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Siebentes Kapitel.

Worin das Annele recht behält. – »Du bist meine Freundin und sollst es bleiben.« – Warum ein Predigtbuch nicht an seinem Platze steht und Huberta sagt: »Ich weiß von nichts.« – Im Banne. – Männe und Madame machen einen Besuch, und Jörg findet, daß man in der Stadt nicht schnaufen kann. – Wie das Röteli mitten in die Kreuzzüge hineinkommt, und was das Rösle für einen guten Gedanken hat.

 

Die Ferien waren vorbei, und ein paar Tage zuvor kam Fräulein Schindler mit Mademoiselle Camille zurück und war nicht wenig erschrocken, als sie von dem Unfall ihrer Schwester hörte. Gottlob war die Hand nun beinahe geheilt; aber die Tante konnte sich doch nicht enthalten, zu sagen: »Wie unklug von dir, deine Tochter nicht zurückbehalten zu haben! Der Jugend schadet es gar nicht, wenn sie ein bißchen Opfer bringen muß. Und nun darf ich, nachdem ich mich kaum erholt habe, die Rechnereien und die Briefe selber schreiben.«

So schlimm war es nun nicht. Frau Hilde hatte die Bücher mit der linken Hand soviel wie möglich weitergeführt, aber der Vorwurf war ihr doch peinlich.

Und sie kamen alle zurück und erzählten vom Meer, vom Gebirge, von allerlei ländlichen Freuden, auch die Externen berichteten, was sie alles Schönes erlebt hatten, und eine jede überbot sich und wollte beweisen, daß gerade da, wo sie war, es am schönsten gewesen sei.

Nun war auch Edith von Wildau in die Pension eingetreten, und Huberta freute sich, jetzt jemand zu haben, der ganz an ihr hing, und dem sie alles zeigen konnte, und der die andern alle noch nicht kannte. Edith fühlte sich anfangs recht unglücklich und fremd unter all den Mädchen, die sie angafften, und die entweder gar nichts mit ihr sprachen oder sich ihr zudringlich näherten. Da Edith von Wildau vornehm und nach neuester Mode gekleidet war, so näherte sich ihr Marie Luise von Gundlach, die auf solches sehr viel hielt, sofort. Aber Edith gefiel die etwas freie, ungenierte Art von Marie Luise nicht, und sie schlang den Arm um Huberta und sagte: »Du bist meine Freundin und sollst es bleiben.«

Huberta war selig darüber und konnte gar nicht verstehen und war fast beleidigt, als das Mämmeli einmal sagte: »Habe sie nur nicht gar zu lieb, deine Edith, daß du keine Enttäuschungen erlebst! Ich meine immer, du solltest dich mehr an Klärchen Schulze halten, die dir in der Stille rührend ergeben ist, und die ein so gutherziges, treues Wesen hat.«

Es war richtig, Klärchen erwies Huberta alles Liebe, was sie nur konnte. Und diese hatte sie im Grunde ganz gern; aber Edith wollte durchaus nichts von ihr wissen und sagte: »Wie kannst du an dem bäurischen Ding, das nicht einmal ordentlich redet, Gefallen finden!«

Das war richtig, Klärchen sprach noch ganz die Mundart des Dorfes, und Huberta sah nun erst ein, wie recht die alte Frau Gräfin gehabt hatte, wenn sie immer wollte, daß die Forstkinder besser sprechen sollten. Es klang doch wirklich ganz gewöhnlich, und Huberta war in der Stille froh, daß Annele und sie sich das derbe Schwäbisch schon ziemlich abgewöhnt hatten.

Ging's nun mit dem Englischreden und auch bald mit dem Französischen etwas besser, weil Huberta einsehen lernte, daß sie ohne das einfach nicht mittun konnte, so widerstrebte ihr das planmäßige Lernen beim Anfang des neuen Schuljahres von neuem. Geradeso erging es Edith, und es war kein Glück, daß die beiden Mädchen während der Stunden nebeneinander saßen und infolgedessen noch weniger aufpaßten. War Huberta am Anfang höchst entrüstet gewesen, wenn sie sah, wie die Mädchen heimlich zusammen schwatzten und Unfug trieben, so kam sie jetzt – sie wußte selber nicht wie – auch dazu, und Amalie Zeller und ein paar andere tuschelten zusammen und sagten: »Zuerst hat sie ein Tugendbold sein wollen, und jetzt ist sie auch nicht anders als wir.«

Auf der linken Seite von Huberta saß Klärchen Schulze, die nicht hochbegabt war, aber mit großer Gewissenhaftigkeit und viel Fleiß lernte und ihre Aufgaben machte. Heute gab es besonders schwierige Rechnungen; Huberta fragte Edith und diese Huberta leise, ob sie es denn verstünde, und keine wußte sich zurechtzufinden. Es waren nur noch ein paar Minuten, bis die Hefte abgeliefert werden sollten, und Edith stieß Huberta an und flüsterte: »Klärchen ist fertig – schau schnell zu ihr hinüber!«

Klärchen hatte es wirklich herausgebracht und holte sich eben eine neue Feder aus ihrem Federkasten. Da bückte sich Huberta rasch zu dem fremden Heft, erfaßte die betreffende Zahl und wollte sie eben Edith zuflüstern, als ihr einfiel: Nein, das darf man nicht, das wäre betrogen! Und ehrlich war Huberta. Sie widerstand Ediths Drängen, sie solle ihr doch rasch sagen, was sie gesehen, und über all dem mußten die beiden ihre Hefte mit ungelöster Aufgabe abgeben, und das Zeugnis fiel danach aus. Huberta war trotzdem eigentlich froh, daß sie widerstanden; aber recht schwer war es für sie, daß Edith deswegen einen ganzen Tag mit ihr trutzte und sagte: »Ich hätte doch geglaubt, daß du für die Freundschaft auch ein Opfer bringen könntest. Das ist einfach übertrieben gewissenhaft, – wir haben unzähligemal voneinander abgeschrieben, das tun alle Kinder. Erzieherinnen und Lehrer zu hintergehen, ist kein Unrecht, das sagen auch meine Brüder.«

»Meine Brrüder und mein Innerres sagen anders,« fiel da Zoe Robesco ein, die zufällig Zeugin des Gespräches gewesen, was den beiden Freundinnen recht peinlich war.

Kurz darauf wurde ein ziemlich schweres Aufsatzthema gegeben. Es lautete: Über die Treue im Kleinen. Fräulein Schindler gab selbst die Aufsatzstunden, und einmal im Jahr setzte sie einen Preis aus, gewöhnlich ein hübsches Buch, für die beste und treffendste Arbeit. Mit großem Eifer machten sich die Mädchen über diese Aufgabe her, und auch Edith und Huberta saßen des öfteren beisammen, die Daumen in die Ohren gedrückt und sich besinnend, was sie wohl sagen könnten. Huberta war durchaus kein Meister im Aufsatzmachen, aber noch weniger Edith, und doch hätten beide für ihr Leben gern die schöne, rot eingebundene Gedichtsammlung bekommen, die für diesmal der Preis war. Huberta wollte durchaus nichts einfallen; – man konnte doch nicht geradezu die Tageseinteilung der Anstalt nehmen. Sie kam in ihrer Herzensnot zu ihrer Mutter.

»Mämmeli, ich bitte dich, sag mir doch irgend etwas, was ich schreiben soll. Mir fällt halt gar nichts ein.«

Das Mämmeli aber lachte und sagte: »Das wäre schön, wenn ich dir sagen würde, auf was du dich selber besinnen sollst! Denke doch ein bißchen darüber nach! Und recht schade ist's, daß du wahrscheinlich vorigen Sonntag nicht aufgepaßt hast, als wir nicht in die Kirche gehen konnten und ich euch droben die schöne Predigt über »die Treue im Kleinen« vorgelesen habe. Die hätte dir manches zu denken gegeben.«

Die Predigt, die Mutter gelesen, war aus dem schwarzen, dicken Buch, das vom Großvater stammte. Huberta hatte wirklich nicht aufgepaßt, denn sie hatte an Edith denken müssen, die ihr gerade an dem Morgen gesagt hatte, sie wäre auch rasend eifersüchtig auf Rosemarie, und sie habe alles Recht dazu, sie für eine Aushorcherin zu halten. Ja, wenn Huberta gewußt hätte, daß in der Predigt Brauchbares zu finden gewesen wäre, dann hätte sie wohl nicht an anderes gedacht. Das sagte sie auch zu Edith, als sie am Nachmittag mit ihr zusammensaß und die wichtige Sache verhandelte.

»Wo ist denn das Buch?« fragte Edith ziemlich obenhin, sah aber Huberta doch recht gespannt an, als diese erwiderte: »In Mutters Bücherschrank, rechts oben. Aber selbstverständlich benützen darf man es nicht, so bequem und herrlich es wäre.«

Edith antwortete hierauf nicht, und Huberta machte nun eben im Schweiß ihres Angesichts den Entwurf. Als sie so recht gründlich über die Aufgabe nachdachte, da fiel ihr das Rösle ein, das wie niemand die Treue im Kleinen übte. Mit fliegender Feder schrieb und beschrieb sie nun, was sie von dem jungen verkrüppelten Mädchen und ihrem Leben wußte. Freilich gab's wohl mehr eine kleine Geschichte als eine Abhandlung, aber so war es leichter, und ehe sie sich's versah, hatte sie es schon auf die achte Seite gebracht.

»Was kritzelst und schreibst du denn da drauf los?« fragte Edith mißmutig, die immer noch an ihrer Feder kaute und nur einige Zeilen hatte. Nun läutete die Glocke zur Freiviertelstunde, und die Mädchen zerstreuten sich, um die kurze Zeit der Freiheit wie immer in vollen Zügen zu genießen.

Das Mämmeli saß unten im Arbeitszimmer und hatte mit der Schwester allerlei zu beraten, während Huberta mit ein paar andern in den Garten hinausging. Sie hatten dem Annele versprochen, ihr in ihr Sandgärtchen ein kleines Gartenhaus zu machen, und Klärchen Schulze schnitzte sehr geschickt feine Hölzchen, die pfahlbautenartig in den Sand gesteckt wurden, während Marieluise ein Dächlein aus Strohhalmen flocht und Zoe, die ernste, eine kleine, rot- und schwarzfarbene Fahne verfertigte.

Huberta saß mit einem Geschichtenbuch neben den andern in der Laube. Sie vermißte Edith, mit der sie gemeinsam eine sehr unterhaltende Geschichte zu lesen angefangen hatte. Eine Zeitlang wartete sie vergeblich, daß sie kommen würde, dann aber wurde es ihr langweilig, und sie lief ins Haus, um nach ihr zu sehen. Aber weder in den Klassenzimmern, noch in dem Erholungssaal war sie zu finden, hingegen sah Hubert, daß die Glastüre zum oberen Stock offen stand. Das sollte nicht sein, und so lief sie rasch hinauf und sah in ihrem Zimmer nach, wer wohl da heraufgekommen sei. Da erblickte sie vor Mutters Bücherschrank Edith, wie sie scheinbar sehr vertieft in einem Buche las, es dann aber, als sie Huberta sah, schnell und erschrocken zusammenklappte und in die Reihe stellte.

»Ja, was tust du denn hier oben, Edith?«

Als aber diese verwirrt und roten Kopfes sagte: »Ich habe mir nur ein bißchen eure Bücher angesehen,« da schoß es wie ein Blitz durch Hubertas Hirn, und sie sah Edith erschreckt an.

»Du wirst doch nicht ...? Edith, nein ...?«

Diese hob nun recht forsch und patzig den Kopf und sagte: »Ich weiß gar nicht, was du meinst, Huberta. Ich denke, wir sind doch befreundet genug, daß ich das Recht hätte, auch einmal ohne dich ein bißchen in eure Wohnung zu kommen.« Und damit ging sie Huberta voraus und, noch halb beleidigt, die Treppe hinab in den Garten, wo sie nun gänzlich unbefangen das Geschichtenbuch in die Hand nahm und sagte: »Jetzt wollen wir aber lesen. Wo sind wir denn eigentlich stehengeblieben?«

Die Geschichte war sehr anziehend; Edith las gut, und nachher legte sie den Arm um Hubertas Schulter, und in den schmalen Gartenwegen auf und ab gehend, war sie so liebenswürdig und zärtlich, daß Huberta sich innerlich recht schämte, die Freundin auch nur einen Augenblick lang in einem häßlichen Verdacht gehabt zu haben.

Die Aufsätze waren abgeliefert worden. Fräulein Schindler hatte sie geprüft, und für den weitaus besten von allen hatte sie den von Edith gefunden. Mit lobenden und anerkennenden Worten vor der ganzen Klasse hatte diese dann das schöne Gedichtbuch erhalten, und nach Tisch war der Aufsatz zur Aneiferung für alle von Fräulein Schindler vorgelesen worden. Das waren denn auch feine Gedanken, die Edith hier in überraschend guter Weise ausführte, recht entgegen ihren früheren Aufsätzen, die meist kurz und inhaltlos waren. Fräulein Schindler freute sich im stillen recht über die Fortschritte, die das Mädchen schon gemacht hatte. Die Frau Forstmeister aber hatte mit steigendem Erstaunen und innerer Erregung zugehört. Was war denn nur das? Wo hatte sie denn nur gerade diese Ausführung, wenn auch vielleicht in einer etwas andern Fassung, schon gehört? Sie sann und sann, und plötzlich kam ihr die Predigt vor vierzehn Tagen wieder in den Sinn, wo ja eigentlich Wort für Wort dagestanden, was der Aufsatz Ediths enthielt. Das war denn doch stark! Und so mild das Mämmeli auch war, so etwas mußte doch verfolgt werden. Recht bedenklich gemacht, stimmte sie nicht in das allgemeine Lob ein, sondern ging bald auf ihr Zimmer, und als sie an Edith vorbeikam, warf sie ihr unwillkürlich einen recht ernsten Blick zu. Huberta folgte gleich darauf. Da war plötzlich Edith an ihrer Seite und flüsterte ihr ins Ohr: »Wenn du davon etwas sagst, daß du mich da oben bei dem Buch getroffen hast, so ist's mit unserer Freundschaft vorbei. Hörst du?«

Und sie verschwand, während Huberta noch ganz verblüfft hinaufeilte, von wo die Mutter sie rief. Sie traf diese in bewegter Stimmung.

»Sag, Bertele, hat Edith wirklich diesen Aufsatz ohne alle Hilfe gemacht?« fragte sie sofort.

Huberta, ganz unter dem Eindruck der letzten Worte Ediths, sagte möglichst unbefangen: »Das hat sie gewiß; wen sollte sie auch gefragt haben?« Dabei machte sie sich mit ihrem Röteli zu schaffen und kehrte dabei der Mutter den Rücken.

»Dieser Aufsatz hatte die größte Ähnlichkeit mit der Predigt, die wir neulich gelesen, – aber du hast ja leider damals nicht recht aufgepaßt,« sagte die Mutter. Damit war sie ins Nebenzimmer gegangen, hatte den Bücherschrank aufgemacht und wollte das Predigtbuch herausnehmen. Aber fort war es. Sie suchte oben und unten, suchte hinten lind vorn, aber das Buch war nicht zu finden.

»Was ist das, Huberta? Das Buch, das immer an seinem bestimmten Platze stand, ist nicht mehr da, und Ediths Aufsatz ist so sicher wie etwas abgeschrieben. Weißt du etwas davon?«

Huberta überlief es bald heiß und bald kalt, und ihrer offenen Natur nach hätte sie am liebsten erzählt, was sie gesehen. Sie selbst war ja fest überzeugt davon und innerlich außer sich darüber, daß Edith so etwas tun konnte. Aber sie durfte sie doch nicht verraten, sie, die sie so sehr lieb hatte, und die ihr soeben noch so schrecklich gedroht hatte, daß die Freundschaft damit ein Ende haben würde. Nein, ach nein, nur das nicht! Sie hatte Edith zu lieb gewonnen. Und ehe sie sich's versah, hatte sie zu der Mutter gesagt: »Ich weiß von nichts, und ich habe nichts gesehen.«

Das mußte Frau Hilde glauben, denn etwas Unwahres hatte ihr Bertele noch nie gesagt. Aber doch trieb sie die Sache so herum, daß sie nach einiger Zeit zu ihrer Schwester hinabging und dieser ihr Bedenken mitteilte.

Bei Fräulein Schindler nun gab's in solchen Dingen kein langes Besinnen. Während die Mädchen in der Klasse saßen und ihren Unterricht hatten, suchte sie mit dem Mämmeli Ediths Schrank und Schublade durch, und richtig – unter einem Stoß Wäsche lag das vermißte Buch, dessen Inhalt die beiden dann in dem Zimmer der Vorsteherin mit dem Aufsatz verglichen.

»Fast Wort für Wort hat sie abgeschrieben, das häßliche Ding,« sagte Fräulein Schindler entrüstet und klappte das Werk ganz erregt zu. »Wo hat sie es aber her? Da muß doch vorher Huberta vernommen werden.«

Gleich nach der Stunde wurde diese zur Tante beschieden, und die Mutter war auch dabei. Sie wurde aufs nachdrücklichste befragt, und nun konnte nicht mehr aus gewichen werden. Huberta mußte gestehen, was sie gesehen und was Edith zu ihr gesagt hatte. Weinend und schluchzend jammerte sie: »Ach, nun wird Edith mich nicht mehr liebhaben! Ach, warum hat sie auch so etwas getan! O Mämmeli, ich hab's doch nicht sagen können, sie ist doch meine Freundin!«

Da erklärten die beiden Frauen Huberta, daß die Wahrheit so hoch stehe, daß man auch den liebsten Freunden zulieb sie nie verleugnen dürfe, und Tante Lina, die noch immer sehr aufgeregt war, sagte: »Dein Aufsatz, Huberta, war der zweitbeste, aber du hast das Buch trotz dem nicht verdient, und ich werde es für nächstes Jahr aufheben. Auch du wirst eine Zeitlang brauchen, bis du wieder mein Vertrauen errungen hast.«

Das war eine traurige Geschichte und eine traurige Zeit. Edith war der Preis wieder vor der ganzen Klasse genommen worden, und zur Strafe ihrer Unehrlichkeit wurden die Mädchen angewiesen, acht Tage nicht mit ihr zu reden. Auch mußte sie drei Sonntage allein mit Strafarbeiten beschäftigt werden. Das war für Huberta fast eine noch größere Strafe, denn sie konnte mit der Freundin die traurige Sache nicht einmal besprechen und ihr erklären, wie sich alles ereignet hatte. Ganz verzweifelt lief sie herum. Edith war anfangs wütend gewesen, es war für ihren Stolz doch sehr hart, vor allen Mädchen so gedemütigt zu werden. Aber am wütendsten und erbittertsten war sie doch auf Huberta, die sie eine Verräterin und falsche Person nannte. Sie glaubte um so mehr ein Recht dazu zu haben, als Huberta nun wirklich das Verbot des Nichtsprechens gewissenhaft nahm, während manche der andern Mädchen, die wohl auch schon ähnliches getan und nicht schwer genommen hatten, mit Edith tuschelten und heimlich verkehrten. Und dazu gehörte hauptsächlich Amalie Zeller, die schon lange vergeblich versucht hatte, sich an Edith heranzumachen, und die nun froh war, eine Gelegenheit dazu zu finden. Auch Marieluise von Gundlach schob ihr heimlich kleine Zettel zu, auf denen sie der in Bann Getanen versicherte, es sei gar nichts so Arges, was sie verbrochen, viel ärger sei's, wenn man seine beste Freundin verrate wie Huberta. Das war Wasser auf Ediths Mühle.

Als die acht Tage herum waren und das Bertele voll Liebe und Eifer Edith nun alles erklären wollte, wie es zugegangen sei, da war diese eisig kalt ihr gegenüber, und zu ihrem inneren Schmerz und Jammer hatte sie sich ganz Marieluise zugewandt und tat mit dieser nun recht offenkundig so zärtlich wie seither mit ihr.

Das Mämmeli hatte in diesen Tagen viel zu trösten, denn Huberta mit ihrem treuen Herzen konnte, trotzdem die Buchgeschichte auch bei ihr einen Schatten auf Edith geworfen hatte, doch einfach nicht verstehen, daß man so mit Liebe und Freundschaft wechseln konnte. Sie blieb nun am liebsten in den Freistunden oben, fühlte sich aber recht vereinsamt, denn auch die Mädchen aus der Klasse und ein Teil der Externen waren gar nicht mehr so nett und freundlich mit ihr wie früher – Huberta war ihnen, wie sie jetzt untereinander tuschelten, überhaupt von Anfang an als »Nichte der Vorsteherin« und als »Tugendspiegel« nicht so recht behaglich gewesen.

Die Mutter beobachtete mit stillem Mitleid all diese Wandlungen und litt mit ihrem Kinde, das recht still und ernst geworden war. Aber sie sagte sich, daß auch solche Demütigungszeichen im Leben für ein jedes kommen, und daß sie zu unserm Besten dienen müssen. Eine leise, innere Freude war es ihr, zu sehen, wie treu Klärchen Schulze zu ihrer Klassennachbarin hielt, und wie auch Rosemarie sichtlich bestrebt war, sich Huberta auf zarte Weise zu nähern, indem sie sich von ihrer angebeteten Frau Forstmeister etwas mehr ferne hielt.

Ein Lichtpunkt in diesen Zeiten war, daß Rienecks und Robi in die Stadt übersiedelten und der Junge da und dort einmal von der Schule aus oder auch an einem freien Nachmittag zu den Seinen kommen konnte. Das war herrlich, den frischen, lieben Kerl wieder zu haben – das Mämmeli strahlte, wenn es seinen Buben sah, und das Annele meinte: »Jetzt fehlt nur noch das Vaterle und der Jörg und Männe und Madame, dann wär's gerade wieder so wie daheim.«

Das Wort »daheim« behielten alle noch bei, wenn sie von dem Forsthause redeten.

Das Vaterle, das konnte freilich nicht wiederkommen. – Aber an einem Sonntagmorgen, nach der Kirche, da stand plötzlich der Jörg nach einem lauten Klopfen an der Türe vor ihnen. Zuerst konnte er weder begrüßen noch begrüßt werden, denn die zwei Dackel, die er mitgebracht hatte, waren einfach wie toll vor Wiedersehensfreude und wollten wie einst in der großen Forststube in den winzigen Stadträumen herumrasen, so daß das Mämmeli vor allem sagen mußte: »Jörg, ich bitt dich, nimm die Hunde an die Leine, sonst purzeln meine sieben Sachen sämtlich untereinander!«

Jörg tat es, aber das hinderte die Hunde nur wenig; sie stiegen und hüpften an den Kindern und an ihrer alten Herrin hinauf, sie sprangen auf deren Schoß, legten die Pfoten an ihre Schultern, leckten sie im Gesicht und waren so unsinnig, daß sie sich gar nicht abwehren ließen und Jörg vorerst sehr zu kurz kam. Man mußte die Hunde einfach austoben lassen, bis sie nimmer konnten und schließlich schnaufend, mit heraushängender Zunge, dalagen. Aber dann setzte man sich um den Tisch, Jörg bekam sein Glas Wein, und die Dackel jeder eine Wurst, die Robi, der auch da war, schnell beim Metzger über der Straße geholt hatte, und die sie im Nu, aufgeregt wie sie waren, verschlangen. Jörg aber meinte auf den Einwurf der Frau Forstmeister, warum er sich denn all die Monate her nie habe sehen lassen, es sei besser so gewesen. Wenn man Heimweh habe, solle man nicht so rasch wieder dahin gehen, wo man in der Sonne gewesen, da sei der Schatten nachher umso dunkler.

»Also Heimweh habt auch Ihr, lieber alter Jörg?« sagte die Frau Forstmeister, und Tränen füllten ihre Augen. Da nickte Jörg nur so vor sich hin und sagte: »Wie es war, ist es halt nimmer, und ein Einzechter ist halt keine Familie. Einer ist auch nicht wie der andere,« setzte er hinzu und nahm einen Schluck von dem Wein. Dann, indem er den Blick in der kleinen Stube umherschweifen ließ, sagte er: »Habt ihr denn auch genug Luft da? Und wo springt denn das Annele herum? Und kann denn auch das Bertele es aushalten ohne Tiere?«

Voll Teilnahme sah er von einem der Mädchen zum andern, und dann fiel sein Blick auf das Kistchen über dem Arbeitstisch.

»Na, gottlob, da ist doch wenigstens noch das Röteli! Aber darf es denn auch manchmal heraus? Und wo sind seine Tannenbäume, auf die es so gerne geschwind hinaufkletterte?«

Von den Antworten war Jörg entschieden nicht befriedigt, und kopfschüttelnd stand er nach einiger Zeit auf und sagte: »Jetzt muß ich wieder fort; es freut mich, daß ich euch alle gesehen habe.«

Dann pfiff er den Hunden. Robi sagte, er wolle ihn noch begleiten und Männe und Madame halten, solange Jörg eine Besorgung zu machen hatte. Nachdem die beiden Dackel noch gewaltig an ihren Leinen gerissen hatten, – sie wollten mit aller Macht dableiben – war der liebe Besuch wieder verschwunden. Das war ein Ereignis, von dem man den ganzen Tag zu sprechen hatte. Und Rosemarie, die auf der Treppe Jörg und den Hunden begegnet war, und die von daheim her gleichfalls Hunde schwärmerisch liebte, war auch noch ganz närrisch mit den lebhaften braunen Kerls gewesen. Aus ihrem vollen Herzen heraus erzählte ihr nachher Huberta endlose Geschichten von den zweien, und wie schon Männes und Madames Eltern auch im Forsthause geweilt hätten. Das gab die erste lebhafte Unterhaltung zwischen den beiden, die unwillkürlich immer noch beisammen saßen, als Jörg mit den Dackeln schon lange fortgegangen war, und die Mutter freute sich im stillen darüber.

Am andern Tag sollte sich wieder etwas, aber diesmal nicht so harmloser Art, ereignen. Huberta hatte nach dem Frühstück wie alle Tage dem Röteli sein Schüsselchen mit Wasser und Milch gefüllt, hatte ihm kleine Weckenstücke eingebrockt und dann das Türlein in dem Drahtgeflecht wieder geschlossen. Aber was weder Huberta noch die Mutter noch das Annele gemerkt hatten, des Rötelis scharfe Zähne hatten in der letzten Zeit, wo es wohl Langeweile verspürte, ein Stücklein des Drahtgitters nach und nach durchgebissen, und als alle unten waren, die Mutter in der Küche, die Kinder in ihrer Klasse, da guckte des Rötelis kleines, kluges Köpflein zu einem ziemlich großen Loch viel weiter heraus in die Stube, als es sonst der Fall war. Und dann schob sich der schmale, schlanke Körper mit der roten Rute langsam nach, und mit einem Sprung saß das Tierchen unten auf dem Arbeitstisch und war sichtlich selber erstaunt darüber, daß es sich auf einmal ganz wo anders befand. Dann aber schien ihm die Sache zu behagen. Es schnupperte an dem Primelstock, zerrte ein bißchen an der Frau Forstmeister ihrem Strickzeug, und dann dachte es wohl: Will doch auch einmal sehen, wie es dort drüben auf dem Tisch aussieht! Und wupp, war es dort, neben dem Frühstückskörbchen, in dem noch eine Bretzel lag. Die beschnupperte es auch, dann setzte es sich auf die Hinterfüße, brach geschickt ein Stück herunter, hielt es mit beiden Pfötchen und ließ es sich trefflich schmecken. Durch diese Mahlzeit wahrscheinlich mutig gemacht, sah es sich nach andern Gelegenheiten zum Verlustieren um und sprang auf den Boden. Dort hin und her zu laufen, war nett, aber mit der Zeit doch wohl einförmig. Da ersah es einen Spalt, wo die Sonne vom Flur aus hereinschien, und wie der Wind schob das Tier sein geschmeidiges Körperlein hindurch, bis es sich glücklich draußen befand.

Unten in Hubertas Klasse war Geschichtsunterricht. Fräulein Schindler erteilte ihn und nahm die Sache sehr wichtig. Man war bei den Kreuzzügen. Peter von Amiens und Walter von Habenichts waren schon an der Reihe gewesen, und Gottfried von Bouillon rüstete sich zu seiner Fahrt ins Gelobte Land. Zwischenhinein hieß die Lehrerin eines der Mädchen die Türe öffnen, weil es ein heißer Tag und recht schwül im Zimmer war. In gespanntester Aufmerksamkeit folgten die Kinder dem Zuge der Kreuzfahrer über die Alpen, und Fräulein Schindler malte ihnen aus, wie das wohl gewesen sein mochte, als solch große Menschenmengen, Männer, Weiber, Kinder und Tiere sich über die unwegsamen Pfade hinschoben. Da, in demselben Augenblick witschte etwas ganz langsam und leise zu der geöffneten Türe herein, und zwei schwarze Äuglein schauten überrascht und erschreckt von den vielen Leuten, die hier beisammen waren. Mitten in der Stube machte etwas ein Männchen und guckte um sich, und Fräulein Schindler, die am Pult saß und in ihr Buch blickte, wußte gar nicht, was da plötzlich für eine Unruhe und für ein Raunen und Kichern in der Klasse war.

»Ein Eichhörnchen ...! Das Röteli ...! O wie goldig, das Röteli!« wisperte und flüsterte es, und Huberta war in den Tod erschrocken, als sie ihr Tierchen hier sah. Schnell sprang sie auf und wollte es fassen, aber das Röteli wich aus, und erschreckt über die lebhafte Bewegung, machte es einen großen Sprung mitten auf den Lerntisch. Da kreischten alle Mädchen zusammen und sprangen auf, und Tante Lina war entsetzt, als sie sah, was für ein Gast hier hereingekommen war.

»Das ist doch zu arg, Huberta! Fang doch gleich das Tier und mach, daß es sofort wieder hinauskommt!« Aber das war leichter gesagt als getan. Das Eichhorn hatte offenbar auch denselben Wunsch, wieder da hinauszukommen, wo es hereingekommen war. Aber nun wollten sämtliche Mädchen dazu verhelfen, und darüber wurde das Tier vollständig wirr gemacht. Zuerst sprang's mit seinen Füßlein mitten in ein großes Tintenfaß und dann über die Bücher und aufgeschlagenen Hefte hinüber, überall sein Monogramm hinterlassend. Und als die Mädchen hierüber noch mehr schrieen und Taschentücher und Atlasse ergriffen und nach dem Röteli schlugen, da rannte es wie rasend an den Vorhängen hinauf, zerriß den Mull, sprang über Tante Linas Kopf hinüber auf den Schrank, wo es um ein Haar eine schöne Schillerbüste heruntergeworfen hätte. Und als Zoe Robeskoe, die die ruhigste geblieben, es an der Türe auf ihrem Schoß auffassen wollte, da biß es recht unartig und recht empfindlich in ihren Finger. Erst Klärchen Schulze gelang es, draußen im Gang, wo es wie unsinnig über die aufgehängten Kleidungsstücke der Kinder hin und her setzte, ihren Hut zu ergreifen und ihn so lange auf das Tierlein zu decken, bis Huberta kam und ihr Röteli erfaßte. Auch sie erhielt noch einen Biß in die Hand, – das Tierchen war eben von all dem Ungewohnten ganz außer sich geraten – und sie war froh, daß Rosemarie die Geistesgegenwart gehabt hatte, schnell das Kistchen herunterzuholen, in das der kleine Missetäter nun geschoben wurde. Vor die zerrissene Stelle stopfte man rasch ein Tuch, und das noch an allen Gliedern zitternde Tierchen wurde wieder an seinen Platz gehängt.

Unten im Klassenzimmer herrschte aber noch lange große Aufregung, bei den Mädchen eine ganz ausgelassene, über den lustigen Zwischenfall, bei den zwei Geschwistern ein großes Unbehagen und bei Tante Lina sehr großer Ärger. So was war doch unerhört, so was durfte einfach nicht mehr vorkommen! Das sagte sie Huberta mit den bestimmtesten Worten, während Miß White die kleinen Wunden auswusch und verband und die herbeigeholte Frau Forstmeister jammerte und sich sehr entschuldigte, denn der Schaden, den das Tierchen angerichtet hatte, stellte sich doch als viel unangenehmer heraus, als es zuerst den Anschein hatte. Verschiedene Hefte und Bücher waren stark besudelt, ein paar Kleider hatten gleichfalls Tintenspritzer erhalten. Der eine Vorhang hing in Fetzen herunter, und ein physikalisches Glas lag in Scherben am Boden. Das war bedauerlich, und als Fräulein Schindler nach der Stunde aufs neue sehr scharf betonte, so etwas, dessen man nicht sicher sei, passe eben einfach nicht in eine Pension, da gab Frau Hilde mit schwerem Herzen zu, daß man das Tierchen entfernen müsse. Huberta wehrte sich aber auch der Tante gegenüber noch aufs äußerste und versicherte, sie werde von ihrem Taschengeld ein doppeltes Gitter machen lassen. Das Röteli sei ja sonst nie so und einfach goldig lieb. Das Endergebnis war aber, daß die Mutter ihr vorhielt, es sei Pflicht gegen Tante Lina, die so viel für Huberta und Annele tue, ihrem Wunsch nachzukommen. Wohin nun aber mit dem Tierchen? Das war freilich eine schwierige Frage, und Huberta weinte im voraus schon bittere Tränen in dem Gedanken, es könnte in keine guten Hände kommen.

Da kam dem Rösle, dem Helferle, ein guter Einfall. Die Mädchen in der Pension hatten sich auf Hubertas Erzählung von dem rührenden, krüppelhaften Geschöpfchen zusammengetan und hatten kleine Bilderbücher geklebt, die sie aus Ankündigungen und Zeitschriften ausschnitten. Mit einem Teil dieser Büchlein war Huberta ein paar Tage nach der Eichhörnchentragödie ins Spital gewandert, um sie Rösle zu bringen. Dabei hatte sie ihr die ganze Geschichte erzählt. Es war eben merkwürdig, wie dem Rösle jedermann das erzählte, was ihn gerade beschäftigte. Es kam wohl mit daher, daß das junge Mädchen so aufmerksam zuhören konnte und gar nie dazwischenhinein, wie die meisten Leute, gleich von ihrem Eigenen sprach. Es war ihr eben wichtig, was andere erlebten. Sie versenkte sich hinein und gab sich sofort Mühe, etwas Tröstliches zu finden.

»Daß du das Röteli hergeben mußt, das scheint mir ziemlich sicher zu sein,« sagte sie. »Daran mußt du dich eben in Gottes Namen gewöhnen. Hast ja dein Annele, dein liebes, mit dem du spielen kannst! Und deine Tante, die euch so viel lernen läßt, verdient schon, daß man ihren Wunsch erfüllt. Mir kommt aber auf einmal etwas – ehe ich's aber sagen kann, muß ich zuvor mit Schwester Barbara darüber sprechen, – warte!«

Das Rösle hatte neben seinem Liegestuhl eine Klingel, und gleich darauf verhandelte sie eifrig und geheimnisvoll mit der herbeigeeilten Schwester. Die schüttelte zuerst verneinend mit dem Kopfe, dann überlegte sie, und schließlich sagte sie: »Na ja, wir wollen's probieren. Ganz so übel ist dein Einfall nicht.«

Und nun verkündete das Rösle Huberta glückselig, es habe einmal in einem Buche gelesen, daß ein kleines Mädchen aus Afrika seine zwei Äffchen, die es auch bei einer Großmutter nicht habe behalten können, in ein Kinderhospital gegeben habe, und daß diese den Kindern dort eine Zerstreuung für die Langeweile wurden.

»Und jetzt, Bertele, bringst du dein Röteli hierher, und wir hängen den Käfig an die obere Wand vom Saal, so daß es alle unsere kleinen Kranken sehen können. Und wer weiß, vielleicht lernt's mich auch mit der Zeit kennen und bleibt mir so nett und ruhig auf der Schulter sitzen wie dir. Ich will schon dafür sorgen, daß es nie durchgeht, und es fest an seiner Kette halten – meine eine Hand, die ist sehr stark,« fügte sie noch mit Stolz hinzu, indem sie den immerhin zarten, gesunden Arm fest gespannt in die Höhe hob.

Und so geschah's. Das Röteli ging nach zärtlichem Abschied von der ganzen Pension an seinen neuen Platz, der insofern auch viel geeigneter für es war, weil vor den Spitalfenstern hohe Tannen, Kastanien und Buchenbäume standen, die zu sehen das Röteli sicher freute. Und wenn eins der Kleinen unruhig war oder Schmerzen hatte, so wußte das Rösle nun wieder eine ganze Reihe neuer Geschichten zu erzählen von dem Wald, aus dem das Röteli komme, von dem Forsthause dort und dem Schloß auf dem Berg, so daß die Kinder ganz still aufhorchten und etliche sagten: »Schwester Rösle, da möchten wir auch einmal hin.«


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