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Sechstes Kapitel.

Ein dreifacher Brief, und was Onkel Jakob über Grafenleute denkt. – »Schwester Barbara, wir kriegen Besuch.« – Was das Helferle vom Wollen sagt. – Warum Huberta eifersüchtig ist und des Mämmelis Stimme streng klingt. – »Erschreckt nicht!«

 

Rienecks waren abgereist, und schon nach wenigen Tagen kamen Briefe aus der Schweiz, die herzerquicklich zu lesen waren. Die Großmutter schrieb:

Heimatfluh, den 20. Juni 19..

Ihr Lieben miteinander!

Was war das für eine Überraschung und ein Glück! Ich sitze gestern nachmittag mit Onkel Jakob unter dem Apfelbaum hinter dem Haus, da wo man über das Mäuerchen auf die Landstraße sieht, und wo man den Blick auf den See, den Pilatus und den Bürgenstock hat. Ich stricke an Winterstrümpfen fürs Annele, er raucht seine Pfeife, und auf dem Tisch steht unser Kaffee. Viele Wagen fahren vorbei und auch Kraftwagen, die Onkel Jakob nicht ausstehen kann. Da surrt einer um die Ecke und hält vor unserer Haustüre. Das faucht und rattert, und mein lieber Bruder sagt eben ganz erregt: »Was will au e solches Tüfelszüg bi üs!« Da springt ein Bub heraus – o du meine Güte, wie der meinem Röbeli ähnelt! – und noch einer, – ja, bin ich denn verhext, ist denn das der Siegi? Und sie waren's beide, und hintendrein kommen die Eltern und der Herr Hausmann auch. Und mein Röbeli hängt mir am Hals und schluchzt, das dumme, dumme, liebe Büebli! Und ich schluchz' natürlich auch und frag Onkel Jakob, der mit seiner Pfeife herbeigekommen: »Ja, träum ich denn, oder wo bin ich? Schau dir doch den an, das ist ja mein lieber Bub von daheim!« Dann aber hab ich dem Vreneli und dem Babettli gerufen, die haben müssen frischen Kaffee machen und Waffeln dazu. Und die Herrschaften haben gesagt, solch ein schönes Plätzchen gebe es ja auf der ganzen Welt nimmer, und es sei schade, daß unser Haus keine Fremdenpension sei. Dann haben sie erzählt, und die Kinder und Herr Hausmann haben erzählt, und als ich sie nachher im Garten herumführte, da ist mir mein Robi wie einstens das kleine Röbeli nicht vom Rock weggegangen. Und jetzt will er noch selber schreiben, der Goldpeter.

 

Robi Hagen an seine Mutter.

O Mämmeli, sag nur, daß man auch so glücklich sein kann! Wie wir in Luzern ankamen und dann gleich nach dem Essen ins Auto stiegen, und wie ich jedes Schweizerhaus drum ansah: Ist das die Heimatfluh? Und wie sie's dann war und das Auto hielt und jemand mit einem Spitzentüchle über dem Kopf um die Ecke aus dem Garten kam! Und die Augen vom Großmütterle, als es uns erkannte! Der Pate meinte nachher, sie hätte doch recht erschrecken können. Aber Freude schadet doch nie, – gelt Mämmeli? Ich darf bei ihr wohnen bleiben die zwei Tage, wo die andern in Luzern sind, und wir freuen uns unbändig aufs Schwatzen. Wenn Ihr doch nur auch da wäret! Das Haus ist wie so ein geschnitztes in unserm Glaskasten, ringsum Altanen. Ein Brunnen ist davor, im Garten sind viele Blumen und Beeren. Onkel Jakob spricht nicht viel, aber er ist doch lieb. Und mein Großmutterle, das ist einfach das wonnigste und liebste! Ach, wenn Ihr nur auch da wäret!

Euer glückseliger
Robi.

N. S. Und nun will Sieghardt noch schreiben.

Liebe Robimama!

Es ist einfach herrlich hier! Daß die Berge so hoch sein können, habe ich nicht gewußt. Morgen darf ich mit Robi und einem Fischer auf dem See herumrudern, übermorgen machen wir dann die große Dampfschiffahrt nach Flüelen mit den Eltern, und dann geht's noch weiter in die herrliche Schweiz hinein. Es freut mich furchtbar, daß ich die Großmutter hab' wiedersehen dürfen, und der Onkel Jakob ist auch sehr nett, aber komisch. Er hat gesagt, auf Grafen und »sottige Lüt'« (solche Leute) hielte er nicht viel, aber wir gefielen ihm, worauf wir alle lachen mußten. Huberta und Annele sollten auch hier sein und ... (Mama nimmt mir die Feder aus der Hand.)

Liebe Frau Hilde!

Sie wünschen wir uns vor allen andern her. Was würden Sie genießen und sich erquicken! 's ist ein Jammer, daß es nicht sein kann, und daß Sie nicht sehen können, wie gut Ihre liebe Mutter aussieht, und hören, wie der alte Herr sie lobt und froh ist, sie zu haben. »Sie ist brav und sorgt für mich, und 's ist gut so,« sagt er in seiner trockenen Art und schaut die Schwester dabei ganz verklärt an. Ja, »'s ist gut so« alles, wie ich's gefunden, und ich denke mit diesem Wort Ihnen Freude zu machen. Grüßen Sie die beiden Mädels, und die Patin werde nicht vergessen, ihnen etwas mitzubringen!

Ihre
Charlotte von Rieneck.

Diese Briefe waren herzerquickend, und noch lange, wenn irgend etwas zu verwinden war, holte sie sich das Mämmeli wieder hervor, und es war ihr, als ob kühlende Bergluft ihre Stirne streifte. –

An einem Sonntag war Frau Hilde mit den beiden Mädchen in das Spital gegangen, um Rösle Vollmöller dort zu besuchen. Sie fanden die kleine Verkrüppelte in einem Wägelein in dem Spitalgarten mitten unter lauter verbundenen, blassen oder gleichfalls in Rollstühlen und Korbsesselein sitzenden Kindern. Einige andere, die gehen konnten, brachten von der nahen Wiese Gänseblümchen und von der Spitalmauer Efeublättchen, und wer etwas gefunden hatte, schüttete es in Rösles Schoß. Und diese flocht kleine Kränze daraus. Zwar hatte sie bloß einen Arm, denn der andere war gelähmt, aber es war merkwürdig, wie geschickt sie mit den Zähnen den Faden hielt und ihn um die einzelnen Sträußlein wickelte. Als das Rösle die Frau Forstmeister und ihre Kinder erkannte, ging ein heller Strahl der Freude über ihr Gesicht, und sie rief einer Pflegerin, die eben, ein kleines Kind auf dem Arm, ein anderes im Wägelein schob, ganz erregt zu: »Schwester Barbara, Schwester Barbara – schnell, liebe Leute kommen!«

Diese, die auch schon im Forsthause mit Rösle auf Besuch gewesen, ging den Angekündigten entgegen, und es war ein allgemeines Freuen. Die Schwester holte einige Stühle herbei, und die Frau Forstmeister sagte, nachdem sie Rösle herzlich begrüßt hatte: »Wir wären schon längst zu dir gekommen, Rösle, wenn wir nicht in den ersten Wochen alle so viel zu tun gehabt hätten.«

Rösle nickte, so was verstand sie. Dann aber war ein langes Fragen, wie es der Frau Forstmeister wohl hier gehe, ob Huberta und Annele sich schon an die Schule gewöhnt hätten, – in eine solche gehen zu dürfen, müsse doch was arg Schönes sein – und was für Nachrichten von Robi und Wolf Sieghardt kämen. Dabei sah Rösle so still und teilnehmend liebevoll auf die schwarzen Gewänder der sie Besuchenden, und mit aller Macht mußte sie unterdrücken, von dem schweren Verlust zu sprechen, den die Frau Forstmeister erlitten hatte. Zu der Schwester Barbara gesellte sich noch eine andere Schwester, die Eva, die einstens Siegis Pflegerin war, und fragte sogleich nach ihrem »Gräfle«, wie sie ihn immer genannt hatte, und freute sich zu hören, daß die lange Kur von damals von bleibendem Erfolg gewesen.

»Ein Schwieriger war's, der Siegi,« sagte sie lachend. »Der hat mir damals manchen Angstschweiß ausgepreßt, wenn er durchaus nicht ruhig liegen bleiben wollte und oft so verzweifelt darüber war, daß er einmal nicht wie sein Vater Ulan werden könne. Da hat hier unser Rösle mit ihrem Zuspruch wacker geholfen, und unser »Helferle« ist sie geblieben bis auf den heutigen Tag.«

Schwester Eva legte leicht streichelnd die Hand auf Rösles Schulter. Dann hatten die drei Frauen allerhand miteinander zu besprechen, wobei sie ein bißchen den Gartenweg auf und ab gingen. Rösle schickte ihre kleinen Trabanten wieder auf die Wiese, um neue Blumen zu holen, Annele lief ihnen nach. Da sagte Huberta plötzlich: »Rösle, ich bin ganz schrecklich ungern hier, verrat' es aber ja nicht dem Mämmeli, die würde sich darüber grämen!«

Erschreckt sah das Rösle auf.

»Ja, was ist denn das, Bertele, – fehlt dir etwas? Geht's dir denn nicht gut?«

Huberta traten die Tränen in die Augen, und sie sagte: »Fehlen tut mir eigentlich nichts, aber in der Stadt ist es eben fürchterlich und in der Schule auch, und unser Haus ist es auch und viele von den Menschen auch!«

»Das ist aber arg,« sagte Rösle und blickte ängstlich forschend die so Redende an. Und dabei fragte sie noch teilnehmender als das erste Mal: »Ja, geht's dir denn wirklich so schlecht?«

Darauf konnte Huberta nicht wohl antworten, denn so schlimm war es ja nicht. Aber es war das erste Mal, daß sie ihrem Herzen Luft machte. Und, sich ordentlich überpurzelnd, klagte sie all das, was sie vermißte, was sie drückte, und was ihr nicht gefiel.

»Und weißt du, Rösle, das schrecklichste sind doch die fremden Sprachen! Das kannst du dir gar nicht vorstellen, und du weißt nicht, wie gut du's hast, daß du immer Deutsch und sogar noch Schwäbisch reden darfst, gerade so wie du magst.«

Das Rösle nickte und sagte: »Ja, das ist freilich viel bequemer, und ich wäre wohl auch zu dumm dazu gewesen, so etwas zu lernen. Aber schön muß es halt doch sein, wenn man's kann, und unter meinen Kindern ist einmal ein kleines Französlein gewesen und dann ein Missionarskind aus Indien, mit denen konnten wir uns einfach nicht verständigen. Da hätte ich fürs Leben gern Französisch und Englisch gelernt, um zu wissen, was sie wollten. Und ich glaube, wenn man in der Welt draußen lebt wie ihr, dann ist's eben doch ganz schön und auch nötig, die fremden Menschen und die Bücher, die sie geschrieben, zu verstehen.«

Huberta aber war nun schon im Klagen drin, und indem ihr die Tränen von neuem herunterliefen, sagte sie: »Ich habe eben auch so schrecklich Heimweh nach Vater und nach meinem Wald, wo ich habe sein dürfen, wie ich wollte.«

Das Rösle war nun auch recht ernst geworden; es sagte: »Weißt, Bertele, du hast's lange schön gehabt, und jetzt ist es eben einmal anders gekommen! So geht's bei uns allen, und wir »müssen« auf einmal da, wo wir vorher nicht »wollten« ... Da, Bertele, jetzt wolle eben einmal recht ernstlich, und du glaubst gar nicht, wie einem da der liebe Gott hilft!« Ganz leise setzte dies Rösle hinzu, denn die Frau Forstmeister mit den beiden Schwestern kam gerade wieder zurück, und Huberta hatte nur noch Zeit, sich die Augen zu wischen und in ihr Tuch zu hauchen, damit man nicht sehe, wie sie geweint hatte.

Die Spitalkinder kamen auch wieder mit neuen Blumen, und die Gäste verabschiedeten sich. Wäre Huberta nicht mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen, sie hätte wohl bemerkt, daß auch die Mutter Tränenspuren in den Augen hatte. Auch ihr war wohl der Mund übergegangen bei den treuen, teilnehmenden Schwestern. –

In der kommenden Zeit sprachen sämtliche Mädchen, sowohl die Externen als die Pensionäre, davon, wo und wie sie wohl ihre Ferien zubringen würden. Die meisten durften fort. Marie Huttenlocher, die behauptete, in der Pension nie satt zu werden, sagte: »Ich freue mich nur auf unser gutes Brot, auf die selbstgemachten Würste und auf das Obst, das in unserm Garten wächst.«

Klärchen Schulze, das Pastorstöchterlein, schwärmte von einigen Bäschen im Schwarzwald, zu denen sie durfte, und Marie Luise von Gundlach verkündigte: »Wir reisen nach Helgoland, und ich kann's nicht erwarten, bis ich im Meer baden und Segelfahrten machen darf.«

Rosemarie von Bergen schwieg. Sie hatte einen Brief vom fernen amerikanischen Süden bekommen, in dem stand, daß die Eltern und Geschwister sie beneideten, die Ferien in dem »kühlen St.« zubringen zu dürfen. Kühler war's ja nun wohl allerdings hier als dort. Aber irgendwohin zu dürfen wie die andern, das wäre doch sehr schön gewesen. Nun aber blieb sie doch gerne wegen ihrer »goldigen Frau Forstmeister«, wie sie sie nannte.

Sie schwärmte für das Mämmeli so sehr, daß Huberta sie eigentlich deshalb nicht mehr recht mochte und eifersüchtig war.

Amalie Zeller, eine reiche Fabrikantentochter, die schon viel gereist war, meinte blasiert: »Wir bleiben daheim auf unserm Gut. Wir haben alle das ewige Reisen satt und wollen es nun einmal so probieren. Mutter schreibt, ich dürfe in dieser Zeit Reitstunden nehmen, und meine Vettern kommen auf Besuch, da kann es immerhin ganz nett werden.«

Jedes von den fünfzehn Mädchen wußte etwas zu erzählen; nur Zoe Robesko schwieg. Auch sie mußte wie Rosemarie von Bergen die Ferienzeit über in der Pension verbleiben, da auch für sie die Entfernung von der Heimat zu groß war. Aus diesem Grunde konnte die Pension nicht geschlossen werden, und da Fräulein Schindler schon etliche Jahre keine Ausspannung mehr gehabt hatte und einer solchen sehr bedurfte, so war es selbstverständlich, daß ihre Schwester sie über diese Zeit vertrat.

»Du hast dich doch schon ziemlich eingelebt, Hilde,« sagte Tante Lina, »und so werde ich mit Mademoiselle Camille zusammen ins bayrische Gebirge gehen. Miß White, die voriges Jahr fortgewesen, wird dir helfen.«

Am Tage der Abreise von den vielen Mädchen ging es bunt zu, und das Mämmeli hatte nach allen Seiten hin zu helfen und die junge Gesellschaft, die vor Ferienglück ganz außer Rand und Band war, im Zaume zu halten. Dabei gab ihr Tante Lina immer wieder neue Verhaltungsmaßregeln, was alles zu tun und zu lassen sei, so daß eine recht wohlwollende Ruhe eintrat, als auch sie und die lebhafte Mademoiselle Camille glücklich nach der Bahn gefahren waren.

»Gelt, Mämmeli,« sagte Huberta glückselig, »gelt, jetzt leben wir wieder ganz so, wie wir mögen, setzen uns auf die Straßenbahn und fahren in den Wald und kümmern uns um gar niemanden als um uns selber?«

Da schüttelte aber die Mutter nachdrücklich den Kopf und sagte: »Ja, was fällt dir denn ums Himmelswillen ein, Bertele? Wir sind doch nicht allein und müssen doch für die andern sorgen, die auch nirgends hindürfen, und die doch auch gern recht vergnügt sein möchten! Denk nur an die arme Rosemarie, die oft so Heimweh nach ihren Eltern hat, und ...«

»Ach was! Immer nimmst du Rücksicht auf die! Den ganzen Tag strebt sie nur danach, mit dir zusammen zu sein, und ich habe doch auch Heimweh nach Vater und ...«

»Huberta!« Des Mämmelis Stimme klang recht streng, als sie dies sagte, denn sie merkte schon lange, daß ihr Kind auf Rosemarie neidig war, und das schmerzte sie.

Schmollend zog sich Huberta zurück. Aber lange hielt sie so etwas nicht aus, und schon beim Mittagessen arbeitete ihr lebhafter Geist daran, wie man wohl die Ferien am lustigsten verbringen könne.

Frischweg drauf los sprach sie heute Deutsch und war aufs äußerste entrüstet, als Miß White sagte: »O, uas fällt Sie denn ein, Huberta? Uir uollen gerade in das Vakanz nur sprechen Englisch zusammen, auf daß uir bringen herein, uas uns fehlt! Miß Schindler hat es so gewünscht, und uir uerden es tun.«

Hubertas Kopf war purpurrot, und hilfeflehend sah sie die Mutter an. Aber diese stimmte bei.

»Wenn Tante Lina es so für gut findet, so haben wir zu folgen. Ich freue mich recht darauf, auch ein bißchen radebrechen zu können und in so kleinem Kreise mein Englisch aufzuwärmen. Zoe und Rosemarie werden mich gewiß nicht auslachen!«

Letztere ergriff sofort die Hand ihrer Frau Forstmeister und drückte als Antwort einen Kuß darauf, was Huberta äußerst übertrieben fand. Zoe aber sagte nur kurz: »Gewiß nicht!« Sie machte immer nur sehr wenig Worte.

Als erste Pflicht trachtete die Frau Forstmeister die Zurückbleibenden möglichst viel an die frische Lust zu bringen; das dünkte sie für alle nötig. Man verlegte die Mahlzeiten auf die Veranda, von der aus man ja, wie die Frau Schultheiß in Rieneck gesagt, immerhin das Dach vom Schloß, einige Baumwipfel und in der Ferne einen blauen Hügel sah. So oft als möglich ging oder fuhr sie auch mit ihrer kleinen Gesellschaft in den Wald auf der Höhe. Aber darin mußte sie Huberta recht geben, es war eben im Verhältnis zu ihrem Wald daheim mehr ein dünnes, lichtes Gehölz, durchwimmelt von vielen Stadtleuten, die gleichfalls die Hitze hier herauf trieb.

»Das sind doch keine Bäume – das ist doch kein Vogelsang – das ist doch keine Stille und Waldeinsamkeit!« klagte Huberta und verdarb damit auch den andern, die keine so hohen Ansprüche machten, ihre Freude.

Eins war hübsch, daß sie das Röteli an der Kette auf diese Spaziergänge mitnehmen konnten. Es saß meistens recht lieb und anständig auf Hubertas Schulter. Nur – das Mämmeli behauptete so – wenn das Tierchen Tannen roch, da wurde es unruhig und zerrte an der Kette, so daß Huberta es manchmal in ein mitgebrachtes Körbchen einsperren mußte.

Den Blumenablegern, die in Hülle und Fülle von Jörg und Robi geschickt worden waren, behagte die Stadtluft auch nicht. Es gab auch recht wenig Platz auf dem Gesimse, – man mußte doch auch den einen oder andern von den Fensterflügeln öffnen können – und trotz beständigem Gießen wollten sie nicht gedeihen und starben ab. Nur das Primelstöckchen gedieh, und ein Setzling Efeu von Vaters Grab rankte sich schon ganz hübsch um Rötelis Behausung hinüber bis zu Vaters Bild. Huberta hatte doch manche freie Zeit, wo sie nach Herzenslust lesen konnte. Das erkannte sie an. Und außerdem durfte sie auch jetzt, was sie nur zu gerne tat, im Haus und in der Küche herumflanieren, im Wäschezimmer ein bißchen helfen Mange drehen und bügeln, in der Küche Zucker sieben, Teig rühren oder gar einmal Pfannkuchen machen. Sonst war den Mädchen das Betreten dieser Orte verboten.

Das Annele war ganz für sich selber seelenvergnügt mit seinem Sandhaufen im Garten, wo es mit den Bauhölzern und den Puppen eine ganz Welt aufführte, und mit seiner lieben Zoe, die trotz ihrer scheinbar trockenen Art ein herzliches Interesse an dem Kind gefaßt hatte.

»Ich liebe ihrr,« konnte sie sagen, und manches Zuckerplätzchen und manches hübsche Bild oder kleine Spielzeug gab sie ihrem Schützling.

»Mit mir macht sie gar nichts,« hatte auch hier Huberta einzuwenden. Eine Bevorzugung von andern konnte sie eben schwer ertragen.

Nun kam etwas, was die kleine Gesellschaft in der Pension Schindler in große Aufregung versetzte. Gräfin Charlotte Rieneck schrieb an die Frau Forstmeister, sie lade alle zusammen auf die kommende Woche ein, über den Sonntag aufs Schloß zu kommen und einmal ein bißchen frische Luft zu atmen.

»Ob Ihnen, liebe Hilde, dieser Vorschlag nicht Herzweh macht, und ob Sie schon so weit sind, die hiesige Gegend wieder aufzusuchen, das muß ich Ihnen anheimstellen. Sie wissen, welch innige Freude es mir wäre, Sie und die Kinder geschwind wiederzusehen, von Robi gar nicht zu reden, dem ich übrigens von meinem Vorhaben noch nichts gesagt habe, um ihm eine etwaige Enttäuschung zu ersparen. Wenn Sie sich entschließen zu kommen, so können wir Ihnen auch gleich das Nähere von unserer Schweizerreise und von dem Besuch bei Ihrer herrlichen Schwiegermutter mündlich erzählen.«

Was gab das für einen inneren Kampf, den das Mämmeli zuerst mit sich selber ausfocht! Es war ihr hauptsächlich bange, daß Huberta ganz aus dem gewonnenen Gleichgewicht käme, wenn sie dort wieder die gewohnte frische Lust atmete. Aber der Vorschlag war doch für alle so verlockend, daß sie ihn nicht ohne weiteres zurückweisen konnte. Und welch einen Jubel erregte die Einladung! Das Mämmeli vergaß sich selber und was es bewegte, über all den stürmischen Ausrufen und Ausbrüchen. Selbst Zoe wurde ordentlich lebhaft und sagte: »Das freut mich serr.«

Huberta war gar nicht mehr zu halten; immer wieder flog sie dem Mämmeli um den Hals und weinte und lachte und wirbelte das Annele im Kreise herum.

»Das ist alles recht; wenn's dir nur nachher nicht wieder um so schrecklicher ist,« sagte die Mutter. Und ganz, ganz in der Stille hatte Huberta auch ein bißchen Angst davor, aber merken ließ sie sich's nicht.

Nun war es Freitag, und morgen früh wollte der Gesellschaftswagen von Rienecks die Eingeladenen an der Bahnstation abholen. Da, in der Nacht wurde die Mutter unwohl. Hatte die große Hitze ihr zugesetzt, oder was es war, – kurz, am andern Morgen hatte sie solche Kopfschmerzen, daß an ein Fortgehen gar nicht zu denken war. Was nun tun? Es war der letzte Sonntag in den Ferien, und was heute nicht geschah, konnte nicht mehr nachgeholt werden. Da sagte Frau Hilde kurz entschlossen, nachdem sie noch mit Miß White gesprochen: »Ihr reist in Gottes Namen ohne mich.«

Nun brach aber ein großer Jammer aus, besonders bei Huberta und Rosemarie, und letztere erklärte auf das bestimmteste, dann gehe sie auch nicht fort, sondern bleibe bei ihrer lieben Frau Forstmeister. Das aber konnte Huberta doch nicht geschehen lassen, und so erklärte eben auch sie, dableiben zu wollen. Jetzt entstand ein Wettstreit, wobei die Mutter schließlich erklärte, sie brauche gewiß keines von den beiden Mädchen, und sie sollten doch nur getrost fortfahren, sie habe ja schon öfters solche Kopfwehanfälle gehabt. Rosemarie aber gab nicht nach, sondern bestand darauf: Huberta, die doch so sehr an der alten Heimat hänge, müsse gehen, für sie selber sei es gar kein Opfer, hier zu bleiben. Das ließ sich hören. Daß Rosemarie sie vertrete, das wollte nun eben Huberta unter keinen Umständen, – lieber noch selber verzichten, so hart das gewesen wäre. Und so war sie für den Augenblick ganz erleichtert, als die Mutter entschied: »Geht nur beide, es beruhigt mich, und Karoline, das Stubenmädchen, wird mich sicher gut versorgen.«

Wohl war es Huberta bei diesem Bescheid nicht, Rosemarie, das wußte sie, wäre für das Mämmeli eine herrliche Pflegerin gewesen, und da sie etwas schüchtern war, machte sie sich wirklich nicht viel aus dem Ausflug zu den fremden Leuten – aber, beschwichtigte sie ihr Inneres, es währte ja nur kaum zwei Tage und eine Nacht, und gewöhnlich war das Kopfweh dann schon wieder verschwunden. Aber dringend empfahl sie Karolinen die Mutter an und legte ihr ans Herz, daß sie gewiß immer in der Nähe bleiben und ihr die Arznei zur richtigen Zeit geben solle.

Und Huberta fuhr wieder durch den heimischen Wald, sie hörte das Vogelkonzert, sie sah die alten, mächtigen Bäume und kam wieder nach Rieneck, und Robi stand da mit seinem guten, ehrlichen Gesicht, und sein erstes war: »Wo ist das Mämmeli?«

Er schien rasend enttäuscht, als er hörte, daß sie nicht mitgekommen sei, und sagte sofort: »Wer sorgt für sie? Wer macht ihr die Umschläge?«

Auch Rienecks und selbst die O'mama äußerten ihr großes Bedauern, ihre liebe Frau Forstmeister nicht sehen zu können. Die Mädchen und Miß White wurden aber nichtsdestoweniger sehr herzlich empfangen. Sieghardt war anfangs sehr schüchtern all den jungen Damen gegenüber. Er hielt sich an Huberta und Annele, denen er viel zu erzählen hatte, besonders von der Reise. Aber als nachmittags dann im Park unten ein allgemeines Spiel gemacht wurde, als man die Ställe besuchte, auch den vom Schwanenwirt, wo der Braune von all den jungen Mädchen so viel Zucker bekam, daß der Hausknecht wehren mußte, – das Tier kriege ja die Zuckerkrankheit – und als schließlich im Schloßhof die jungen Mädchen der Reihe nach auf einem sehr gut geschulten Pferde des Grafen Rieneck unter dessen Leitung reiten durften, da war das Eis gebrochen. Es gab einen sehr lustigen Abend mit Charadenspiel, in dem Sieghardt Meister war, und das er und Herr Hausmann zusammen leiteten, und wozu die Gräfin ihre Jungfer und ihren ganzen Kleidervorrat freigab.

Am andern Morgen ging's in die Kirche und ins Dorf. Da sonderten die Forstmeisterskinder sich von den andern ab und gingen gemeinsam zu Vaters Grab. Sie setzten sich auf ein Bänkchen enge zusammen, und Robi erzählte noch einmal das, was er ihnen in den Briefen aus der Schweiz schon geschildert, wie wunderbar schön es dort sei, und daß die Großmutter gar nicht gewußt habe, was sie ihm alles zuliebe tun sollte.

»Heimweh hat sie halt trotzdem auch, und wir fehlen ihr,« schloß Robi einfach. Und dann plötzlich sagte er ganz unvermittelt: »Du, Huberta, wird auch wirklich gut heute fürs Mämmeli gesorgt? Die Rosemarie, die mir, nebenbei gesagt, sehr gut gefällt, hat gesagt, sie habe bei ihr bleiben wollen. Ich glaube, die hätte es gern getan, und ich hätte sie an deiner Stelle gelassen oder wäre selber geblieben.«

Huberta wurde es plötzlich ganz heiß ums Herz. Die ganze Zeit her war es ihr schon immer unbehaglich gewesen, und nun mußte Robi auch noch so reden! Leichter, als ihr zumute war, erwiderte sie: »Das Mämmeli hat doch nicht wollen, daß eines von uns bleibt, und heute abend sind wir ja schon wieder bei ihr.«

Es war auch so. Etliche Stunden später, nachdem von der jugendlichen Gesellschaft noch ein jedes einen schönen Blumenstrauß aus dem Rieneckschen Gewächshaus bekommen und für die Frau Forstmeister noch ein besonders schöner gemacht worden war, trafen sie alle, erfüllt von den zwei schönen Tagen, erzählungsbegierig wieder in der Pension ein. Es war abends neun Uhr, und das Mämmeli hatte gesagt, es warte dann auch mit dem Nachtessen. Aber wie sonderbar! Niemand kam ihnen entgegen, obgleich Huberta unten schon die Klingel in Bewegung gesetzt hatte, um sofort ihre Ankunft zu verkündigen. Als sie schon beinahe oben waren, trat Karoline aus dem Eßzimmer.

»Wo ist die Frau Forstmeister?« riefen Rosemarie und Huberta zusammen.

Da sagte das Mädchen etwas verlegen: »Die Frau Forstmeister liegt noch zu Bett. Sie hat sich ein bißchen an der Hand beschädigt.«

Huberta stürzte hinauf und Rosemarie hinterdrein, und die Tür aufreißend rief sie schon von weitem: »Mämmeli, was ist, was ist denn geschehen?«

Die Mutter lag zu Bett und versuchte, ganz heiter auszusehen; aber sie hatte den Arm verbunden, und eine Schüssel mit Eisstücken stand neben ihr.

»Erschreckt nur nicht, Kinder,« – das Annele war inzwischen auch dazugekommen – »erschreckt nicht, es ist gewiß nichts Gefährliches! Bin nur ein bißchen gefallen und habe mir die Hand verstaucht. Das wird in ein paar Tagen wieder gut sein.«

Sie zuckte aber bei einer unwillkürlichen Bewegung zusammen, und man merkte, daß sie starke Schmerzen hatte. Und dann kam Karoline hinzu und sagte, sie könne gewiß nichts dafür, sie sei nur geschwind Einkäufe machen gegangen, und da sei die Frau Forstmeister gerade aus dem Bett heraus und auf die Hand gefallen. Sie habe ihr gewiß gleich Umschläge gemacht und sei auch gleich zum Doktor gelaufen. Nach und nach aber stellte es sich heraus, daß es dem Mämmeli bei den starken Kopfschmerzen schwach geworden sei, daß es oft geläutet habe und niemand gekommen sei. Da habe es die Tropfen selber holen wollen, und dann sei ihm wohl ein bißchen schwach gewesen, es sei umgefallen und habe sich die Hand zerstoßen.

»Ach, Frau Forstmeister, liebe, liebe Frau Forstmeister, hätten Sie mich doch dagelassen!« klagte Rosemarie und bat herzlich, ihr doch zu erlauben, die Umschläge machen zu dürfen, sie habe darin einige Erfahrung. In Südamerika, wo man nicht so rasch einen Arzt bekommen kann, habe Mutter bei kleinen Unfällen immer selber verbunden und geheilt und habe sie darin ein bißchen unterrichtet.

Huberta war außer sich, in allererster Linie, daß Rosemarie sich wieder sofort zwischen die Mutter und sie schob, dann aber sagte ihr Gewissen, das diese zwei Tage recht unruhig gewesen war, daß dieser Unfall hätte vermieden werden können.

Das Mämmeli merkte ihrem Kinde wohl an, was es bewegte, und sie veranlaßte nun die Kinder, sich um ihr Bett zu setzen und ihr von den Erlebnissen in Rieneck zu erzählen, wobei aber ihre Älteste gegen ihre sonstige Gewohnheit am stillsten war. Abends dann, als die Mutter recht tüchtige Schmerzen hatte und Huberta auch sah, wie unbehilflich sie durch den Unfall war, da brach bei ihr der ganze Jammer los.

»Ich hätte eben dableiben sollen, ich hätte eben nicht fortgehen sollen! Aber Rosemarie dalassen, die sich ohnedies immer zwischen dich und mich drängt, und die du gewiß bald lieber hast als mich, das habe ich nicht gekonnt. Nein, das habe ich einfach nicht gewollt!«

Huberta saß am Bett der Mutter und hatte leidenschaftlich die gesunde Hand erfaßt und ihre heiße Stirn darauf gedrückt. Da fügte ihr aber das Mämmeli in sehr ernstem Tone, daß das recht häßliche Eifersucht sei, die sie so reden lasse, und ob sie nicht wisse, daß Eifersucht eine Leidenschaft sei, die »mit Eifer suche, was Leiden schafft«. Und ob sie denn vergessen habe, was Rosemarie schon am ersten Tage gesagt habe: »Die Frau Forstmeister erinnert mich an mein Mütterlein.« Da solle sich doch Huberta hineindenken, was das für so ein warmes Herz wie das von Rosemarie sein müsse, die Mutter und all ihre andern Lieben in so weiter, weiter Ferne zu haben. Da halte sie es doch für ihre Pflicht, solch einem heimwehkranken Kinde soviel wie möglich die ferne Mutter zu ersetzen, um so mehr, als sie wirklich Rosemarie mit ihrer stillen, sanften Art in ihr Herz geschlossen habe.

Mittlers Worte machten einigen Eindruck auf Huberta, aber der letzte Satz gab ihr schon wieder einen Stachel ins Herz, und als Rosemarie am andern Morgen so geschickt und gewandt die Umschläge machte und dann den Verband darüber legte, während Huberta daneben stand und sich bewußt war, daß sie das nicht konnte, war ihr dies recht unangenehm.

»Schau zu und lern's, wie man's macht!« mahnte die Mutter. Aber Huberta warf die Oberlippe auf und lief davon mit einem halblauten: »Wenn's Rosemarie so gut kann, dann braucht man mich nicht.«

Dazwischen hinein quälte sie ordentlich das Mämmeli mit Zärtlichkeitsanfällen und auch damit, daß sie immer wieder sagte: »Ich hätte eben nicht fortgehen sollen, ich hätte eben dableiben sollen!«

Miß White übernahm, solange die Frau Forstmeister die Hand noch nicht wieder gebrauchen konnte, die Oberleitung. Aber sie war eben keine Deutsche, und manches im Haushalt ging nicht so, wie es sollte. Da war's nun, wo Huberta sich mit Eifer und Glück einsetzte, und wenn die Mutter ihr erlaubte, beim Einmachen der Beeren, beim Schnitzeln der Bohnen und beim Einlegen der Früchte mitzuhelfen, da war sie in ihrem Element. Um Mutter aber eine Freude zu machen, zwang sie sich in Gottesnamen auch zum Englischreden, und Miß White stellte fest, daß »das Huberta nun ein bißchen viel ueniger schlecht rede«. Huberta half alle Morgen der Mutter auch beim Ankleiden, knöpfte ihre Röcke zu und steckte ihr die Haare auf. Da gab es einmal wieder eine ungute Szene, als Huberta Rosemarie dabei fand, wie sie vor der Frau Forstmeister kniete und ihr die Schuhe zuhakte. Huberta war gerade nicht dagewesen, und das Mämmeli wollte schnell fertig sein. Da schob Huberta Rosemarie recht unfreundlich beiseite und sagte: »Geh du weg da, das ist meine Arbeit, – und meine Mutter!« setzte sie unwillig noch ganz leise dazu. Aber Rosemarie hatte es doch verstanden und war sofort weggegangen. Diesmal zankte die Mutter ihr Kind gründlich aus und hielt ihr vor, wie häßlich und lieblos sie sich benehme.


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