Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel.

Der Braune vor dem Holzwagen und drei singende Kinder. – »Maiblumen, Maiblumen!« – Warum Huberta kein himmelblaues Kleid und keine Korallen tragen darf und Jörg vom Ende der Welt spricht. – Von Maikäfern, einem Reh, einem Eichhörnchen, und wie sich's entscheidet, daß Röteli mitdarf.

 

»Mämmeli, wir fahren mit Jörg in den Wald, und solange er dir Holz holt, schauen wir, ob's noch keine Maiblumen gibt,« rief Huberta, die, gefolgt von Annele, durch den Garten lief.

»Es ist dir doch recht, Mämmeli?« fügte sie etwas zaghaft hinzu, weil die Mutter so gar schrecklich ernst aussah und gar keine Antwort gab. Das war nun manchmal so und bedrückte Huberta schrecklich. Sie selber vermißte ja den Vater auch sehr. Wie schön war es immer gewesen, wenn sie ihn auf seinen Forstgängen begleiten durfte, wenn er ihr die Bäume und den Vogelsang erklärte, oder wenn ein Hase oder gar ein Reh ihnen über den Weg kam! Wie gerne hatte Huberta gehabt, wenn er sie »sein wildes Forstmädle« hieß, und wenn er nie schalt, sondern nur so recht von Herzen sich freute, wenn sie viel lieber draußen als in der Stube war. Wenn man an all das dachte, und daß das nimmer so sein sollte, da mußte Huberta oft bitterlich weinen. Aber lange konnte man das ja nicht tun, und nachher mußte man sich doch auch wieder an allerlei freuen, was noch da war, – es wäre doch schrecklich und einfach nicht möglich gewesen, immerfort traurig zu sein. Deshalb bedrückte es Huberta so sehr, wenn es ihr manchmal gar nicht gelingen wollte, auf Mutters Gesicht auch nur das kleinste Lächeln zu bringen.

»Gehst du nicht mit, Mämmeli? Das wäre nett,« fragte sie darum noch einmal. Aber die Mutter schüttelte den Kopf.

»Fahrt nur mit Jörg und seid recht vergnügt, es ist heute solch ein schöner Tag. Ich muß zu Hause bleiben; es ist möglich, daß die Frau Gräfin vorüberfährt, und da gibt's mit ihr noch allerlei zu besprechen.«

Jörg hatte den Braunen an den kleinen Holzwagen gespannt, die Kinder kauerten sich auf die Bretter, und die zwei Dachshunde, Männe und Madame, sprangen, wie unsinnig vor Freude bellend, nebenher. Jörg saß vorn auf der Leiter und ließ den Kopf hängen, nur von Zeit zu Zeit erhob er die Peitsche, strich mit ihr fast wie liebkosend über den Rücken des Braunen und sagte: »Hü!« – und hinein ging's auf dem weichen Boden in den grün schimmernden Frühlingswald.

Die Kinder sprachen eifrig davon, was sie wohl alles von ihren Sachen mit aufs Schloß nehmen würden, und was sie dalassen müßten.

Annele sagte: »Ich alle meine Puppen und mein Pletsch-Buch und mein Sportwägelein und meine Laubfrösche und meine Bären.«

»Aber deine alte Lila, die bleibt daheim, die darfst du nicht mehr mitnehmen mit ihrem halben Kopf und ihren Armen ohne Hände,« fiel Huberta ein, und es gab einen kleinen Streit und beinahe Tränen, weil das Annele die alte Familiendocke, die noch von Großmutters Zeiten her aus der Schweiz stammte, vor allen andern liebte.

»Ich nehme keine Puppe mehr mit; nur meine Papierpuppen und mein Zeichenbuch und alle meine andern Bücher und mein himmelblau und weißes Kleid und die rote Korallenkette und ...«

»Aber Bertele, jetzt trägst du doch kein himmelblaues Kleid mit roten Korallen!« fügte Robi vorwurfsvoll, und Huberta senkte ein bißchen beschämt den Kopf, sie hatte wirklich im Augenblick nicht an die Trauer gedacht. Ach dieser Schatten! Immer wieder, wenn man gar nicht daran dachte, war er da. Man kam nicht darüber hinüber. Annele meinte wieder: »Aber den Männe und die Madame nehmen wir doch auch mit und den Jörg und den Braunen und das Evekätterle ...«

Da hob Jörg den Kopf und sah zu den Kindern zurück: »O ihr lieben, dummen Kinderle, was macht ihr alles für Pläne, und einstweilen geht die Welt alleweil rund um, und was beieinander gewesen, muß voneinander, und so wie's gewesen, wird es sein Lebtag nicht wieder!«

Jörg machte eine Bewegung mit der Hand, als würfe er alles bisher Bestehende in weite Fernen, und dann drehte er sich wieder um und schnalzte: Hü! – Huberta aber rief: »Ach Jörg, sprich doch nicht so gräßlich traurige Sachen! Wenn du nicht mehr mit uns bist, so mußt du uns eben recht oft besuchen, und wenn ich das Mämmeli recht bitte, so behält sie gewiß das Evekätterle. Die will mit uns gehen, hat sie gestern gesagt, und wenn's auch bis ans Ende der Welt ginge.«

»Ja, wenn's wahr ist,« meinte Jörg darauf. »Das Ende der Welt ist weit, und in der Stadt sein ist gräßlich. Das Evekätterle bleibt nur, bis eingerichtet ist, und dann geht's zu seiner Base aufs Land und bleibt dort. Die tät's auch nicht zwischen den Häusern aushalten.«

»Ach Jörg, sag' doch nicht so! Wir müssen ja doch alle hin, und du kannst's einem schon im voraus ganz entleiden, wenn du so ein Gesicht machst.«

Nun nahm Jörg sich schnell zusammen. »Hast recht, Berteli, hast recht: ich schwätz manchmal dummes Zeug. Ich besuch' euch trotzdem ganz gewiß, und in der Stadt ist auch manches, was mir gefällt, die guten Wege und die Kasernen und die Kirchen, und daß man kein Holz tragen muß und keine Lampen putzen, sondern nur an einem Hahnen drehen, dann brennt's und wärmt's.«

»Luftheizung und Elektrizität haben Rienecks in jedem Zimmer ihres Stadthauses,« sagte Robi, »und da, wo ich mit Siegi schlafen werde, gibt's jederzeit warmes Wasser am Waschtisch, und wenn man sich die Hände gewaschen hat, dann fließt das schmutzige Wasser gleich wieder ab.«

»Büble, Büble, werd' mir nur nicht verwöhnt, wenn du dort einmal alles so mühelos kriegst!« meinte Jörg wieder und schüttelte mit dem Kopf, und die Mädchen ergingen sich darüber, daß es auf Schloß Rieneck auch wunderschön sei, wenn man auch keine »Hähnele« drehen könne, dafür seien prachtvolle, goldene Lampen dort und Kronleuchter, und Annele sagte: »Und jeden Tag gibt es süße Speise,« und dabei machte sie einen Hops, daß die Bretter des Wagens ordentlich pumperten.

Nun fuhren sie durch eine Lichtung. Zwischen den hellgrünen Buchenblättern schimmerte der blaue Himmel, rechts und links war der Boden mit Anemonen bedeckt, die Vögel zwitscherten und sangen, und Huberta begann mit ihrer frischen Stimme auch zu singen:

Im Wald, im Wald ist's, traun, ein herrlich Leben,
Gesegnet sei der Wald!
Solang' ich bin, soll dich mein Lied erheben,
Du grüner Aufenthalt!

Die andern fielen ein. Der Braune spitzte die Ohren, und die Maienluft schien auch ihm in seine alten Glieder zu fahren, denn er begann ordentlich ein bißchen zu tänzeln.

»Was kommt dich an, mein Alterle?« sagte Jörg und streichelte ihm wieder mit der Peitsche über den Rücken. »Was fällt dir ein? Hast wahrhaftig keinen Grund zum Lustigsein – du und wir alle nicht!«

Auch den Kindern mochte gekommen sein, daß Singen noch nicht so recht am Platze sei, und sie hörten bald wieder auf. Man war nun auch da angekommen, wo Jörg sein Holz zu holen hatte, und die drei sprangen mit kühnen Sätzen von dem Wagen herunter mitten in das weiche Moos, wobei Annele der Länge nach hinfiel. Aber das machte nichts.

»Aua!« sagte es bloß und streckte sich dann wohlig auf dem Samtteppich aus; das war halt gar zu schön! Robi warf die Jacke ab und half hemdärmelig wacker Jörg das Dürrholz zuerst übers Knie abbrechen und dann auf den Wagen laden. Das war eine zu hübsche Arbeit! Es krachte so lustig und roch so gut. Die Mädchen liefen kreuz und quer unter den Bäumen herum und fanden auch richtig einen Platz, wo es da und dort aufblühende Maiblumen gab, die sie eifrig sammelten. Ein Juhu erscholl von Zeit zu Zeit herüber und hinüber, damit man sich nicht verlor. Aber auch so hätten die Mädchen sich nicht leicht verirrt; waren sie ja doch seit vielen Jahren im ganzen Revier heimisch, und Huberta rühmte sich, fast jeden Baum zu kennen. Die Sonne fiel schon etwas schräger, als Jörg mit dem voll geladenen Wagen heimwärts fuhr, die Kinder liefen diesmal nebenher und machten noch manchen Sprung abseits. Dort waren Schnecken ausgekrochen, – noch vor kurzem hatten sie die Türen ihrer Häuslein fest zugeklebt – dort blühten Ehrenpreis und Waldmeister. Jedes Möslein hatte ein ganz kleines, grünes Käppchen aufgesetzt, und die Erdbeerblüten funkelten wie lauter winzige Sterne am sonnigen Wegrain. Das mußte alles betrachtet werden, dazwischen war aber das Hauptvergnügen, die Buchen und Haselnußbüsche nach Maikäfern abzusuchen und mit vereinten Kräften die etwas höheren Stämme zu schütteln und von den gefräßigen braunen Gästen zu befreien.

Auf dem Wagen vorne war eine Kiste, und was prasselnd herabgefallen war und wuselnd am Boden lag, wurde schleunigst in Mützen und Schürzen gefangen und dort hineingeschüttet. Das gab für die Hühner ein prächtiges Abendbrot. Vor dem Forsthause unter den alten Linden war der Kaffeetisch gerichtet, und die Großmutter, die Mutter und die Frau Gräfin vom Schloß saßen eifrig redend beisammen. Kaffee zu trinken und von der schönen, goldgelben Butter und dem Honig zu essen, schien heute Nebensache zu sein, denn die Tassen standen etwas abseits, und die drei Frauen waren nahe zusammengerückt.

»Also Sie glauben wirklich, daß es das richtige so ist?« fragte die Frau Forstmeister, und in ihrem Blick lag ganz, ganz hinten noch ein kleines, stilles Hoffen, daß die Antwort von der Frau, deren Ansicht sie seit vielen Jahren so hoch schätzte, vielleicht doch noch so lauten könnte, daß die Ausführung des Planes, die ihr unsagbar schwer fiel, sich umgehen ließe.

Aber Gräfin Rieneck faßte die Hand der neben ihr Sitzenden und sagte ernst: »Ich fürchte, Liebe, daß es das richtige für Sie und die Mädchen ist. Ich fürchte es, weil ich wohl weiß, welch großer Unterschied künftig in Ihrem Leben zwischen hier und dort sein wird. Und auch für die Mädel wird mir bange, wie sie diese gänzliche Veränderung ertragen werden. Aber die Gelegenheit für die Kinder, lernen zu können, und für Sie, liebe Frau Hilde, einen Beruf zu haben, der Sie nicht von den Kindern trennt, ist so günstig, daß man wohl, glaube ich, Gottes Weg darin erkennen muß. Wir werden alle in der nächsten Zeit tüchtig zu kämpfen haben; denn wenn ich mir denke, daß künftig in diesem Hause und an diesem Plätzlein Fremde wohnen und sitzen werden, so ...«

Die Gräfin wendete sich ab, denn sie wollte nicht weich werden, und in demselben Augenblicke kamen auch mit lautem »Grüßgott, Grüßgott!« und »Wir haben viel Maiblumen gefunden,« und »Eine ganze Kiste voll Maikäfer gibt's,« die Kinder herangesprungen.

Nun gab's doch noch einen fröhlichen Kaffee, und ein ganzer Berg voll aufgeschnittenen Weißbrotes verschwand samt Honig und Butter im Handumdrehen. Dann wurden die Blumenschätze herbeigebracht, und für die Frau Gräfin wurde rasch ein Kränzlein von Schafgarbenblättchen, Veilchen und Ehrenpreis gewunden und ein fester Strauß von Maiblumen gemacht. Dabei besprachen die Großen, was in den nächsten Tagen alles zu geschehen habe, und die Gräfin bestimmte, daß die Kinder Anfang kommender Woche nach Rieneck kommen sollten.

»Also Robis sämtliche Sachen bringt Jörg wohl am besten auf dem Wagen,« sagte die Gräfin. »Selbstverständlich darf er auch seine Tiere mitbringen, auf die Siegi sich jetzt schon furchtbar freut, das Reh, die Hasen und wohl auch das Eichhörnchen. Männe und Madame übernimmt ja mitsamt Jörg der neue Besitzer.«

Robi nickte und meinte, sie beide wollten oben auf Rieneck schon gut für alle sorgen. Aber nun brach Huberta plötzlich in ein lautes Weinen aus. Bis jetzt war ihr ja noch gar nicht klar geworden, von was allem sie sich in Zukunft zu trennen hätte, und sie rief: »Ja, aber das Schluckerle gehört doch mir, – das hat Vater damals doch mir geschenkt, als es ein ganz kleines Rehchen war! Und ich hab's doch mit meinem Puppenfläschchen aufgezogen und in meinem Puppenwagen liegen gehabt und nicht Robi!«

Es war eine recht schwere Aufgabe für die Frauen, das weinende Mädchen nur einigermaßen zu beruhigen. »Bist ein Dummerle,« sagte die Großmutter, »zu glauben, daß man so ein armes Tier, wie ein Reh, in eine Stadtstube mitnehmen kann. Denk' nur auch daran, wie das nach seinen Bäumen und nach seinem Wald Heimweh bekäme, und die Füßlein würden ihm ja einrosten, wenn man's nicht mehr herausließe.« Das mußte Huberta einsehen, denn auch Annele sagte: »Schon im Stall mag's jetzt nimmer bleiben, immer will's fort; und Vaterle hat ja gesagt, es wird, wenn die Bäume ausschlagen, nicht mehr dableiben wollen, sondern sich seine Eltern und Geschwister suchen.«

»Aber dann mein Eichhörnchen, das Röteli, das will und das muß ich mitnehmen, das laß ich einfach nicht hier. Das kennt auch niemanden von euch so genau wie mich. Mir sitzt es am liebsten auf der Schulter. Es würde gräßlich traurig werden, wenn es zu mir wollte, und ich wäre einfach nimmer da.«

Im selben Augenblick lief vom Hause her etwas Rotes über den Weg, krallte sich an Hubertas Kleidern an, und gleich darauf saß das niedlichste Eichkätzchen mit schwarz blinkenden Äuglein auf ihrer Schulter und knabberte an ihrem Ohr, was so viel hieß, als: »Hast du keine Nüßlein für mich? kein Stückchen Zucker?«

»Da seht ihr, daß es mich braucht, und daß mein Röteli und ich zusammengehören. Gelt, du, du, du?«

Und indem sie ihren dunkeln Krauskopf an das Weiche Fellchen des Tierchens legte, gab sie ihm zuerst einen Buchenkern und dann, nach Erlaubnis der Mutter, ein kleines Stück Zucker, das es zierlich verzehrte.

Das war ein hübsches, fast rührendes Bild, und die Mutter sah die beiden andern Frauen an und sagte: »Was da tun? Ich weiß es nicht.«

Da meinte die Großmutter frischweg: »Na, so soll sie halt das Röteli in die Stadt mitnehmen; einen Garten hat ja Fräulein Schindler, und ihr sorgt eben dann dafür, daß es sein verschließbares Ställchen bekommt. Dann kann wohl niemand was dagegen haben.«

Die Gräfin, die die Stadtverhältnisse besser kannte als die beiden Frauen, hegte hierüber ihre leisen Bedenken; aber wer mochte in diesem Augenblick dem Kinde, das seinen Liebling nun ganz fest und glücklich an sich drückte, diese Aussicht nehmen.


 << zurück weiter >>