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Drittes Kapitel.

Was Siegi alles tut für seine Gäste, und wie er sein Schmetterlingskästchen hergibt. – Von Himmelbettladen, seidenen Decken und einer Jungfer. – »Verwöhn' mir die Kinder nicht!« – Die besten Zimtsterne der Welt. – Edith findet, daß alle Erzieherinnen unausstehlich sind. – »Muß jedermann seinen Kopf verstoßen?« – Zum letzten Male hinunter! – »Ich will nicht, und ich leid's nicht!« – »Patin Charlotte, warum ist die Welt so, wie sie ist?«

 

In der Schulstube auf Schloß Rieneck wurde heute nachmittag nichts gelernt. Gegen Abend erwartete man die jungen Gäste, und da mußte doch vieles noch vorbereitet werden. Wolf Sieghardt räumte eben mit Hilfe Herrn Hausmanns einen der tiefen Wandschränke aus, in dem künftig Robi Hagen seine Bücher und Lernsachen unterbringen sollte. Ein kleinerer Platz wurde für die Schulbücher der beiden Mädchen freigemacht, die, so war es nun bestimmt worden, vierzehn Tage noch mit Robi hier weilen sollten. Dann gingen die beiden durch das nebenan liegende große Zimmer, das das ihrige war, und in dem sie gemeinsam schliefen, in ein kleineres, daranstoßendes Gemach, das Robi künftig bewohnen sollte. Wie hübsch war da alles gerichtet! Das Bett mit einem Himmel aus geblümtem Kattun, ein Waschtisch mit Marmorbelag, eine eichene Bank und davor ein breiter Tisch, auf dem sich hantieren ließ, Schrank und Kommode, und über das breite Fenstergesims hinüber durch die kleinen, viereckigen, blaugefaßten Scheiben sah man auf Wälder und Felder und auf ferne blaue Hügel.

Sieghardt ging beständig ab und zu, stellte neben das Tintenzeug noch eine Schale für Federn, holte zwei hübsche Leuchter aus seinem Zimmer, bat die Mutter unten noch um ein Bücherbrett, um es an die Wand zu hängen, das Krüger, der alte Kammerdiener, sofort aufnageln mußte. Ein Schmetterlingskästchen mit selbstgefangenen Schmetterlingen, das seither sein Stolz war, befestigte Sieghardt selbst darunter, und eine Kiste mit Handwerkszeug sowie seinen neuen Kodak stellte er zur Überraschung des Freundes unten in den Schrank. Jetzt noch ein Briefbeschwerer! Nun war wirklich alles, was man sich wünschen konnte, in der Jungenstube vereinigt, und als die Gräfin selber noch kam, um nachzusehen, sagte Siegi ganz strahlend: »Glaubst du, Mutti, daß es ihm so gefallen wird?«

Der Junge lief vor Freude in der Stube auf und ab. Bei einem andern jungen Menschenkind hätte man es Hüpfen genannt; aber es war bei ihm nur mehr ein Versuch dazu, denn das eine Bein war etwas kürzer als das andere und gehemmt in der Bewegung, und wenn er rasch ging, so wurde der Fehler recht bemerkbar. Mutter und Sohn besichtigten nun auch noch das Zimmer, in dem die beiden Mädchen unter Obhut der gleichfalls schon alten Kammerjungfer Minna schlafen sollten, und nun ging es hinunter auf die Terrasse, wo der Tee getrunken wurde, und wo die alte Gräfin Rieneck, Sieghardts »O'mama«, wie er sie von klein auf genannt hatte, schon in ihrem bequemen Korbstuhl sitzend ihrer harrte, während der Vater selber mit dem Jagdgewehr ins Forsthaus gefahren war, um die Kinder seines verstorbenen Freundes zu holen.

»O'mama, du mußt nachher hinaufgehen und Robis Zimmer dir ansehen, ehe er kommt. Es ist wirklich fein geworden,« sagte Sieghardt stürmisch, nachdem er flüchtig die Hand der alten Dame geküßt hatte. »Fein, sag' ich dir, und auch das der Mädels! Und jetzt kann ich's beinahe nicht mehr erwarten, bis sie kommen.«

Er lief vor bis an die Brüstung, um hinab ins Tal zu sehen, wo man eine gute Strecke weit die Fahrstraße überblicken konnte, die in den Wald hinein und zum Forsthaus führte.

»Verwöhnt mir nur den Buben nicht zu sehr, und erst gar die Mädchen, die doch nachher in recht einfache, kleine Verhältnisse in der Stadt kommen!« sagte die Gräfin, nicht eben sehr begeistert. Sie freute sich ja immerhin darüber, daß Wolf Sieghardt, ihr innigst geliebter einziger Enkel, der erst nach langem Warten einst auf Schloß Rieneck erschienen war, nun einen Spiel- und Lerngefährten bekommen sollte; aber im großen ganzen mochte sie Kinder nicht sehr gerne. Sie griffen sie an, und daß diese »wilden Waldhummeln«, wie sie die Forstmeistermädchen nannte, nun, wenn auch nur für kurz, da sein sollten, war ihr nicht recht. Die große Lebhaftigkeit der beiden erregte sie, und dann fand sich auch an ihrem Benehmen recht viel auszusetzen. Das zu rügen, war so mühsam, aber einfach Pflicht, denn die Kinder mußten ja doch einmal in die Welt hinaus und würden's ihr danken, wenn sie ihnen ein bißchen feinere Art beigebracht.

»Sie kommen, sie kommen!« rief Sieghardt und hüpfte, so rasch er konnte, die Stufen hinunter in den Garten und von da durch das große Tor mit dem Wappen auf die Landstraße. Bald darauf hielt der Wagen mit einem scharfen Ruck vor dem Schloßtor, Graf Rieneck, ein noch jugendlicher Herr, sprang gewandt herunter und half den Kindern beim Aussteigen. Auch die Gräfin war herbeigeeilt und begrüßte alle auf das herzlichste.

»Jetzt kommt ihr zuerst auf die Terrasse zum Teetrinken, und dann führe ich euch auf eure Zimmer,« sagte sie, während ein Diener und eine Zimmerjungfer das kleine Gepäck der jungen Gäste in Empfang nahmen. Das große Gepäck von Robi sollte gleich nachher, wie ausgemacht, von Jörg nachgebracht werden. Huberta hatte das Röteli auf ihrer Schulter sitzen, an seinem Halsbande war eine kleine Kette befestigt, an der sie es hielt.

»Au, die O'mama!« sagte sie zu Annele, als sie alle die paar Stufen zur Terrasse hinaufgestiegen waren. »Wenn nur die nicht da wäre, dann wäre alles recht!« fügte sie leise noch hinzu. Aber sie und das Schwesterlein gingen trotzdem sofort zuerst auf die Dame zu und küßten ihr nach Mutters Weisung die Hand. Daran war nichts auszusetzen. Aber trotzdem war gleich etwas nicht recht, und die alte Dame nahm nie ein Blatt vor den Mund. »Guten Tag, Kinder,« sagte sie, »aber nicht wahr, Huberta, du gibst dieses Tier sofort Martin zur Obhut. Er kann es ja in den Stall bringen. Das Gehüpfe und der Gedanke, daß das Eichhorn sich losreißen könnte, ist mir nicht angenehm.«

Huberta wurde rot und wollte am liebsten erwidern: Wie kann mein Röteli, mein goldiges, irgend jemand aufregen! Aber sie bezwang sich doch und überließ den Liebling Sieghardt, der ihr beruhigend mit den Augen zuzwinkerte und sagte: »Laß es mir nur, ich bring's schon gut unter!«

»Lauf jetzt nicht gerade weg, wenn wir Tee trinken wollen, Siegi,« sagte die O'mama. Aber der Junge war schon draußen, kam aber möglichst rasch wieder, und die ganze Gesellschaft nahm Platz um den in die Schloßecke hineingepaßten viereckigen Tisch. Die Wände entlang liefen Bänke, mit Kissen belegt. Außen standen hübsche Sessel aus Strohgeflecht in bunten Farben.

Die Forstkinder wären wohl in keiner heiteren Stimmung gewesen, wenn sie schon hätten für immer unten Abschied nehmen müssen, so aber wußten sie, daß im Forsthause auch morgen und übermorgen noch das Mämmeli, die Großmutter und alles andere zu finden waren, und sie gaben sich deshalb mit Freuden und rückhaltlos den neuen Eindrücken hin.

Das prächtige, silberne Teegeschirr, die schönen Tassen mit den feinen Blümchen und das lautlose Bedienen Krügers machte immer auf Huberta, die sehr fürs Feine war, einen großen Eindruck. Sie stupste leise Annele und flüsterte: »Gelt, wie das glitzert und schön ist!«

Das Annele aber nickte bloß. Ihm war in dem Augenblick sein Stück Kuchen und die Orange, die ihm der Herr Graf eben geschenkt hatte, wichtiger als das andere.

Alle gingen nun zusammen hinaus in die Fremdenzimmer, und Sieghardt führte die jungen Freunde feierlich ein. In dem Zimmer der Mädchen hatte das Stubenmädchen schon angefangen auszupacken und einzuräumen. Das kam Huberta, die mit ihren zwölf Jahren schon gewohnt war, solche Dinge selbst zu tun, ganz merkwürdig vor. Auch hier waren Vorhänge über den Betten, weißer Mull, himmelblau unterfüttert, und die Kissen hatten Spitzen. Die Mädchen strichen fast ehrfurchtsvoll über den feinen Bezug und hätten sich am liebsten gleich in das schöne Nest hineingelegt. Oft und oft waren sie ja schon auf dem Schloß gewesen, aber nie in einem eigenen Zimmer und zum Übernachten, – das war doch wieder ganz etwas Neues.

Robi, den Sieghardt voll Erwartung von Möbel zu Möbel führte, sagte eigentlich recht wenig, was den Freund verdroß. Er drückte nur fest dessen Hand und sagte einmal mit unterdrückter Stimme: »Danke!«

»Gefällt's dir eigentlich nicht sehr da?« fragte Sieghardt, fast ein bißchen ärgerlich. Aber als Robi mit tiefem Aufatmen sagte: »O ja, sehr, das Schmetterlingskästchen ganz besonders, und ihr seid alle so lieb!« da war er wieder zufrieden. –

Herr Hausmann, der noch jugendliche Genosse, hatte heute einen freien Nachmittag gegeben, und Graf Rieneck fuhr mit der ganzen Kindergesellschaft in ein benachbartes Dorf. Vorher ließ er unten im eigenen Dorf halten, er mußte etwas mit dem Schultheiß besprechen. Die Frau Schultheiß, die die Kinder alle von klein auf kannte, führte sie inzwischen in ihre gute Stube und gab ihnen von ihren hochfeinen Zimtsternen zu essen, die sie stets vorrätig hatte. Die freundliche, aber sehr gesprächige Frau konnte von den Forstkindern nicht genug erfahren, wie es daheim denn jetzt aussähe, wann sie fortzögen, und zu was sich die Frau Forstmeister für die Zukunft entschlossen habe.

»In die Stadt ziehen wir zu Tante Lina, in eine Pension, wo viele, viele Schulmädchen sind, mit denen wir lernen dürfen,« sagte das Annele wichtig, worauf die Frau Schultheiß die Hände zusammenschlug und rief: »I du meine Güte, ihr armen Kinderle, wie wird's euch da gehen in einer engen Straße, wo weder Sonne noch Mond hereinscheint, und wo die Nachbarn einem in den Suppenteller hineingucken!«

»Kann ich dann auch sehen, was sie für Suppe essen?« fragte Annele. Es dünkte sie diese Schilderung lustig. Aber Huberta, die herausfühlte, daß es anders gemeint war, und die nicht gern bemitleidet werden wollte, sagte: »Die Mutter meint, Tante Linas Haus sei sehr hübsch und habe sogar eine Veranda in den Garten hinaus, wo wir im Sommer sitzen können. Und das königliche Schloß sehe man und ein Stückchen vom Theater und ganz hinten auch Berge, erzählt die Mutter.«

Auf diese schöne Beschreibung hin schwieg die Frau Schultheiß; es mochte ihr wohl auch gekommen sein, daß es nicht ganz richtig sei, die Kinder gegen dort einzunehmen, aber sie schob die Unterlippe vor, was sie immer tat, wenn sie sich zum Schweigen zwang. Sie war ja etliche Jahre in der Stadt gewesen, kannte auch die Straße und die Pension Schindler, und das konnte sie doch nicht unterdrücken, daß sie nicht noch einmal sagte: »Na ja, die Stadt ist eben nicht das Land! Jetzt eßt nur noch tüchtig, Kinderle, so gute Zimtsterne, das kann ich ohne Stolz sagen, gibt's auch nicht in der Stadt, wo man an jedem Ei und an jedem Brösele Butter spart.«

Und sie schob dabei den Kindern so viele Stücke in den Mund und noch in die Taschen, als eben hineinmochten.

Unter fröhlichem Geplauder ging die Fahrt weiter; die Kinder sollten noch einen Eindruck von der ganzen Umgegend bekommen, und Huberta sagte auch einmal übers andere, wenn sie auf der Landstraße durch ganze Reihen blühender Obstbäume fuhren, oder wenn die jungen Saaten sich weit, weit wie mit grünem Samt bedeckt hinstreckten, oder wenn's an Gehöften vorbeiging, wo die Leute alle sie kannten und grüßten: »O wie schön, wie schön! Ich glaube, so wie bei uns daheim ist's doch nirgends mehr auf der ganzen weiten Welt.«

Robi zuckte bei dem Wort daheim zusammen. Er empfand wohl vorderhand am tiefsten schon, daß das liebe, alte Heim wankte, und daß er von all dem um ihn her, und was dort war, bald nicht mehr »mein« würde sagen können.

In dem Dorf, wohin die Gesellschaft fuhr, war auch eine Schloßherrschaft, die Graf Rieneck rasch begrüßte. Junge Mädchen waren dort, aber ziemlich steife, die Huberta und Annele nur mit musternden Blicken ansahen und zu Sieghardt dann sagten: »Wer sind die?«

Als dieser antwortete: »Huberta und Anna Hagen aus dem Forsthaus, die für eine Zeitlang bei uns wohnen,« da wurden sie etwas freundlicher, und in der kurzen Zeit, in der man sich aufhielt, erzählte die Ältere, Edith, die etwa im Alter Hubertas war, daß sie seit kurzem keine Erzieherin mehr hätte, und daß Mama sie für den Herbst in eine Pension in der Stadt angemeldet habe, wo sie dann ein paar Jahre bleiben werde.

»Mit Erzieherinnen ist es doch nichts, sagt Mama. Die sind alle unausstehlich. Ob ich aber in der Pension mehr lernen werde, weiß ich auch noch nicht, denn dort gibt's wieder Erzieherinnen und Lehrerinnen, die einen plagen und quälen. Warum nur auch das dumme Lernen sein muß!«

»Lernen ist doch nett,« wagte Annele zu sagen, »und in einer Pension sei es furchtbar nett, sagt meine Mutter.« Und sie fügte noch wichtig und altklug bei: »Wir kommen auch in eine, meine Huberta und ich, zu Tante Lina Schindler.«

Da stellte es sich nun heraus, daß Edith von Wildau auch dort angemeldet war. Und da gab es nun rasch ein äußerst lebhaftes Sprechen hin und her, und es war ordentlich schade, als man so rasch schon wieder auseinander mußte.

»Hat euch diese Edith gefallen?« fragte Huberta lebhaft bei der Heimfahrt, und keines wußte eigentlich recht eine Antwort darauf. Hübsch war sie ja, sehr hübsch, aber Huberta fühlte doch ein gewisses Unbehagen, daß sie gerade mit diesem Mädchen später zusammen sein sollte. Graf Rieneck aber, der noch jung und frisch mit der Jugend fühlte, sagte: »Mach dir keine Sorgen, mein Berteli, die Wildausmädchen sind kleine verwöhnte Damen und müssen ihre Köpfe noch recht verstoßen, dann werden sie wohl noch ganz recht werden.«

»Muß jedermann seinen Kopf in der Pension verstoßen?« fragte Annele und sah ordentlich ängstlich den Grafen an. Der aber fuhr ihr geschwind mit der Hand über den blonden Scheitel und sagte lachend: »Nein, mein Annele, du ganz gewiß nicht. Dein Köpflein ist schon gerade so recht, wie's jetzt eben ist.«

»Und mein Kopf?« fragte Huberta rasch.

»Dem könnt's eher geschehen,« antwortete Graf Rieneck noch herzlicher lachend, worauf Huberta sehr rasch erwiderte: »Wenn ich gestoßen werde, dann stoße ich eben wieder.«

Beim Nachhausekommen lief Huberta schnell, schnell noch in den Stall, um nach Röteli zu sehen, das an seinem Kistchengitter auf und ab lief. Es strebte mit aller Macht heraus, und als sie's einen Augenblick los ließ, hatte sie alle Mühe, es von der Schulter wieder herab auf die Futterkiste zu bringen, wo der Stallbursche ihm einen Teller mit Essen hingestellt hatte. Darüber verging einige Zeit, und die andern setzten sich schon eben zu Tisch, als Huberta atemlos herbeikam. Schleunigst gesellte sie sich zu ihnen; aber als man saß, fühlte sie sofort den Blick von O'mama, die oben an der Tafel saß, auf sich haften, und sie wußte, es galt ihrem nicht in Ordnung gebrachten Haar, auch hatte es ja nicht mehr zum Waschen der Hände gereicht. Auf solche Dinge hielt die alte Dame streng, und nach Tisch bekam sie es auch noch zu hören.

»Ein sehr schöner Anblick sind fliegende, ungeordnete Haare bei Tisch gerade nicht, Kind,« sagte sie, »und auf das Reinigen deiner Nägel würde ich in Zukunft an deiner Stelle auch ein bißchen mehr achten.«

Beschämt sah Huberta auf ihre Hände. Diesmal fühlte sie sich wirklich schuldig, denn auch daheim mußten die Kinder ordentlich und gereinigt zu Tisch erscheinen, und sie stammelte etwas von »keine Zeit gehabt haben«.

Da meinte die O'mama aber, zu so etwas müsse man immer Zeit haben, das sei es eben. Dann aber, vor dem Bettgehen, rief sie die Kinder noch zu sich in ihr Zimmer und gab jedem ein feines Schokoladeplätzchen in Staniol gewickelt, verlangte aber dafür eine artige, regelrechte Verbeugung.

Und nun lagen die beiden Mädels in den schönen Betten. Die »Patin Charlotte«, wie sie die Gräfin nennen durften, hatte mit ihnen gebetet und sie noch sorglich zugedeckt, nachdem die Jungfer ihnen die Haare ausgebürstet und eingeflochten hatte. Jetzt waren sie allein. Beide Mädchen waren noch nirgends für länger zu Gaste gewesen, und es kam ihnen doch recht eigentümlich vor, nicht daheim, sondern in einem fremden Bette zu schlafen. Das Annele hatte sich nach seiner Gewohnheit gleich fest eingehuschelt und auf die Seite gelegt. Huberta aber lag wach und mußte immerfort denken, wie das nun wohl zu Hause sei, ob man ihre Betten schon eingepackt habe, wie das merkwürdig aussehen müsse, die lange, leere Wand, wo doch immer etwas gestanden, und ob das Mämmeli jetzt wohl auch schon zu Bett sei, oder was es jetzt noch treibe. Auf einmal war ihr gar nicht mehr so wohl und behaglich unter dem schönen, weißen Vorhang. Sie warf sich hin und her und konnte keinen Schlaf finden. Das kleine, dünne Roßhaarkissen von daheim fehlte ihr auch.

»Schläfst du, Annele?« fragte sie ein paarmal. Aber es kam keine Antwort. Die Kleine war wirklich eingeschlafen. Da endlich, nachdem ihr die dümmsten Gedanken gekommen waren, ob es heute nacht auch gewiß nicht brenne im Forsthaus, oder ob nicht Räuber kämen, oder ob das Mämmeli nicht plötzlich krank werden würde, gelangte Huberta doch zur Ruhe. Ein paar Sterne blickten so mild und still zu dem großen Bogenfenster herein – Sterne hatte man nie im Forsthaus unten gesehen. Das junge Mädchen hatte die Hände gefaltet und in den weiten Himmelsraum hinausgeblickt, und darüber waren ihr die Augen zugefallen.

Am andern Vormittag wurde tüchtig gelernt. Huberta konnte mit den Buben mitmachen. Dem Annele gab Herr Hausmann nebenher seine kleinen Aufgaben. Wolf Sieghardt durfte auf besondere Erlaubnis hin diesen Sommer noch, weil er doch schonungsbedürftig war, mit einem Hauslehrer lernen und Robi mit ihm. Im Herbst sollten beide Knaben dann in das Gymnasium in der Stadt eintreten. Daß im Sommer darauf und künftighin Sieghardt nur die Ferienwochen auf Rieneck würde zubringen dürfen, das war der O'mama jetzt schon ein großer Jammer. Zu ihrer Zeit gingen die Söhne vornehmer Familien überhaupt nicht in die Schulen, sondern hatten alle einen Hofmeister.

Daß die Mädchen in den nächsten Tagen nicht beim Packen im Forsthaus sein durften, war besonders Huberta schrecklich, sie griff schon recht gerne im Haushalt an. Einmal kam Jörg, der im Dorf zu tun hatte, und berichtete, die Möbelwagen seien schon gepackt; sie hätten alle rechtschaffen gearbeitet, und die Frau Forstmeister lasse der Frau Gräfin sagen, sie möchte erlauben, daß die Kinder am nächsten Tag noch hinunterkommen dürften. Den Morgen darauf, zu früher Stunde, werde dann fortgefahren. Die beiden Teckel, die mitgekommen waren, zerrissen die Kinder fast vor Wiedersehensglück.

Jörg ging wieder mit dem Bescheid, daß die gräflichen Herrschaften die Kinder selber noch bringen würden, um Lebewohl zu sagen. Den Hunden fiel das Fortgehen schwer, und Männe blieb immer wieder stehen, nicht begreifend, daß die Kinder nicht folgten; diese liefen deshalb noch ein gutes Stück mit.

Robi lernte in diesen zwei Tagen gründlich schlecht. Seine Gedanken waren so zerflattert und oft so kummervoll, daß er sie gar nicht zusammenbringen konnte. Herr Hausmann aber schalt ihn nicht, konnte er sich doch so gut in Kinderherzen hineindenken.

Und dann kam der Nachmittag, wo es zum letztenmal »hinunter« ging. Unter dem Hinunter hatte auch Sieghardt seit Jahren nichts anderes verstanden, als ins Forsthaus gehen, und es war ihm bis jetzt noch gar nicht klar geworden, daß das künftig anders sein werde.

Wie immer, wenn Menschen sich näherten, zeigte das laute Gebell von Madame und Männe sie an. Frau Hilde und die Großmutter kamen schleunigst aus dem Hause durch den Garten den Kommenden entgegen, und die Hunde überpurzelten sich

Ach aber, wie so anders sah es jetzt schon hier aus! Auf dem Kiesplatz vor der Haustüre stand ein kastenartiger Wagen, bereits geschlossen für die morgige Fahrt. Hinten im Hof war ein noch viel größerer, in den Jörg und ein paar fremde Männer eben noch Möbel einluden.

»Sieh nur, unser rotes Plüschsofa!« – »Ach, Vaters Schreibtisch!« – »Und dort meine Puppenstube, und da mein altes Wiegenpferd!« riefen die Kinder durcheinander, nachdem sie das Mämmeli und die Großmutter innigst begrüßt hatten.

»Wird dem allen auch nichts geschehen? Wo ist denn meine Küche und unser Puppentheater?« fragte Huberta.

Da meinte einer der Männer sorglos: »Das steht alles fein gut gepackt da drin, Fräulein, da brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Wir bringen's sicher und unzerbrochen dahin, wo das, was in diesem Wagen hier ist, verkauft werden soll.«

»Verkauft? Mämmeli, verkauft? Ja, was soll denn das heißen?« riefen alle drei Kinder in größter Bestürzung und sahen die Mutter an. Diese aber setzte ihnen in schonendster Weise auseinander, daß es ja doch ganz unmöglich sei, fürder bei Tante Lina in zwei engen Stuben das unterzubringen, was in dem großen Forsthause herumgestanden, und daß man deshalb, wenn auch mit schwerem Herzen, sich von vielem trennen müsse, auch von den Sachen, die in Vaters Zimmer gewesen, und von einem Teil der Spielsachen.

»Mutter, das wäre einfach schrecklich!« ... »Mutter, du wirst doch nicht!« ... »Mutter, aber gelt, doch nicht die Puppenstube und die Küche!« riefen Huberta und Annele fast weinend. Als aber die Erwachsenen sich alle zusammen in die Laube, wo allein noch Bänke und Tische waren, setzten und sehr bestimmt und sehr ernst den Kindern erklärten, das müsse eben sein, da wurde zuerst der Jammer noch viel größer, dann aber, nach und nach, als sie sahen, daß da einfach nichts mehr zu machen sei, trat eine Stille ein, und zum erstenmal wohl in ihrem Leben fühlten die Kinder: Es gibt Veränderungen, wo man einfach nichts machen kann, in die man sich zu fügen hat.

Ja, zu fügen. Aber wie tut man das? Gleich die erste Probe fiel herzlich schlecht aus. Huberta fielen die Tiere ein, und sie machte den andern ein Zeichen, daß sie nach ihnen sehen wollten. Aber welch jämmerlicher Eindruck, als die Kinder in den Stall eintraten und die kleine Abteilung für das Reh und für die Hasen leer fanden und vor allem den Stand, den der Braune innegehabt! Jörg kam gleich hinter ihnen drein und sagte mit bedrückter Stimme: »O Kinderle, da sucht ihr vergebens! Heute früh hat der Schwanenwirt mein Bräunle geholt; gottlob, daß es wenigstens nicht zu einem Metzger kommt, sondern zu einem ordentlichen Herrn, und daß der mir versprochen hat, es gut zu halten! Freilich, so wie bei uns kriegt's der Gaul nimmer. Die Hasen und das Reh hat er auch mit sich genommen für seine Kinder, das müsse noch dreingehen, meinte er, und ich habe nicht viel drauf sagen können. Bei so einem Handel laufen oft kleine Dinge mit drein. Und 's ist ja auch wieder gut, wenn der Stall ganz geleert ist, bis der neue Herr Forstmeister kommt, der zwei junge Pferde mitbringt und keine Kinder hat.«

Der Stall ganz leer! Nur in einer Ecke noch das Lager von den zwei Teckeln. Da, wo so viel Liebes, Pflegebedürftiges, Freudebringendes immer gewesen, leer und öde, und so auch die Zimmer und das ganze Haus! Wie in einem Bann liefen die Kinder noch von einer Stätte zur andern – weinen tat keines, denn es war zu überwältigend und verblüffend. Als sie aber wieder zur Laube zurückkamen, als den Herrschaften vom Schloß bald darauf der Wagen gemeldet wurde, und als die Mutter so tief und ernst sagte: »Bitte, nur einen Augenblick noch!« und die Kinder dann bei der Hand nahm und sie zum letztenmal in Vaters Stube führte, die Hände faltete und sagte: »Schaut euch noch einmal recht um und prägt euch alles recht ein, – und jetzt helfe der liebe Gott weiter!« da brach ein grenzenloser Jammer bei den Kindern los, und sie hängten und klammerten sich an die Mutter. Diese sagte, daß sie nun alle vernünftig und gescheit sein wollten, daß die Trennung von ihr ja nur kurz daure, und dann müßte eben, in Gottes Namen, das neue Leben begonnen werden.

Im Wagen noch schluchzten und weinten die Kinder herzbrechend, besonders Robi, für den dieses Losreißen eine wirkliche Trennung von Mutter und Geschwistern bedeutete. Das Mämmeli aber – neben ihm die Hunde, die auch merkten, daß alles anders war, – stand und blickte trockenen Auges nach so lange, als es die Kutsche sehen konnte, dann ging es ins Haus. Und bald darauf fuhr ein anderer Wagen vor, der die Großmutter und sie an die Bahn bringen sollte, – auch ins neue Leben.

Patin Charlotte hatte an diesem Abend einen schweren Stand mit den dreien, das heißt hauptsächlich mit den zwei Mädchen, denn Robi hatte sich nach dem tiefen Ausbruch seines Schmerzes männlich gefaßt, und man merkte ihm wenig mehr an, was in ihm vorging. Das Annele klammerte sich, als die Patin noch abends mit ihnen sprach, fest an deren Hals und weinte sich noch einmal recht aus, konnte sich dann aber doch bald beruhigen und seine Puppenkinder zur Ruhe bringen. Anders war es bei Huberta. Lebhaft und voll Einbildungskraft, wie sie war, stand auf einmal die ganze Zukunft vor ihr. Scheiden und Meiden krampfte dem Kinde das Herz zusammen, und noch einmal durchlebte es auch Krankheit und Fortgehen des Vaters. Und wie schrecklich, daß das Mämmeli nun ganz allein war und keines bei ihr sein konnte, wo doch auch die Großmama in den nächsten Tagen schon von ihr ging!

»Patin Charlotte, ach bitte, bitte, warum muß das alles so sein? ... Warum haben wir nicht alle beisammen bleiben dürfen, wo doch alles so schön war? ... Warum müssen die Menschen krank sein und sterben? ...« Des Kindes Hand bebte in der der Gräfin, die an ihrem Bette saß, und angstvoll fragend blickten die Augen. Da legte diese liebevoll und fest ihren Arm um das junge Mädchen und sagte: »Warum das so ist, das kann ich dir auch nicht sagen, das wissen wir Erwachsenen ebensowenig, denn der liebe Gott hat es für richtig befunden, uns über solche Dinge auf dieser Erde noch keine Antwort zu geben. Du weißt doch, Bertele, und bist jetzt alt genug, es zu verstehen, daß auch Eltern manchmal ihren Kindern schon die Gründe nicht sagen können, warum sie ihnen etwas verweigern oder nehmen. Aber oft, in kurzer Zeit schon, kommt's ihnen, – ach darum war's? Deshalb ist's geschehen? ... Und genau so ist's auch mit unserm himmlischen Vater, dessen Liebe noch weit größer ist.«

»Aber wir haben eben Vater nimmer!« fing Huberta von neuem an, doch etwas weniger leidenschaftlich. Da gab ihr die Gräfin nur noch einen Kuß auf die Stirn und sagte liebevoll bestimmt: »Haben tust du ihn immer noch, nur in anderer Weise. Und jetzt schlaf einmal, Bertele, über das weitere können wir ja dann morgen reden!« Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer.


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