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Achtes Kapitel.

»Es schneit, es schneit!« und warum die Uhr nur immerfort halb und nie ganz schlägt. – Von Marie Huttenlocher, und wie sie endlich einmal satt wird. – Fräulein Schindler braucht ihre Lorgnette. – »Musterkinder sein ist schwer.« – Am Kasernenhof, in der stillen Allee, und was Großmutter dazu sagt.

 

Nun war es Winter geworden, über Nacht hatte es geschneit, die Dächer und die Straßen waren weiß, und die Externen schüttelten den Schnee von den Mützen, wenn sie in der Frühe kamen. Tante Lina ließ durch das Dienstmädchen mahnen, sie sollten doch gewiß auch recht pünktlich ihre Schuhe putzen. Die nächsten Tage fror es, und nun war eine herrliche Schlittschuh- und Rodelbahn.

Huberta machte der Anblick des Schnees ganz traurig und zappelig. Jetzt wenn es so wie früher gewesen wäre! Da war sie mit Jörg und dem Holzschlitten oft tief hinein in den überzuckerten Wald gefahren, oder Vater hatte sie wohl verpackt in seinem Schlitten bis ins nächste Revier mitgenommen. Oder sie war frei und ungehindert den ganzen Tag die kleine Anhöhe hinter dem Hause hinabgerodelt, denn das bißchen Lernen in der Frühe rechnete man nicht. Und nun gab es eben nichts als Stunden – Stunden – Stunden, trotzdem es draußen so wunderbar verlockend aussah. Und die Vertröstung Tante Linas, in der nächsten Woche werde es vielleicht einen freien Eisnachmittag geben, konnte einen wenig trösten. Bis dorthin konnte es auch wieder tauen.

»Mämmeli, es ist gräßlich, daheim bleiben zu müssen! Ach Mämmeli, sich doch nur, wie dort drüben die glücklichen Buben den Hügel hinabfahren! Ach Mämmeli, ich meine, ich halt's nicht mehr aus in der Stube!« klagte sie beständig, und auch die andern stimmten ihr darin bei.

Der Bann des Nichtsprechendürfens war längst gebrochen, aber Edith von Wildau hatte sich nun wirklich ganz zu Marieluise gewandt, was Huberta sehr tief schmerzte. Die beiden halten auch sehr viel gemeinsame Interessen: hübsche Kleider, vornehme Menschen, neue Haartrachten, die sie mit Vorliebe in der Freistunde vor dem Spiegel probierten, Dinge, bei denen Huberta doch abseits stehen mußte, weil sie ihr fern lagen. Aber gerade dies tat weh. Das Mämmeli suchte sie darüber zu beruhigen und brachte ihr auch sanft und linde bei, daß sie nun sehe, wie weh zurückgestoßene Liebe tue, und wie still und geduldig das Rosemarie immer getragen habe. –

Heute abend mußte die Schlittenbahn ganz besonders herrlich sein. Der Mond kam langsam über die Dächer herüber, und von der nahen, abschüssigen Straße her tönte das Jauchzen fröhlicher Kinder. Da hielt es Huberta einfach nicht mehr aus. Es war in der Erholungsstunde, die Damen hielten sich im Zimmer der Vorsteherin auf, um über Weihnachten zu beraten, und Huberta sagte Klärchen Schulze leise etwas in Ohr. Die aber schüttelte den Kopf und sagte: »Ich tät's sehr gerne, aber ich trau' mich nicht.«

Ein paar andere, bei denen Huberta dieselbe Frage stellte, mochten nicht, weil es ihnen zu kalt war, im Grunde aber mochten sie nicht gegen die Erlaubnis handeln. Nur Amalie Zeller sagte: »Da tu ich mit, das wird lustig.«

»Bleib lieber da,« mahnte Rosemarie ängstlich und faßte Huberta bei der Hand.

Und Zoe Robesco sagte: »Es wirrd dich nachherr reuen!«

Aber Huberta rief: »Ich gehe ja nur ein klein bißchen fort und bin gleich wieder da. Ich kann nun einmal nicht anders, und ich will!«

Gleich darauf zogen die zwei Mädchen, nachdem sie rasch Mäntel und Mützen geholt, Hubertas Rodelschlitten, der in der Waschküche untergebracht war, heraus, und lautlos ging's durch ein Gartenpförtchen hinaus über die Ecke auf die Straße.

Hei, wie es da lustig zuging! Buben und Mädel, Kinder und Erwachsene fuhren mit laut gerufenem »Aus!« und »Hurra!« den Berg hinab, und sofort gesellten sich die zwei mit heller Lust unter sie. Herunter, wieder hinauf, – das einemal leitete Amalie, das anderemal Huberta, – und es ging einfach großartig. Ein paarmal stießen sie an andere Schlitten an, und sie drehten sich ein bißchen im Kreise herum, oder sie fielen auch einmal in den Schnee. Aber das tat nichts, und immer wieder von neuem wurde begonnen.

Da kam Huberta plötzlich der Schrecken: die Zeit! Wieviel Uhr mochte es wohl sein? Es schlug halb, und Amalie sagte: »Da haben wir noch eine ganze halbe Stunde vor uns, bis es sieben Uhr schlägt, und ein bißchen vorher schleichen wir uns wieder ins Haus, dann hat es kein Mensch gemerkt. Die alte Katze – mit diesem Namen wurde Tante Lina von einem Teil der Mädchen genannt, weil sie eben oft unerwartet und leise ins Zimmer trat, – die alte Katze wird uns nicht gerade ausschnüffeln.«

Für gewöhnlich hätte Huberta eine solche Sprache nicht ohne Erwiderung mit angehört. War Tante auch strenge und manchmal ein bißchen eigentümlich, so war sie doch Mutters Schwester, und diese liebte sie sehr. Aber heute war ihr alles gleichgültig. Nur rodeln, rodeln! Und sie gab sich ohne Besinnen dem Vergnügen hin.

In der Pension schlug es halb acht, und die Mädchen tuschelten untereinander: »Wenn sie doch kämen!« – »Wo sie nur bleiben mögen?« – »Es geschieht ihnen gerade recht, wenn sie ertappt werden!« so hieß es je nach dem Grade von Wohlwollen gegen die Abwesenden.

Die Essensglocke ertönte, und die Pensionärinnen gingen langsam und zögernd ins Speisezimmer.

» Allons, mes enfants, ne tardez pas si longtemps!« sagte Mademoiselle Camille, denn Fräulein Schindler saß schon oben an ihrem Platz, und die Frau Forstmeister schöpfte die Suppe heraus. Da wurden die leeren Plätze entdeckt.

»Huberta und Amalie fehlen ja noch!« sagte Fräulein Schindler. »Rosemarie soll gehen und sie holen.«

Statt aber sofort aufzustehen, blieb Rosemarie sitzen, sah die andern ängstlich an und zerkrümelte ihr Brot.

»Na, warum gehst du nicht? Hast du mich nicht verstanden, Kind?« sagte die Vorsteherin noch einmal, und Frau Hildens Gesicht wurde besorgt, als sie bemerkte, wie sich die Mädchen einander anstießen oder sich leise etwas zuraunten.

»Nun, was ist denn los? Sind die zwei Trödlerinnen noch oben, oder ist ihnen schlecht geworden?« Fräulein Schindler sagte es nun in recht ärgerlichem Tone.

Da rief Edith vom unteren Tisch herauf: »Wir können die beiden nicht holen, Fräulein Schindler, weil sie nicht da sind.« Sie kicherte leise in sich hinein, während die andern erschrocken schwiegen. Es war doch zu peinlich, auf der Damen Fragen hin nicht antworten zu können, und man durfte doch die Mitschülerinnen auch nicht verklagen.

Frau Hilde ängstigte sich nun aber ernstlich, und jetzt mußten die Mädchen auf das nachdrückliche Fragen der Damen hin doch sagen, was sie wußten.

»Die zwei Fräuleins sind zusammen drüben auf dem Wilhelmsberg. Soll ich sie holen?« sagte Karoline, die das Essen auftrug.

Da stand aber Tante Lina jäh auf, schob den Teller zurück und sagte: »Na, das wäre aber stark! Bei Nacht und Nebel, Mädchen von unserer Pension, unbeaufsichtigt, so etwas zu tun und darüber Zeit und Pflicht zu vergessen, – da hört doch alles auf!« Und sie verschwand, gefolgt von dem ganz blaß gewordenen und zitternden Mämmeli.

Den Pensionärinnen war auch fast die Lust zum Essen vergangen. Das gab jedenfalls eine arge Geschichte. Nur Marie Huttenlocher häufte sich rasch den Teller ein paarmal auf, – so eine gute Gelegenheit zum Sattwerden gab es nicht so bald wieder – und Edith Wildau erzählte mit wichtiger Miene, daß schon vor Jahren in der ganzen Umgegend Huberta Hagen nur »das wilde Forstmädle« geheißen habe.

Draußen, als die Mädchen eben wieder keuchend, aber rot vor Lust und Vergnügen, ihren Schlitten hinaufgezogen hatten, schlug es von neuem vom Turme, und sie zählten. »Noch einmal halb? Nein, wie dumm! Jetzt wissen wir wieder nicht, wieviel Uhr es ist,« sagte Huberta und setzte sich vorn auf den Schlitten. Da kam ein Junge und begrüßte eifrig Amalie, die ihn als ihren Vetter vorstellte. Er war es auch und bat ganz nett und höflich, ob er die beiden Fräuleins hinunterfahren dürfe, er verstehe fein zu leiten. Das war Huberta doppelt recht, und sie rutschte, sofort Platz machend, weiter zurück. Mit lautem »Hurra, Hurra!« ging es flott wieder den Berg hinab, und es folgten noch ein paar Jauchzer, als unten der Schlitten an dem kleinen aufgeworfenen Schneewall so lustig aufprallte.

Eben erhoben sich die beiden Mädchen und schüttelten den Schnee von ihren Röcken, als wie aus dem Boden herausgewachsen zwei dunkle Gestalten mit Mänteln und Kapuzen vor ihnen standen und – o Schrecken! – Fräulein Schindlers Stimme, die sich vor Erregung fast überschlug, sagte: »Also da seid ihr! Da muß man euch suchen, auf der Landstraße, unter fremden Leuten, ohne jegliche Aufsicht!« Dabei starrte sie durch ihre Lorgnette hauptsächlich den Jüngling an, der mit höflich gezogener Mütze dastand.

»Das ist doch mein Vetter, und er hat uns nur einmal gefahren!« sagte Amalie trotzig. Es war auch wirklich der Sohn einer Familie, die Fräulein Schindler kannte. Aber das änderte nichts an der Sache. Sie konnte nur noch sagen: »Augenblicklich folgt ihr mir nach Hause!« und dann ging sie stumm vor ihnen her. Das Mämmeli aber sprach, gleichfalls aufs äußerste erregt, in Huberta hinein, wie sie nur so etwas hätte tun können. Eine Stunde sei's schon über die Essenszeit, sie habe Todesängste um sie ausgestanden, und sie müsse doch bedenken, daß man hier nicht auf dem Lande, sondern in der Stadt sei. So redete das Mämmeli ja sonst nie, und Huberta weinte bitterlich, während Amalie ziemlich gleichmütig hinterdreinging. Sie machte sich nicht viel aus Strafen, denn die war sie schon gewöhnt. Aber für Huberta war es schrecklich, als sie, ohne Nachtessen zu bekommen, von der Tante gerufen wurde, und wie diese ihr dann vorhielt, was sie Entsetzliches getan: Gejodelt und geschrieen hätten sie und sich aufgeführt wie betrunkene Burschen.

»Und was das für mich bedeutet, wenn man gesehen hat, daß junge Damen meiner Pension in der späten Nacht sich von Hause entfernen und solche Dinge treiben, das scheinst du gar nicht zu verstehen.«

Nein, Huberta verstand es wirklich nicht, was sie der Tante und der Pension angetan, nur das, daß sie ohne Erlaubnis fortgegangen, und gerade mit Amalie, die sie doch eigentlich nicht mochte, und sie bat unter heißen Tränen dafür um Verzeihung.

Aber eines machte ihr das Mämmeli noch spät in der Nacht klar, und das sollte und müßte sie immer wieder verstehen lernen und festhalten, daß gerade sie und Annele, als Nichten der Vorsteherin, Musterkinder sein und der Tante in allem nur Freude machen sollten. –

An Weihnachten war wieder ein Teil der Mädchen zu Hause, den andern aber suchte das Mämmeli und auch Tante Lina möglichst viel Freude zu machen. Es gab einen prachtvollen Baum mit dem schönsten Zuckerwerk. Für jede stand auf ihrem Platz eine große Platte voll feinen Backwerks und noch irgendeine hübsche Gabe von der Vorsteherin. Pakete und Körbe von den fernen Angehörigen wurden ausgepackt, Briefe gelesen, die Mädchen und Lehrerinnen beschenkten sich auch untereinander, einigen Armen wurde im Nebenzimmer reichlich beschert, und am Schlusse des Abends gab es Torte und Punsch. Das war alles sehr hübsch. Aber noch schöner war es doch, als nach der allgemeinen Bescherung das Mämmeli mit ihren Kindern oben in ihrem Zimmer Weihnachten hielt. Freilich, so wie daheim konnte es ja nie mehr sein, vor allem fehlte ja der Vater, und heiße Tränen wurden ihm nachgeweint. Aber dann freuten sich die Kinder – Robi hatte auch noch eine Stunde kommen dürfen – über die Gaben, die das Mämmeli ihnen mit viel Liebe ausgedacht und gemacht hatte. Als sie dann noch zusammen sangen: »Stille Nacht, heilige Nacht ...,« da war es ihnen, als ob der von ihnen Gegangene leise sie umschwebte, und das Annele sagte: »Gelt, Mämmeli, unser Vater darf heute vielleicht auch droben im Himmel mitsingen? Wir können's nur nicht hören.« –

Es war Frau Hilde in der letzten Zeit, besonders aber am heiligen Abend, aufgefallen, wie ernst ihr Robi war, und sie hatte ihn auch einmal gefragt: »Büble, hast du etwas, was dich drückt?« aber er hatte nur mit dem Kopf geschüttelt und gesagt: »Nein, Mämmeli, mir fehlt nichts.« Der Junge hatte es auch wirklich gut, und in der Schule wurde er von vielen beneidet. In einem Grafenhause wohnen zu dürfen, die schönsten Spielsachen mit Wolf Sieghardt zu teilen und überall, wo dieser war, auch mitgenommen zu werden, das mußte doch ein herrliches Leben sein. Und doch fühlte Robi sich nicht glücklich, und alle im Hause vermißten sein frisches, fröhliches Lachen und seine netten kleinen Witze, die er sonst gemacht hatte. Die Gräfin sprach mit Herrn Hausmann darüber, und dieser beobachtete den Zögling scharf, er glaubte, auch die Ursache herauszufinden. Robi war ein gesunder, frischer Junge voll Leben und Bewegungslust. Sieghardt war wohl auch gesund, aber durch sein Fußleiden gehemmt und darüber oft traurig und mißmutig. Selbstverständlich mußte Robi als Gefährte des jungen Grafen auf alles, was Sport und Bewegung war, verzichten. Das war qualvoll, und schier unerträglich ward ihm mit der Zeit die gänzliche Unfreiheit, in der er lebte. Außer zum Mämmeli durfte er ja nie einen Schritt allein ausgehen, mußte immer seine Gänge denen Sieghardts anpassen und war stets, sogar auf dem Wege zur Schule, von Herrn Hausmann begleitet. Wohl wurden auch hier in der Stadt jeden Tag Wagen- und Autofahrten gemacht. O wie er diese geradezu haßte, und wurde doch so beneidet von den Knaben in seiner Klasse! Turnstunden, jedoch private in ihrem Zimmer, hatten die beiden Knaben ebenfalls. Aber wie maßlos langweilig war auch dies alles, für Sieghardts Können angepaßt! Es wurden ja nur Bewegungen mit dem Stabe, Schrittübungen und Kniebeugen gemacht, kein frischer Dauerlauf, kein lustiges Schwingen an Reck und Barren, kein Klettern an Strick und Stange. Und vor allem kein Reiten mehr! Wie herrlich war das vor zwei Jahren noch gewesen, wo Graf Rieneck mit Sieghardt und Robi schon ganz nette weite Ritte gemacht hatte, wo er ihnen Reitstunde gegeben, und wo Robi auch gar oft auf des Braunen Rücken gesessen, wenn Jörg mit dem Wagen in den Wald fuhr! Wie hatten da die beiden Jungen schon ganz feste Pläne gemacht fürs künftige Offiziersleben, denn auch der Herr Forstmeister hatte nichts dagegen, daß sein Sohn einmal zum Militär wollte! Er selbst war Reserveoffizier gewesen und hatte sehr gern gedient. Und nun waren mit Sieghardts zerstörten Hoffnungen auch Robis Zukunftspläne ganz andere geworden. In ein paar Monaten sollten die beiden in den Konfirmandenunterricht kommen, und schon ein paarmal hatte Pate Rieneck Robi befragt, was er eigentlich werden wolle, es sei jetzt doch vielleicht gut, ein gewisses Ziel ins Auge zu fassen. Er sprach ihm vom Lehrer-, Pfarrer-, Juristen- oder auch vom Forstberuf, – die einstigen schönen Pläne schien er vollständig für ausgeschlossen zu halten. Der letztere, der Forstberuf, wäre ja noch der annehmbarste gewesen, aber Robis inneres Dichten und Trachten war aufs Militär gerichtet. Auf den Gängen zur Mutter, die unglückseligerweise an einem Kasernenhofe vorbeiführten, blieb er oft über eine halbe Stunde stehen, um beim Exerzieren, Reiten und Fahren zuzusehen. Aber es war ja unmöglich, das wußte er wohl, daß er den Pflegeeltern unter den gegebenen Umständen gerade mit diesem Wunsche kommen könnte. Doch das war's, ... das war's!

»Ich weiß nicht, Mama, warum Robi gar nicht mehr so nett mit mir in der letzten Zeit ist,« klagte auch Sieghardt. »Fürchterlich langweilig ist er oft, und wenn ich mit ihm etwas reden will, so setzt er sich in eine Ecke und sieht aus, als ob er trutzen würde, und ich habe ihm doch nichts getan!«

Den Grund hiervon, und was in den folgenden Wochen geschah, erfahren wir aus einem Briefe, den Robi an die Großmutter in der Schweiz schrieb.

St., den 20. Februar 19..

Liebes, liebes Großmutterle!

Gelt, ich darf an Dich schreiben? Gelt, Dir darf ich mein Herz ausschütten? Du bist nicht gleich so betrübt wie das Mämmeli, und Du hast auch mehr Zeit und Ruhe, mich anzuhören. Dir habe ich auch schon im Sommer gesagt, daß es mit Sieghardt manchmal gar nicht leicht ist. Und jetzt ist es noch viel schwerer geworden. Um ihm Freude zu machen, ladet man ihm nun eine ganze Menge Buben ein, teils aus dem Gymnasium, teils auch andere. Die sagen, es sei wunderschön bei uns. Aber für mich ist es immer wieder die alte Geschichte: Laterna magica, Schattentheater, elektrische Versuche, an die wir aber nicht selber heran dürfen, sondern die nur Herr Hausmann leitet. Und dann die regelmäßige Lotterie mit Gewinnen, mit denen man eigentlich nicht viel anzufangen weiß. –

»Ach, ist mein Büble, mein Büble verwöhnt und blasiert!« murmelte die Großmutter, als sie diese Stelle las. –

Nun aber ist was Neues gekommen. Sieghardt wurde bekannt gemacht mit ein paar Prinzen, recht langweiligen, faden Kerls, und wird nun beständig zu diesen eingeladen. Das täte nichts, denn solange er fort ist, kann ich dann auch ein wenig fortgehen. Aber Großmutter, was mich kränkt, das ist, daß, wenn diese jungen Prinzen zu uns ins Haus kommen, ich vollständig Nebensache bin und auf die Seite geschoben werde. Nicht daß sie unartig gegen mich wären, das ließe ich mir einfach nicht gefallen, aber man macht ein furchtbares Wesen mit ihnen. Und wenn gespielt wird, so soll ich mich beständig allen unterordnen und darf selber gar keine Rolle spielen. Sieghardt sagt, es sei dumm von mir, daß mich das ärgere; das sei immer so mit Prinzen, und er selber nehme sich auch hier mehr zusammen als sonst. Aber ich merke doch, daß ihm dieser Umgang furchtbar gut behagt, und daß ich ihm langweilig geworden bin.

Nun aber von der Hauptsache! Ach, Großmutterle, wärst Du doch da und könntest zu mir sagen: Büble, tu's oder tu's nicht! Also kürzlich stehe ich wieder am Kasernentor und schaue zu, und wie sie befehlen und Übungen machen, wie alles so forsch und stramm vor sich geht, wie alles sich bewegt und lebt und nur so heidi! klappt, da wird's mir wieder gräßlich schwer ums Herz, – Du weißt ja wohl, warum. Ich will eben fortgehen, da legt sich eine Hand auf meine Schulter, und der Pate steht da und sagt: ›Na, Röbeli, willst du hier über Nacht bleiben? Sieghardt wartet schon ein gutes Weilchen auf dich zum Schachspielen.‹ Da muß er mir irgend etwas angesehen haben, denn er legte noch einmal die Hand auf meine Schulter und sagte: ›Ja ja, Bub, das Soldatenleben ist und bleibt eben das schönste!‹ Da, Großmutter, – ich kann wahrhaftig nichts dafür und weiß noch nicht, wie es kam, daß ich so plötzlich habe heulen müssen, daß ich mich jetzt noch schäme, wie der Pate mich nur an der Hand nahm und schnell mit mir in eine einsame Allee ging. Und da mußte ich ihm nun mein ganzes Herz ausleeren, und da hat er nun mit mir – Du glaubst es gar nicht, wie lieb – gesprochen und gesagt, daß er ja nichts dagegen haben könne, wenn ich durchaus zum Militär wolle, und daß er mir auch hier wie bei jedem andern Beruf die Wege ebnen würde, besonders jetzt, wo er sehe, wie mein ganzes Herz an diesem Berufe hänge. Aber er überlasse mir's nun ganz allein, darüber nachzudenken, ob man Sieghardt solch einen großen Schmerz antun dürfe. Für ihn wäre natürlich sein Schicksal leichter zu tragen, wenn wir nach der Reifeprüfung auch noch gemeinsam miteinander studierten. Aber maßgebend für meinen Entschluß dürfe dies nicht sein, denn ich hätte die volle Kraft und Sieghardt leider Gottes nicht mehr.

Jetzt, Großmutter, denk' Dir, die Möglichkeit ist da, daß ich Offizier werden könnte! Jetzt, Großmutter, denk' Dir nur mal aus, was das wäre, und dann, Großmutter, rate mir, was zu tun! Muß ich auf Sieghardt Rücksicht nehmen? Er hat doch noch so viel im Leben, was ich nicht habe. Ich will ja gewiß das Rechte tun, aber gelt, das Richtige kann doch auch das andere, Schöne, Herrliche, sein? Der Pate sagte, es eile nicht, ich solle einmal selber darüber nachdenken. Dem Mämmeli habe ich nichts davon gesagt, weil die in ihrer Pension mit dem Haufen Mädels dort und mit Huberta, die es der Tante nie recht machen kann, schon genug Sorgen hat. Deshalb komme ich zu Dir und sage noch einmal, ich will's ja recht machen, – nur möchte ich eben so furchtbar gerne, daß Du sagst, was ich mir so glühend wünsche. –

Als die Frau Pfarrer im Schweizerlande diesen Brief erhalten und ein paarmal gelesen hatte, blieb sie lange, Strickzeug und Brief in ihrem Schoß, mit geschlossenen Augen sitzen. Ein Kätzlein schnurrte auf der Ofenbank, sonst war es ringsum still. Onkel Jakob, der auf seinem viereckigen Tisch Werke über Obstbaumzucht und Rosenkultur liegen hatte, war heute etwas länger zu Bett geblieben, es war ihm nicht ganz gut.

Die alte Frau seufzte ein paarmal tief, und dann faltete sie ihre Hände.

»Das Büble, das Büble! Was ist da zu machen und zu sagen, ohne daß irgendeinem das Herz dabei weh tut?« Was das Richtige in diesem Falle war, das hatte Großmutters klarer Geist ja sofort erkannt. Aber trotzdem zögerte sie noch bis zum Abend mit der Antwort, immer hoffend, es käme ihr vielleicht doch ein erleuchtender Gedanke zugunsten von ihrem Röbeli. Dann aber setzte sie sich hin und schrieb folgendes:

Heimatfluh, den 24. Februar 19..

Lieber Robi!

Dein Brief, lieber Bub, hat mich herzlich bewegt, und ich danke Dir vor allem, daß Du Deiner alten Großmutter solches Vertrauen schenkst. Am liebsten hätte ich Dir gleich geschrieben und geraten: Mach es so oder mach es so! Das ist aber in diesem Falle nicht möglich, denn ich sage wie Dein Pate: Das ist eine Frage, mit der Du allein fertig werden mußt, so wie Du später auch Dein Leben für Dich zu führen haben wirst. Ich halte dafür, trotzdem Du nun bald ein Konfirmand bist und damit ein selbstdenkender Mensch, daß die Entscheidung für Deinen künftigen Beruf jetzt immerhin noch zu früh ist und ich an Deiner Stelle sie noch hinausschieben würde. Ich bin überzeugt, daß Dein Herr Pate damit auch einverstanden sein wird. Für jetzt kann ich Dir bloß sagen: Faß immer mehr den Entschluß, recht fest und heldenhaft das tun zu wollen, was als Pflicht gerade vor Dir liegt!

Eigentlich, mein Röbeli, hast Du's furchtbar gut, daß schon in solch früher Jugend der liebe Gott zu Dir gesagt hat: Hier ist ein anderes Menschenkind, das entbehren muß, – dich will ich brauchen, ihm das Leben erträglicher zu machen. Daß Du manches Opfer dabei bringen mußt, ist nicht leicht, das verstehe ich ganz gut. Aber mach einmal Deine Augen auf und sieh Dir die Menschen an, da wirst Du finden, daß auch unter den Kindern die meisten schon ihr Päckchen zu tragen haben, und wahrhaftig noch viel schwerer als Du.

Über das mit den Prinzen mußte ich lachen. Ich als Schweizerin kenne ja keine. Aber so viel weiß ich doch, daß das eben einmal Höhergestellte sind als wir, und wenn Du auch recht hast, daß es auch bloß Menschen sind wie wir, so müssen wir ihnen eben doch die Ehre geben, die sie beanspruchen können. Darin ändert mein Röbeli das Leben nicht, und ich glaube, – besinn Dich nur ein bißchen! – daß Dein Hochmut in diesem Punkte vielleicht größer ist als der Deiner Prinzenjungen. Ich halte auch viel auf mein Bürgertum, aber deshalb ist es mir doch nie schwer geworden, unserer gnädigen Herrschaft z. B. die schuldige Achtung zu bezeigen. Und an dem darf's mein liebes Büble auch nie fehlen lassen, sonst wäre es unhöflich und nicht fein erzogen. Auf das letztere hielt Dein lieber Vater viel. Beweise nur immer, daß Du aus gutem Hause bist, dann wird man Dich nicht so leicht zurücksetzen. Und vor allem, laß Dir durch solch dumme äußere Sachen nicht Dein liebes, frohes, herzerquickendes Wesen nehmen! Mit diesem allein kannst Du Dich dankbar erweisen für das viele Schöne und Gute, das Du im Hause Rieneck genießen darfst. Es wird Dir alles leicht werden, wenn Du suchst, weniger an das zu denken, was Du entbehren mußt, als an das, was der arme Sieghardt nie in seinem Leben haben kann. Also, Büble, noch einmal: Warten – beten – (Du vergißt doch dies hoffentlich nie?) und wollen!

In treuester Liebe küßt Dich
Deine Großmutter.


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