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Neuntes Kapitel.

Lieber Gott, tu doch, was ich möchte!« – Die Waldkönigin. – Von etwas Unerwartetem, und warum Robi nicht in die Turnhalle hätte gehen sollen. – Warum die O'mama wütend ist und Tante Lina lieb. – Von abgetrennten Manschetten und einem neuen Hut. – Das beneidenswerte Annele.

 

Robi, der so sehnsüchtig auf Großmutters Antwort gewartet hatte, war gar nicht so recht von ihr befriedigt. Denn eigentlich wußte er jetzt soviel wie vorher. Und doch hatte er durch die liebevollen Zeilen einen Halt bekommen, so wie man auf schwierigen Wegen froh ist, da und dort eine Handhabe und ein Geländer zu finden. Er wollte, indem er dem Paten gesagt hatte, er möchte gerne die Entscheidung jetzt noch nicht treffen. Er hatte gebetet, allerdings hauptsächlich die eine Bitte vor Gott gebracht, er möchte doch seinen Wunsch in Erfüllung gehen lassen, und er gab sich Mühe zu warten und dabei redlich zu lernen, – das letztere fiel ihm nicht schwer.

Während nun Robi wähnte, daß niemand um ihn her von seinen Kämpfen etwas wüßte, wurde währenddessen von allen Beteiligten viel über ihn und seine Zukunft gesprochen. In erster Linie von Wolf Sieghardt selber.

»Ich weiß recht gut, Mama, warum Robi neuerdings so verschlossen gegen mich ist,« klagte er auch der Mutter. »Meinst du, er gebe irgend jemandem Antwort auf die Frage, was er werden wolle? Er weicht Herrn Hausmann aus, er geht weg, wenn die Buben in der Klasse von so etwas sprechen. Und als neulich die Prinzen ihn fragten, welchen Beruf er einmal ergreifen wolle, sagte er: ›Das weiß ich noch nicht,‹ und wurde dabei feuerrot. Und, Mama, er weiß es doch genau, – er muß es ja doch wissen, denn das steht ja fest, daß wir zusammen auf eine Universität gehen und studieren. Wie oft sprecht ihr alle davon, und es bleibt mir ja auch leider Gottes nichts anderes übrig!« – Siegi hielt erregt inne, und dann sagte er ganz unvermittelt: »Ach, Mama, nein, – es ist etwas ganz anderes, was Robi schweigen läßt. Ich merk's wohl, wie er mir verbirgt, daß er alle freien Augenblicke dazu benützt, an die Kaserne zu laufen, um zu sehen, was sie da machen. Schon ein paar aus unserer Klasse haben ihn damit gehänselt, und als einer sagte: ›Der Hagen hat's auf den Offizierstand abgesehen,‹ da sagte er fast trotzig: ›Warum denn nicht? Das wäre doch nichts Unrechtes!‹ Doch als er merkte, daß ich es gehört habe, kam er in die größte Verlegenheit. Aber nicht wahr, Mama, liebe, liebe Mama, so etwas wird er mir doch nicht antun? Das kann doch nicht sein? Das ist doch ganz unmöglich, daß Robi diesen Weg geht, und daß ich dann beständig mit anhören müßte, was er dort erlebt, und was er von dort erzählt?«

Wiedersehensfreude

Wolf Sieghardt traten die Tränen in die Augen und seiner Mutter desgleichen. Sie mußte sich einen Augenblick fassen, ehe sie reden konnte. Dann sagte sie: »Das wäre freilich doppelt hart für mein liebes Kind,« und strich dabei dem erregten Knaben beruhigend über den Kopf. »Aber das eine mußt du ins Auge fassen, Siegi, das ist, falls wirklich Robis ganzes Herz nach diesem Beruf stünde, daß niemand, auch wir nicht, ihn zu etwas anderem zwingen dürfen. Wir werden suchen, ihn in seinem Entschluß so lange wie möglich hinzuhalten, aber dann, so sagt auch Vater, hat er das Recht, selber frei zu wählen.«

»Ach Mutter, wenn es so ist, dann weiß ich schon, was geschieht! Ach Mutter, wenn er eine solche Wahl hat, kann er ja nicht anders! Aber dann soll Robi lieber gleich von mir gehen, dann will ich lieber gar nichts mehr von ihm wissen, als daß ich ihn einmal in Uniform sehen muß oder gar zu Pferde, und ich bin ein elender Krüppel!«

Die Gräfin war tief erschüttert von diesem Ausbruch ihres Kindes, und nach Tisch machte sie der Frau Forstmeister einen Besuch.

Für diese war es immer eine Herzensfreude, wenn ihre liebe Frau Gräfin kam, und auch jetzt empfing sie sie mit frohem Antlitz.

»Störe ich Sie nicht im Ausruhen, Frau Hilde?« fragte die Gräfin. Aber als diese verneinte, setzten sich die zwei Frauen zusammen, und das Mämmeli freute sich auf ein behagliches Stündchen.

Was die beiden aber dann bei einer langen Unterredung verhandelten, das schien durchaus nicht behaglich zu sein. Die Mienen der zwei Mütter wurden immer ernster, und die eine davon saß schließlich da und sagte eine Weile gar nichts, denn die andere hatte in ihrer Herzensangst und ihrem Mitleid mit ihrem Kinde ihr nahegelegt, Robi doch zu beeinflussen, daß er dem Freunde seinen Lieblingswunsch zum Opfer brächte.

»Ja, ich will's tun,« sagte endlich das Mämmeli mit gepreßter Stimme. »Ich will's tun, schon deshalb, weil mein Kind sich nicht undankbar erweisen soll gegen diejenigen, denen es so großen Dank schuldet. Schon lange habe ich geahnt, was kommen wird, – der Bub hat eben auch seines Vaters Blut in sich, dem Reiten und Fahren sein Höchstes war mitsamt seinen jährlichen Einberufungen zu den militärischen Übungen. Ich will's tun und nachdrücklich mit ihm reden, obgleich mir lieber gewesen wäre, wenn Robi mit der Zeit diesen Entschluß selber gefaßt hätte.«

In dem Augenblick stürmten die zwei Mädchen zur Türe herein, und die Gräfin konnte nur noch Frau Hilde innig die Hand drücken. Huberta hatte über dem Arm verschiedene bunte Gewänder hängen, auf dem Kopfe trug sie eine Papierkrone, und das Annele gar war als leibhaftiger Engel mit Flügeln bekleidet.

»Denk' dir nur, Mämmeli, wir dürfen uns an Fastnacht verkleiden! Tante Lina hat es gesagt,« rief die Kleine, nachdem sie die Patin gebührend begrüßt hatte. Dann berichteten beide, daß am Fastnachtdienstag eine kleine Aufführung stattfinde und dann eine Tanzerei in Kostümen, und daß die Tante erlaubt habe, oben von der Bühne herab alle die Anzüge, die vorhanden seien, zu holen.

»Ich werde die Waldkönigin machen,« berichtete Huberta im größten Eifer, »die Krone hierzu habe ich schon, und ein Gewand ist auch da.« Sie wies das auf dem Arm hängende Kleidungsstück vor. »Aber ich mein' eben, das müßte duftiger sein und grünlich statt weiß, und Tannenzweige müßten darauf, und Schlingpflanzen gehören ins Haar und eine goldene Kette um den Hals ...«

»Und was alles noch mehr?« sagte die Mutter ein bißchen abweisend. Sie hatte wirklich im Augenblick keine Gedanken für Maskeraden. Dann nahm sich aber die Patin sehr liebreich und eingehend der Sache an, erklärte das vorhandene Kleid auch nicht für brauchbar und versprach, sie wolle ihre Jungfer heute nachmittag mit einigen leichten Stoffen und einem Korbe mit Blumen schicken, »die wird schon etwas Passendes für euch zusammenmachen.«

»Patin Charlotte, ich danke Ihnen tausendmal,« rief Huberta stürmisch.

Das Annele aber schmiegte sich eng an die Gräfin, die sie sehr liebte, und sagte: »Gelt, Patin, ein Engelein sein, ist auch schön?« was diese ihr mit einem innigen Kuß bejahte.

Es war gut, daß das Mämmeli heute abend ganz besonders viel zu tun hatte mit dem Verteilen der vorhandenen Kleider und Maskenstücke und mit dem Besprechen der verschiedenen Rollen. Mademoiselle Camille und Miß White waren froh, daß ihnen dies abgenommen wurde. Die Frau Forstmeister war umdrängt von den Mädchen, da sie so herrlich das Verkleiden und Maskieren verstand; es war überhaupt so gut und leicht mit ihr zu verhandeln. Aber gar nicht leicht war's, es allen recht zu machen. Ordentlich unangenehm war es dem Mämmeli, daß ihre Huberta sich sofort ohne weiteres eine der Hauptrollen angeeignet hatte.

Marieluise von Gundlach war schon sichtlich verschnupft hierüber, und Edith sagte ziemlich laut: »Natürlich muß sie die Königin machen!«

Als aber die Frau Forstmeister ruhig Hubertas Krone nahm und sie Edith aufsetzte und sagte: »Wenn's dich freut, so mach' du sie,« da riefen doch alle andern: »Nein, Huberta mit ihren langen, lockigen Haaren, und sie, die so lange im Wald gelebt hat, paßt doch besser dazu. Auch versteht sie so hübsch vorzutragen.«

»Das hättest du auch gekonnt,« sagte Marieluise zu Edith. Aber als den beiden Nymphenkostüme mit duftigen Schleiern und goldigen Sternen zugeteilt wurden, da gaben sie sich auch zufrieden. Marie Huttenlocher bekam zu ihrer Befriedigung und zum allgemeinen Jubel die Rolle eines armen Mädchens, das von reichen Bauersleuten gründlich herausgefüttert wird, und Klärchen Schulze hatte ein Pfarrtöchterlein zu machen, gerade so wie sie eines war. Amalie Zeller und Zoe Robesco übernahmen die Rollen eines Zauberers und einer bösen Fee, während Rosemarie sich bescheiden mit der Rolle einer etwas törichten Magd zufrieden gab.

Und nun wurde probiert, verändert, gelernt und überhört, und Frau Hilde konnte für den Augenblick vergessen, was sie vorher so bewegte. Am nächsten Tage aber, als es ihr so recht zum Bewußtsein kam, was sie der Gräfin versprochen hatte, ging sie zur Schwester hinab und leerte dieser ihr Herz aus. Fräulein Schindler war scheinbar nicht sehr gefühlvoll, – das Leben hatte sie ein bißchen hart geschliffen – aber wenn es galt, einen guten Rat zu geben, so war sie die Richtige. Sie war nie weich, aber immer sehr gerecht.

Als das Mämmeli ihr alles gesagt hatte, – sie saßen beisammen an dem großen Schreibtisch – da legte sie die Feder, die sie benützt hatte, auf das Tintenzeug, strich mit der Hand glättend über einen Bogen Papier, der vor ihr lag, und dann sagte sie: »Ich glaube, Hilde, daß die Sache viel einfacher liegt, als du dir einbildest. Wir alle haben in unserm Leben Lieblingspläne aufgeben müssen, ohne daß viel danach gefragt wurde. Und einem Jungen im Alter von Robi sagt man ganz einfach: Das kann nicht sein, und damit basta!«

Damit hatte Tante Lina ihre Ansicht gesagt und tauchte die Feder wieder ein, um an einem wichtigen Briefe weiterzuschreiben. Das Mämmeli aber empfand, daß die Schwester im Grunde sehr recht hatte, nur nahm es ihr den Stein nicht vom Herzen, wie und auf welche Weise sie ihrem Buben gegenüber das ihn Betrübende aussprechen sollte, und wie er es wohl aufnehmen würde.

Aber wie oft macht man sich unnötige Sorgen im Leben.

Ein paar Tage darauf – es war Fastnachtdienstag, und unten im großen Saal hatte die Vorstellung bereits zur allgemeinen Befriedigung stattgefunden, und die Mädchen der Pension sowohl wie auch die Externen aus der Stadt drehten sich im fröhlichen Tanz – da wurde Frau Hilde herausgerufen. Die Frau Forstmeister möchte nur ganz kleinen Augenblick einmal herauskommen, es sei jemand da, meldete Karoline. Und als das Mämmeli die Türe ihres Zimmers erwartungsvoll öffnete, stand Robi da – aber in welcher Verfassung! Trotz des kühlen Wetters, das draußen herrschte, schien er zu schwitzen, denn er wischte sich das Gesicht ab. Ein Ärmel seiner Jacke war zerrissen, seine Hand verbunden, und der ganze Junge schien in großer Aufregung.

»Ja, um's Himmels willen, Röbeli, was ist denn geschehen?« fragte die Mutter ganz entsetzt. Da sagte er hastig und erregt: »Sieghardt ist beim Turnen gestolpert und gefallen. Sein Hüftknochen, sagt der Doktor, sei von neuem verletzt, und gerade vorhin hat man ihn wieder ins Spital gebracht.«

»Das ist ja schrecklich! Ja und du?« Das Mämmeli zitterte ordentlich vor der Antwort.

»Ich? Ach nichts! ... Ich habe dem Siegi nach der Schule gesagt, ich wolle nur ein einziges Mal in der Turnhalle turnen, und da ist er mir nachgelaufen, – zu dumm! Herr Hausmann war heute nicht dabei, und dann habe ich eben mitgeturnt. Mämmeli, ach, einfach herrlich war's, wenn ich auch einmal ein bißchen vom Reck heruntergefallen bin! Die kleine Wunde an der Hand tut nichts – natürlich kann ich eben nichts und bin ungeschickt den andern Buben gegenüber. Aber dann, als der Dauerlauf gemacht wurde, die lange, lange Halle hinab und wieder herauf, und als wir über einen gespannten Strick setzten, da ist der Siegi halt auch mitgelaufen, – Mämmeli, ich kann gewiß nichts dafür, ich hab' gar nicht nach ihm gesehen – und da ist er plötzlich gestolpert und hingefallen. Als wir ihn aufheben wollten, konnte er nicht mehr stehen. Mämmeli, ich kann nichts dafür ... Mämmeli, es ist aber so schrecklich, wenn er jetzt wieder so lange liegen müßte wie damals!«

Als Robi dies sagte, rollten ihm dicke Tränen die Wangen herab.

Das war wirklich eine Schreckensbotschaft, und das Mämmeli wäre am liebsten sofort mit ihrem Buben, der gleich wieder fort mußte, zu den Freunden geeilt, aber das ging ja heute abend nicht. Sie mußte wieder hinunter in den ganzen Trubel, mußte mit der Jugend lustig und fröhlich sein, ihnen Limonade und Kuchen austeilen und dafür sorgen, daß keines sich zu sehr erhitze oder beim Essen sich übernehme. Da behielt sie am besten die ganze Schreckensnachricht noch bei sich. Als aber alles vorüber war und die letzten der jungen Gäste aus dem Hause waren, da erzählte sie das Erlebnis Schwester Lina, und diese sagte: »Das ist eine böse Geschichte, und ich werde dafür sorgen, daß wir morgen früh allein fertig werden ohne dich, und daß du frei hast.« Den Kindern wollte das Mämmeli den schönen Abend auch nicht mehr verderben. Huberta hatte aber von Karoline gehört, daß Robi noch spät dagewesen sei, und als sie fragte, was er denn gewollt habe, da mußte Frau Hilde doch noch die ganze Geschichte berichten. Huberta war außer sich darüber, daß Sieghardt dem Robi doch auch jeden Spaß verderbe. Das Annele aber rief aus seinem Bett heraus: »Mämmeli, muß denn der arme Sieghardt jetzt wieder so lange liegen? Und bekommt er jetzt wieder die schweren Gewichte an seine Füße gehängt?«

Es war nahe daran, vor Müdigkeit und Mitleiden noch gründlich zu weinen, und erst als die Mutter versicherte, das wisse man jetzt noch gar nicht, und es könne auch sein, daß Siegi diesmal nur ganz kurz im Spital bleiben müsse, beruhigte sich das Kind, doch schon halb im Schlaf hörte man es noch sagen: »Lieber Gott – gelt, keine so dummen schweren Steine, die so weh tun!« und dann schlief es ein.

Die beiden Freunde

Huberta und das Mämmeli aber besprachen noch lange zusammen die Sache, und das ärgste dabei war diesen, daß ihr Röbeli doch mittelbar die Schuld an dem Vorfall trug. Das war so, – so sahen's auch Siegis Eltern an und Herr Hausmann, und es gab eine scharfe Rüge, obgleich ja nach der ersten Aufregung jedermann einsah, daß Robis Verlangen, sich nur auch einmal austurnen zu können, kein eigentliches Unrecht gewesen war, und daß Sieghardt hätte gescheiter sein und zu Haus bleiben müssen. Nun war's eben einmal so!

»Graf Wolf Sieghardt von Rieneck« lag nun wieder wie vor bald zwei Jahren in demselben Spitalbett wie damals, das Täfelein mit diesem seinem vollen Namen hing von neuem zu seinen Häupten, und Schwester Eva hatte zur großen Beruhigung der Gräfin auch diesmal die Pflege übernommen. Trotz Anneles kindlicher Bitte kamen eben doch schwere Gewichte an Sieghardts Fuß, damit dieser sich nicht noch mehr verkürze, und Schmerzen gab es auch wieder und Aufregungen und Jammer auch. Obgleich, wie der Arzt versicherte, es sich wieder bald machen werde, mußte man doch auf ein paar Monate Liegen rechnen.

Die O'mama war einfach wütend auf Robi und sagte ihm dies unumwunden in sehr scharfen Worten. Aber merkwürdig, der Bub nahm sie diesmal gelassen und stille auf. Im Grunde hatte er doch ein sehr schlechtes Gewissen und einen sehr großen Druck auf dem Herzen, denn ihn trieb noch etwas anderes um. Er wußte, daß er Siegi hätte zurufen können: »Geh lieber nach Hause!« – oder noch besser, daß er hätte sollen mit ihm gehen. Aber statt dessen war ihm das böse Wort entfahren: »Ja, komm nur mit und sieh dir einmal an, was die andern können, und wie maßlos langweilig unsere Turnerei dagegen ist!« Das hätte er nicht sagen sollen, das nicht! Und daß er das getan, das war ihm selber erst hinterdrein eingefallen. Das war herzensunfein gewesen und lag nun wie ein Stein auf Robis Seele.

Sieghardt mußte auch ähnliches empfinden, denn in den ersten Tagen verlangte er gar nicht nach dem Freunde, und wenn die Gräfin fragte: »Willst du denn gar nicht, daß Robi kommt?« so schüttelte er nur den Kopf. Er hatte auch recht tüchtige Schmerzen wieder, der arme Kerl, und so mochte Ruhe wohl für ihn das beste sein.

Nach einiger Zeit aber brachte Herr Hausmann ohne weiteres Robi mit, und diesem war's eine große Erleichterung, nicht allein mit dem Freunde sein zu müssen. Bei den nächsten Besuchen war die Gräfin oder die O'mama dabei, und es wurde von allerlei andern Dingen gesprochen und mit Absicht nicht mehr von dem Fallen. Dadurch blieb aber Robis Druck, und der Knabe sah so auffallend schlecht aus, daß das Mämmeli ihn ein paarmal fragte: »Ist dir's auch gut, Röbeli? Gehst du auch ordentlich an die Luft nach dem Lernen?«

Das, was Schwester Lina ihr geraten hatte, frischweg ihrem Buben zu sagen, das wollte ihr im jetzigen Augenblick wieder gar nicht recht passen, und sie schob es deshalb immer wieder hinaus. Dazu kam noch was anderes. Frau Hilde war in Sorge um die Großmutter. Onkel Jakob hatte ihr neulich geschrieben, seine Schwester hätte einen kleinen Schwächeanfall gehabt, es sei ihr aber nach ein paar Tagen wieder ganz gut geworden. Und nun war – etwa zehn Tage nach Siegis Unfall – eine neue Hiobspost eingetroffen, die tief in aller Leben eingreifen sollte. Am frühen Morgen, es war fast noch dunkel, schellte es in der Pension, und ein Postbote brachte ein Telegramm für Frau Forstmeister Hagen. Zitternd öffnete sie, und es stand darin:

»Deine Schwiegermutter traf gestern ein Schlaganfall. Ausgang noch unsicher. Wünsche dringend dein sofortiges Kommen.

Onkel Jakob.«

Das war ein Schrecken, nicht nur für die Empfängerin, sondern auch für das ganze Haus! Tante Lina meinte, es müsse in der Schweiz doch auch gute Pflegerinnen geben. Aber das Mämmeli wußte, daß es in diesem Falle notwendig war, zu der Großmutter zu reisen, die so treu jahrelang alles, was gekommen, auch mit ihr getragen hatte. Sie sorgte aber, so gut sie vermochte, für Hilfe im Haushalt für die Zeit ihrer Abwesenheit, und Mademoiselle Camille, die nun schon so lange im Hause weilte und recht praktisch war, versprach ihr möglichstes zu tun. Schrecklich war es Frau Hilde aber, von ihren Kindern wegzugehen, denn sie wußte, wie sehr hauptsächlich Huberta ihrer bedurfte. Doch es gab kein Besinnen.

»Gelt, Kind, du gibst mir recht Obacht auf das Annele, und du selber hältst dich wacker und brav, damit ich mich nicht auch noch um euch sorgen muß!« sagte sie eindringlich beim Abschied.

»Aber Mämmeli, nicht wahr, es wird doch nicht lange währen, daß du fort sein mußt? Die Großmutter wird doch gewiß bald wieder gesund werden,« rief Huberta klagend, als der Zug schon in Bewegung war. Es dünkte sie schrecklich, so allein zu sein, niemanden zu haben, dem man alles berichten konnte, vom Lernen und von den Mädchen. Und wie sollte sie nun auch noch neben ihren eigenen Aufgaben das Lernen von Annele überwachen und ihm die Mutter ersetzen?

Am ersten Abend fing es auch richtig leise in seinem Bettchen an zu weinen und zu schluchzen: »Ich hab' Heimweh nach meinem Mämmeli!«

Da packle Huberta rasch entschlossen ihre Bettstücke zusammen und trug sie in der Mutter Bett, damit sie näher bei der Kleinen war, was diese sichtlich beruhigte. Dann redeten sie ein bißchen davon, wie schön es der Röbeli in der Schweiz gefunden habe, und Huberta sagte dann: »Wenn wir doch nur auch einmal hindürften, aber das wird Tante Lina nie, nie erlauben!«

Da trat diese ein, um noch nach den beiden zu sehen. Und sie war so lieb dabei, brachte jedem ein Stück Schokolade und eine Feige und strich sogar wie liebkosend über die Bettdecke, – einen Kuß gab Tante Lina nie – so daß Annele nachher sagte: »Weißt, Bertele, sie ist doch auch sehr, sehr lieb, nur nicht gerade wie ein Mämmeli. So was Goldiges gibt's halt eben einfach nur einmal in der Welt!«

»Ja,« sagte Huberta und schnuckelte sich in der Mutter Bett. Es drückte sie etwas im Hals, aber weinen mochte sie um alles nicht.

Recht unangenehm war es morgens, wo Huberta sonst gewöhnt war, bis zum letzten möglichen Augenblick im Bett zu bleiben. Nun mußte sie für alles sorgen, sich selber frisieren, dem Annele die Zöpfe flechten und das Kleid zumachen und nachher noch, was herumlag, aufräumen. Das geschah aber mangelhaft, und als nach ein paar Tagen Tante Lina einmal heraufkam, da sah es ganz kunterbunt in den beiden Stuben aus, so daß sie Huberta gründlich schalt.

»Aber ich kann doch nicht alles tun, das Lernen sagst du doch, sei die Hauptsache!« sagte Huberta nicht eben freundlich, und die Tante hatte von neuem zu schelten über Hubertas wenig verbindlichen Ton, den sie ihr gegenüber anschlug. Es lag auch ein bißchen viel auf dem jungen Mädchen, und da war es nun Rosemarie, die ganz bescheiden fragte, ob sie nicht helfen dürfe, und die dann ganz stille und ohne viel Worte vieles von dem tat, was das Mämmeli sonst erledigte. Da diese nicht da war, so mußte Huberta in der Stille anerkennen, daß dieser Freundschaftsdienst ihr galt, und das beschämte sie ordentlich. Auch die andern Mädchen, namentlich Klärchen und auch Zoe, waren besonders lieb in dieser Zeit, und es wäre alles so weit gut gegangen, wenn nicht wieder neue Schwierigkeiten aufgetaucht wären.

Amalie Zeller und ein paar andere Mädchen aus der Stadt fanden die Unterrichtsstunden eben maßlos langweilig und suchten sich dafür durch allerlei Possen zu entschädigen. Sie schnitten hinter dem Rücken von Fräulein Schindler Grimassen und ahmten deren etwas steife Bewegungen nach. Sie füllten die Taschen der außen hängenden Mäntel mit Sägemehl und schütteten in die Hüte Sand, der beim Aufsetzen recht unangenehm in die Augen und Haare rieselte. Aus diesen Dingen machten sie kein großes Hehl, sondern lachten und freuten sich nur, wenn die andern sich ärgerten. Nun aber sah Huberta einmal, daß Amalie zwischen der Stunde geschwind, wo sie hinaus verlangt hatte, mit einer Schere ritsch ratsch die Manschetten von einigen Jacken trennte, ebenso etliche Hutschleifen und Federn. Huberta war zufällig gerade von Tante Lina in deren Zimmer geschickt worden, um ein Lineal zu holen, und war durch die offen gebliebene Tür Zeuge der Sache. Das war denn doch zu stark! Aber sie hatte nicht den Mut, Amalie, die schon wieder im Begriff war, in die Klasse zurückzukehren, dies offen zu sagen. Die ganze Stunde hindurch beschäftigte sie diese Angelegenheit, und sie gab dadurch ein paarmal verkehrte Antworten. Als aber die Schlußglocke ertönte und gleich darauf einige der Mädchen entrüstet hereinstürmten und riefen: »Was ist denn das? Mir fehlt ja meine Schleife!« – »Und mir mein Kragen,« – »Und mir sind die Manschetten abgetrennt,« und als Mademoiselle Camille und Miß White dazu kamen und die letztere ganz entrüstet sagte: »Uas ist hier geschehen? Das ist ja sehr arg! Sogar eine große Loch ist hineingeschnitten. Und hier fällt das ganze Borte herunter,« da konnte sich Huberta beinahe nicht mehr zurückhalten, zu schweigen. Ihr ganzes Gerechtigkeitsgefühl empörte sich, als sie sah, wie Amalie sich ganz harmlos unter die Bedauernden mischte und sagte: »Wer nur auch so etwas getan haben mag!«

Verraten wollte sie nicht, sie dachte noch mit Schrecken daran zurück, wie die Mädchen sie in Bann getan hatten. Aber als die Sache auch von Fräulein Schindler strengstens untersucht wurde und Amalie die Keckheit hatte, mit der unschuldigsten Miene der Welt unter den andern zu sitzen, da empörte Huberta diese Falschheit so, daß sie nachher, als sie im Garten zufällig an Amalie vorüberging, ihr zuraunte: »Pfui, du lügst, und du bist falsch!«

Ein erschreckter und dann ein wütender Blick von der so scharf Beschuldigten folgte und ein unsicheres: »Was unterstehst du dich? Du wirst unverschämt!«

Dabei blieb's; aber Huberta fühlte wohl, daß in Amalie ihr von nun an eine Feindin erwachsen war. Und da diese sich in jeder Hinsicht zu verstellen wußte und sich sehr an Marieluise und Edith anschmeichelte, waren auch diese beiden wieder von neuem recht zurückhaltend und wenig freundlich. Und ach – wie gerne hätte Bertele in Frieden und Freundschaft mit allen gelebt! Das Gegenteil lag doch ihrer ganzen Natur so fern!

Bei der Großmutter ging es bald ein bißchen besser, und man hoffte schon, die Frau Forstmeister werde in absehbarer Zeit zurückkommen können, als die Nachrichten wieder weniger gut lauteten. Heute nun war ein Brief an Tante Schindler gekommen, worin das Mämmeli ganz unglücklich und betrübt schrieb, daß der Arzt sage, der Zustand könne noch längere Zeit so währen, obgleich er überzeugt sei, daß er mit der Zeit sich bessere. Es hieß weiter:

»Die Großmutter selber in all ihrer Schwachheit spricht immer wieder aus, ich solle doch fortgehen zu meinem Beruf. Aber nun ist zu allem Unglück noch das Hilfsmädchen heimberufen worden, und das alte Vreneli möchte gern alles tun, aber es hat nicht mehr die Kraft dazu. Gegen eine Pflegerin wehrt sich Onkel Jakob mit allen Kräften. Er ist eben auch alt und etwas wunderlich und erklärt, es sei ihm ganz unmöglich, jemand Fremdes im Hause zu haben, ich solle doch um Gottes Barmherzigkeit willen bleiben. Was kann ich da tun? Und es ist mir eine große Erleichterung, daß Du, liebe Schwester, schreibst, daß unter Mademoiselle Camilles Leitung die Sache auch läuft. Wenn doch nur Huberta neben ihrem Lernen Dir auch schon im Haushalt helfen könnte! Denn das drückt mich, was Du für das Kind tust, und hast so lange nichts dafür ...«

Die Tante hatte Huberta den Brief lesen lassen, und diese war über den Schlußsatz recht peinlich berührt. Das Leben war doch sehr schwer! Nach allen Seiten sollte man's recht machen und Pflichten erfüllen. Kein bißchen lustig war's gegenwärtig. Ja, wenn man so harmlos hätte sein können wie das Annele! Das lernte, wenn es lernen sollte, mit Eifer, und wenn das vorbei war, so spielte es mit derselben Freude und hatte jedermann lieb, ohne sich zu besinnen, ob das Betreffende es auch lieb habe. Und alle Abende, wenn es in seinem Bette lag, fügte es seinem Nachtgebet noch aus freiem Herzen das Sätzlein hinzu: »Und ich dank' dir auch, lieber Gott, für den schönen, schönen Tag.«


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