daß du einmal studieren würdest, du sollst nun alles unterbrechen?« rief Huberta ordentlich entsetzt. »Das kann doch nicht sein! Ja, was hast du denn deinen Eltern darauf geantwortet?«

Da sagte Klärchen einfach: »Natürlich, daß ich will; denn was andres gibt's doch nicht, wenn man eben muß.«

»Und dabei bist du so ruhig und gelassen, und keine von uns hatte dir angemerkt, wie schwer es dir zumute ist?«

»Es fällt mir nicht so schrecklich schwer, denn ich tu's ja für die Eltern und für die Brüder.«

»Aber mir fällt's doch schwer, auch wenn ich es fürs Mämmeli tue,« sagte Huberta fast ein bißchen heftig, und Klärchen ging, weil da recht wenig darauf zu sagen war. Aber ihre Worte hallten doch in Hubertas Herz wenigstens insoweit nach, daß sie den angefangenen Brief nicht weiter schrieb, sondern ihn in ihrer Schublade verschloß.

Robi kam am Nachmittag, voll von Plänen, was sie alles zusammen in Rieneck treiben wollten. Sieghardt wurde in den nächsten Tagen als geheilt wieder entlassen. Robi wollte gar nicht glauben, was in der Mutter Brief stand.

»Das wäre schändlich!« sagte er und lief wie ein wildes Tier in dem kleinen Raum herum. Dann aber kam er auch zu dem Endergebnis: »Machen läßt sich da nichts, man muß eben!«

Und Huberta mußte, und wenn auch der zweite Brief, den sie schrieb, – den ersten hatte sie zerrissen, weil sie doch gefühlt hatte, daß es so nicht der richtige Ton war, – etwas willfähriger ausgefallen war, so bereitete er doch der Mutter kummervolle Stunden und Nächte.

Tante Lina war auch nichts weniger als erbaut darüber, mit Huberta hausen zu sollen. Aber doch war sie immerhin eine Genossin für die beiden andern Mädchen, und im Haushalte sollte das große, kräftige Mädchen nur mit anpacken. Da war es aber, wo die Tante eine Freude an Huberta haben konnte. Hier war sie in ihrem Element. Bei der großen Putzerei, die in den Ferien im Hause stattfand, helfen räumen, abstauben und schön abwaschen, was zerbrechlich war, ferner in der Küche helfen Beeren aussteinen, Apfel und Birnen schälen, Eier einkalken, Gurken einmachen, das alles ging ihr ungemein flink von der Hand, und die Köchin meinte verschiedene Male: »Das Fräulein, so jung es ist, versteht schon etwas vom Haushalt. Auch beim Einkaufen gestern auf dem Markte habe ich das gemerkt, so genau hat Fräulein Huberta alles Brauchbare vom Schlechten unterschieden. Die kann auch einmal so tüchtig werden wie die Frau Forstmeister.«

Das freute die Tante, ebenso wie das, daß sie Huberta auch schon einen Teil, wenigstens einen kleinen, der laufenden Rechnungen übergeben konnte; darin war sie pünktlich und zuverlässig.

»Aber wenn das Mädchen nur um's Himmels willen nicht einen solchen trübseligen Kopf hinmachen würde!« hatte sie Mademoiselle Camille, ihrer Freundin, als sie diese auf die Bahn begleitete, noch geklagt. »Ich habe gehofft, ich kriege etwas Erheiterndes, Erfrischendes ins Haus, und nun geht mir dieses ewige Kopfhinhängen ganz auf die Nerven.«

Wenn Huberta überhaupt schon gewußt hätte, was Nerven sind, so hätte sie vielleicht dasselbe von der Tante sagen können, denn deren Art war ihr auch von jeher unangenehm gewesen. Dieses Abgemessene, Bestimmte vom Morgen bis zum Abend, diese strenge Einteilung und vor allem diese peinliche Pünktlichkeit!

Aber es war merkwürdig, gerade durch dieses regelmäßige Arbeiten kam Huberta am leichtesten über den Enttäuschungsschmerz hinüber. Sie hatte nicht viel Zeit zum Besinnen, und abends war sie müde. Und dann, – noch merkwürdiger war's, – wenn sie mit der Tante arbeitete, so empfand sie doch manchmal die Wohltat solch festen Wesens. Man hatte einen Halt ohne viel Worte, und manchmal gab's nun sogar ein Lächeln oder einen kleinen Spaß oder gar, und das wollte viel heißen, ein Lob. Und seit Rosemarie gebeten hatte, auch ein bißchen mittun zu dürfen, – sie tat's hauptsächlich im Andenken an ihre liebe Frau Forstmeister – da sah Hubertas trübseliger Kopf auch manchmal wieder heiter drein. Nur an das, wie es hätte sein können, durfte sie nicht ohne Schmerz und Bitterkeit denken.

Wie glücklich war dagegen Annele! Als sie von dem veränderten Plan gehört hatte, und daß es nun allein nach Rieneck gehen sollte, da sagte es ganz einfach: »Das tu' ich nicht; ich bleibe bei euch, und da ist es auch nett.«

Selbst Patin Charlotte mit ihrem freundlichsten Zureden brachte es nicht davon ab. Nur als Robi den letzten Versuch machte, sagte es ganz leise zu ihm: »Ich hätte ja gerne den Braunen und die Hasen und unser Haus und die Waldhütte wieder gesehen, aber ohne Huberta nicht.«

Die Kleine hatte ein gar feines Empfinden.

Doch auch Tante hatte dies; man merkte es nur oft lange nicht. Je mehr Huberta sich überwand, desto leider tat sie ihr im Innern ihres Herzens und desto leider überhaupt ihre Übriggebliebenen, daß sie ihnen außer dem täglichen Spaziergang nicht auch eine Abwechslung und Ausspannung verschaffen konnte. Bei Zoe war es freie Wahl, daß sie dablieb. Sie war nun siebzehn Jahre alt, hatte ihre Studien beinahe vollendet und sollte im Herbst wieder nach Hause zurückkehren. Zoe wurde von den Damen schon mehr als Erwachsene behandelt. Sie besaß ihr eigenes Zimmer, und mit dem sehr reichen Taschengeld, das sie von Hause bezog, ging sie in Theater und Konzerte, auch tat sie sehr viel Gutes, aber nur ganz in der Stille. Eine wirkliche Freundschaft verband sie mit keiner der Pensionäre. Ihr ganzes Wesen verlangte nicht danach, und umso stolzer durfte das kleine Annele sein, daß das ernste, in sich gekehrte Mädchen sich so oft mit ihr abgab.

Fräulein Schindler hätte ganz besonders Rosemarie eine Unterbrechung der Studien gegönnt, denn sie sah oft blaß aus und sprach nun wohl auch manchmal recht sehnsüchtig von den Ihrigen und von der fernen Heimat.

»Du bist der geduldigste, anspruchloseste, rührendste Mensch, den ich kenne,« sagte Huberta öfter zu ihr, ein Lob, das Rosemarie aber nicht gelten ließ.

»Ich bin gar nicht so, ich habe es nur lernen müssen. Mir ist oft gar nicht lieb und geduldig zumute. Wenn ich an meine Mutter, an unsere Fazenda und gar an das Meer denke, so ...«

»Denk' nicht daran, bitte, bitte, denk' nicht daran, sonst wirst du am Ende auch so widerwärtig und heimwehig wie ich, und dann ...«

Rosemarie hielt Huberta den Mund zu und sagte lachend: »Widerwärtig bist du jetzt gar nimmer, und ich hab' dich schrecklich lieb.«

Als die beiden so sprachen, schellte es unten, und für Fräulein Schindler wurde ein Eilbrief gebracht. Die Mädchen hatten eben ihre Handarbeit ergriffen, – sie strickten für Rösles Kinder Kittelchen und Unterröckchen – da trat Tante Lina, sichtlich erregt, mit dem geöffneten Briefe herein.

»Ich habe soeben eine Nachricht bekommen, Rosemarie, die dich angeht, und die dir eine große Freude sein wird. Dein Vater ist aus Südamerika herübergekommen und wünscht, daß irgend jemand dich sofort nach Hamburg bringe, von wo aus er mit dir einen Aufenthalt in einem Seebad machen wolle. Er bittet um möglichste Beschleunigung deines Kommens und schrieb dir sogar die Züge für heute abend schon heraus.«

Rosemarie war zuerst ganz blaß und dann feuerrot geworden, und dann sprang sie auf und fiel, halb weinend, halb lachend, Huberta um den Hals. »Vater da! ... Ihn wiedersehen! ... Von all den Meinen hören, und am Meer, an meinem lieben, lieben Meer eine Zeitlang sein dürfen! ... Ist es denn möglich, daß so was Schönes plötzlich kommen kann?«

Nun aber galt's sofort, nicht mehr zu reden, sondern zu handeln. Zoe und Annele waren herbeigekommen, denn Karoline, die die Koffer herabholen mußte, hatte gleich im ganzen Hause die Nachricht verkündet. Wäsche, Kleider, Mäntel, Hüte, alles wurde in größter Eile zusammengepackt und der Fahrplan noch einmal ganz gründlich studiert. Die Hauptsorge für Tante Lina war, daß sie niemand zur Begleitung von Rosemarie hatte und sich deshalb entschließen mußte, das Mädchen selber nach Hamburg zu bringen. Bei Tisch, als schon die Hauptanordnungen getroffen waren und Karoline das Antworttelegramm zur Post gebrachte hatte und die Wogen der Überraschung sich ein bißchen gelegt hatten, da wurde nun alles durchgesprochen. Und Tante Lina sagte: »Ich werde mich möglichst sputen, um wieder zu euch zurückzukommen, obgleich ich gar gerne geschwind von Hamburg aus einen kleinen Abstecher zu Miß White gemacht und ein bißchen Seeluft dabei geatmet hätte.«

Hubertas Innere war von recht verschiedenartigen Gefühlen bewegt. Wirklich von Herzen freute sie sich über die große Freude, die Rosemarie winkte. Aber wie doppelt öde und langweilig es nun ohne sie sein würde, daran durfte sie gar nicht denken. War ja doch noch nicht einmal die Hälfte der Ferien vorüber, und man merkte auch Fräulein Schindler an, daß sie Ähnliches umtrieb, denn sie sagte unvermittelt: »Wenn ich zurückgekehrt sein werde, wollen wir dann sehen, Kinder, wie wir uns auch ein bißchen Vergnügen verschaffen können.«

Da ergriff Zoe, die bisher fast ganz geschwiegen, plötzlich das Wort und sagte: »Mademoiselle Schindler, ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen; bitte, hörren Sie mich an! Wollen Sie mirr eine serr, serr grroße Frreude machen und ein paarr Wochen bleiben an dem Meerr, damit ...« Fräulein Schindler wollte eben nachdrücklich einfallen und sagen, daß das ja ganz unmöglich sei, aber Zoe ließ sie nicht reden: »Ich weiß, was Sie erwiderrn wollen! Ach, ich habe so einen schönen Plan! Mein Vaterr hat mirr Geld geschickt, ziemlich viel, und err hat mirr geschrieben, ich solle mirr eine Ferienfrreude damit machen. Und nun bitte, verrtrrauen Sie mirr das Annele und Huberrta an, und ich werrde mit ihnen eine kleine Rreise in die Schweiz machen und an den Vierrwaldstätterr See, und wirr werrden überraschen die liebe Frrau Forrstmeisterr, und ich glaube, sie wirrd haben eine Frreude, uns wiederrzusehen.«

Zoe hielt inne, solch eine lange Rede hatte sie wohl noch nie gehalten. Noch mehr sprechen hätte sie auch gar nicht können, denn Huberta hatte noch kaum gehört, was Zoe eigentlich wollte, als sie schon von ihrem Stuhl auf und ihr um den Hals geflogen war. Dann desgleichen der Tante Lina, die noch nicht oft eine solch stürmische Umarmung von einer ihrer Pensionäre bekommen hatte. Rosemarie aber schrie geradezu hinaus über Zoes Worte. Und das Annele, dem nur das eine klar wurde, daß es vielleicht sein Mämmeli sehen sollte, und das deshalb auch vor Wonne jubeln wollte, verschluckte sich an einem Bissen Brot, den es gerade im Munde gehabt, so daß man vor allem andern ihm den Rücken klopfen, das Gesicht mit Wasser bespritzen und die Arme ihm in die Höhe heben mußte, bis es wieder zu Atem kam. Sie waren überhaupt außer Atem und aus Rand und Band gekommen, die Mädel, und erst nach und nach konnte man richtig denken, reden und die Sache besprechen, wobei Zoe aber herzlich bat: »Bitte, Mademoiselle Schindlerr, nurr nicht zu serr überrlegen! Sie rreisen heute, wirr rreisen morrgen, und in drrei Wochen kommen wirr hierr wiederr zusammen.«

Noch nie war Tante Lina so überrumpelt worden. Ihre Gegengründe: die Frau Forstmeister habe ja doch ihre Kranke zu pflegen und könne doch keine Besuche brauchen, widerlegte Zoe damit, daß es der Kranken ja entschieden besser gehe, und daß es ihnen ja auch nicht einfallen werde, dort zu wohnen, sondern in irgendeiner Pension in der Nähe. Und Huberta rief immer wieder: »O nein, Mühe wollen wir dem Mämmeli gewiß keine machen, nur einmal wieder bei ihr sein und sehen, wo sie und Großmama wohnen, und wie's ihnen geht!«

Das Annele wich den ganzen Tag über nicht mehr von ihrer Gönnerin, wie eine Klette hing sie ihr um den Hals, drückte ihren Kopf fest an die braune Wange der Rumänin, deren dunkle Augen leuchteten, und versicherte ihr immer wieder, daß es auf der ganzen weiten Welt außer dem Mämmeli keinen so lieben Menschen mehr gebe wie sie.

Wer dem Häuflein Zurückgebliebener noch vorgestern gesagt hätte, daß sie zwei Tage nachher nach ganz verschiedenen Weltrichtungen fahren dürften, – meerwärts und dem Gebirge zu! »Es gibt doch wunder-, wunderbare Sachen auf der Welt!« sagten die drei Mädchen untereinander, als sie nach einem fröhlichen und wortreichen Abschied von Rosemarie und der Tante dem Bodensee zu und dann durch die freundliche Vorschweiz fuhren und immer näher ihrem Endziel, Luzern, kamen. Immer grüner wurden die Matten, immer höher die Berge, und nun noch durch ein paar Tunnels, an einem rauschenden smaragdgrünen Wasser vorbei, der Reuß, und sie fuhren in den Luzerner Bahnhof ein, wo eine liebe, liebe Gestalt stand, die von weitem mit einem Tuch winkte und die Arme ausbreitete.

Was war's für das Mämmeli gewesen, als ein Telegramm ihr sagte:

»Wenn es Ihnen recht ist, bringe ich Ihnen Huberta und Annele, und wir bleiben einige Wochen in Ihrer Nähe. Bitte, bestellen Sie nach Gutdünken zwei schöne Zimmer für mich und meine zwei Gäste. Bitte nicht erschrecken, wir freuen uns so!

Zoe Robesko.«

Auch mitten in der größten Freude kann man erschrecken, wenn man im ersten Augenblick etwas gar nicht versteht und auch nicht alles geebnet sieht, aber die Hauptsache war, daß es Großmutter nun entschieden besser ging, und günstig war ferner, daß ganz nahe der Heimatfluh in einem netten, kleinen Hause gerade zwei Zimmer leer standen.

Und nun waren sie da; das Mämmeli sah wieder die lieben Gesichter der Kinder. Diese hatten sich rechts und links fest eingehakt, und hinüber ging's im Sturmschritt über die breite, schöne Brücke, auf der die vielen Wagen donnerten und die vielen Fremden aus aller Herren Ländern gingen, vorbei an der Promenade und an den großen Gasthöfen, vor denen all die geputzten Menschen saßen, hinaus zwischen lieblichen Landhäusern, entlang an dem Ufer des Sees, von wo aus die Mutter ihnen die Heimatfluh schon zeigen konnte. Ob wohl je eine so glückselige Gesellschaft diesen Weg schon gewandelt war?

Nun beleuchtete und vergoldete die Abendsonne das Wasser und die Berge. Die Felswände des Rigi glühten, als wären sie in flüssiges Rot getaucht, weißglänzender Schnee sah hinter dunkeln, bewaldeten Vorbergen hervor, und unzählige kleine Schiffe glitten über das leichtbewegte Wasser. Onkel Jakob, dem zwar ein bißchen angst war vor den angekündigten Gästen, stand doch höflich empfangend vor seinem Hause, und das alte Vreneli putzte sich schnell die Hände an der Schürze ab und begrüßte ein jedes mit einem herzlichen: »Chrüezi! ... chrüezi!«

Das Mämmeli wollte die Ankömmlinge heute nicht mehr zur Großmutter hineinführen, aber ihre liebe Stimme rief aus dem Nebenzimmer: »Kommt nur, kommt nur, das schadet mir nicht!« Und die Mädchen durften herein und dem Großmütterle die Hände küssen und durften sich überzeugen, daß der Doktor recht hatte, wenn er sagte, sie sei nun entschieden auf dem Wege der Besserung.


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