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11

Was der Lenz schon seit jener Zeit geahnt, da die erste Kunde des Aufruhrs in den Wald gedrungen, ist eingetroffen: Die freien Gerichte des Königlichen Waldes, Hwozd genannt, sind gefallen samt allen Sonderrechten.

Schier den Atem fängt es ihm, als der Oberrichterbote den Zettel bringt. »Es kann nicht sein … es kann nicht sein«, zweifelt er in einem. »Wir haben die Gnadenbriefe mit den kaiserlichen Unterschriften. Und gerad so gut, wie ein anderer das halten muss, was er unterschreibt, gerad so gut muss das gehalten werden. Es kann nicht sein.«

»Es ist doch so, schaut nur gerad nach und leset Euch die Schrift durch!« behauptet der Bote. »Wenn Ihr neunmal sagt, es kann nicht sein, und wenn es alle sagen bis zum letzten Schnaufer, es steht darin, und es ist so.«

Und er liest; aber in währendem Lesen fällt ihm der Zettel aus der Hand und flattert zur Erde. Eine Zeitlang sitzt er regungslos zurückgelehnt im Armstuhle und stiert zum Fenster hinaus. Es ist so. Schwarz auf weiß steht es auf dem Papier: Durch das Staatsgrundgesetz sind die Freiheiten und Rechte des Königlichen Waldes hinfällig geworden. Alle sind von nun an gleich, haben das gleiche Recht und die gleiche Pflicht; nur der Adel behält seine Sonder- und Vorrechte.

In seiner Brust beginnt es zu kochen und zu rumoren, sein Atem geht stoßweise und pustend, und die Finger krampfen sich zusammen, dass die Gelenke knacken. So sitzt er noch, als der Bote schon längst auf und davon ist. So trifft ihn auch Philomene, als sie in die Stube kommt.

»Lenz! Um Gottes willen! Was hast denn? Was gibt's denn? Was ist dir denn geschehen?« stößt sie in einem Atem heraus und rüttelt ihn aus seinem Dahinbrüten auf. »So red gerad, was dir ist!«

Er reckt sich langsam in die Höhe und sieht sie traurig an, dass ihr die Tränen in die Augen stürzen. »Philomene, auch mit dem ist's aus. Es gibt keinen Waldhwozd und keine Freigerichte mehr … Es ist gerad, wie wenn ein böser Geist all das vernichten täte, was ich gern hab und was mir am Herzen liegt.«

Sie findet keine Antwort darauf, kein Wort des Trostes. Schluchzend setzt sie sich auf die Bank und wischt sich mit der grobleinenen Schürze die Tränen aus den Augen. Erst als sie sieht, dass er nach dem Hute langt und fortgehen will, fragt sie: »Wo willst denn hin, Lenz?«

»Gerd nur zum Gereuter. Ich muss reden mit ihm über die Sach. Gerad so mit einem Stückl Papier löscht man ein Recht nicht aus, das an die achthundert Jahr bestanden hat. Es muss was geschehen dawider.«

Sie sieht ihm nach, wie er über den Anger hinübergeht, müde und mutlos wie ein um dreißig Jahre älterer. Die paar Wochen haben ihm mehr getan, denn eine Krankheit. Und sie muss zusehen, kann nicht raten und nicht helfen. Er ist wohl wie sonst in der letzten Zeit, er lässt sich nichts anmerken; aber sie wähnt oft zu hören, wie der Kummer frisst und nagt an seinem Herzen wie der Holzwurm im harten Buchenholze. Keine Klage ist noch über seine Lippen gekommen, kein Wörtchen; nicht einmal als er selbes Mal heimgekommen aus dem Seehäusel hat er keine Silbe mehr verloren, als er zu einer knappen Erzählung des Vorfalles gebraucht. Nur das hat er ihr nachher eingestanden, dass er seine mitgenommenen Werkzeuge und Flaschen an einem Steinhaufen zerschellt. Sie hat es so beiläufig geahnt, warum er dies getan; aber sie hat es jederzeit sorglich vermieden, die wunde Stelle zu berühren. Sie soll verheilen nach und nach.

Sie hat auch dem Hannes angeraten, bis zu gelegenerer Zeit nicht auf die Hochzeit zu drängen. Sie wären einander gewiss, es habe keine solche Eile, und dem Bruder fiele es gewiss schwer.

»Ich kann mir's so beiläufig denken, wie ihm ist«, hat der gesagt. »Wenn der Herrgott dich weggerissen hätt von mir, ich wüsst nicht, was ich anfangen sollt auf der Welt. Wie wenn die Sonn weggerissen wär vom Himmel, gerad so müsst das sein.«

Der Lenz hat es mit keinem Wörtel erfahren, weshalb Ostern vorübergegangen und noch keine Anstalten zur Hochzeit gemacht worden sind. Er hat sich auch weiter den Kopf nicht zerbrochen darüber und auch nicht gefragt. Seine Sache war es nicht …

Wie er so über die Fluren dahin wandelt, wird ihm leichter, und in seinem Kopfe wird es ruhiger. Es ist gerade nur so eine Aufregung gewesen. Was das sein muss, dass er in letzter Zeit so leicht erregbar ist, wo er doch früher allweil so ruhig und besonnen gewesen?

Der Gereuter sitzt vor der Schupfe und dengelt ein Pflugsech aus. Was er selbst zuwege bringt, damit geht er zu keinem Handwerker; so hat er es schon im Gebrauche. Neugierig aufschauend hält er inne, als er den Richter auf sich zukommen sieht.

»Nun, was bringst denn Schönes?« fragt er wie üblich.

»Schönes?« lächelt der Lenz gezwungen. »Ich weiß nicht, ob es dir schön vorkommt. Die Freigerichte haben sich aufgehört.«

Der Gereuter fährt mit einem Satze auf und stellt sich vor den Lenz hin, als wollte er den dafür verantwortlich machen. »Aufgehört, sagst? Die Gerichte hätten sich aufgehört? Es gäb also kein Recht und keine Gerechtigkeit nimmer? … Höllsakra! Aus dem wird nichts, sag' ich dir … nichts. Wir haben das Privileg schwarz auf weiß, und alle Kaiser haben's unterschrieben. Den möchte ich kennen, der die Gerechtsame umwirft.«

»Aber es ist so«, behauptet der Lenz. »Da, lies nur gerad!« Er reicht ihm den Zettel hin, den ihm der Oberrichter geschickt.

»Und wenn's zehnmal draufsteht, nichts gilt's, sag ich dir«, beharrt der Gereuter. »Wer gilt mehr, der Kreishauptmann oder der Kaiser?«

»Es wird nichts nützen …«

Der leicht aufbrausende Mann packt ihn an der Schulter und reißt und stößt ihn. »Bist du auch so einer?« keucht er. »So einer … so einer wie der Oberrichter und die … die anderen? Ins Gesicht spuck ich dir, wie d' mir noch ein solches Wort sagst … Dich hätt ich am aller wenigsten darum angeschaut, dich nicht. Ein Haus hätt ich bauen mögen auf dich …«

»Was redest denn zusammen, Wastl?« verwahrt sich der Lenz. »Ich bin allweil der Alte, und ich denk heut kein bissel anders als gestern oder vorgestern … Aber mach's anders!«

Der Gereuter lässt ihn los. »Lenz!« jubelt er schier auf. »Lenz, wenn d' noch so bist wie von eh, nichts können sie uns anhaben, nichts, gar nichts … Geh herein in die Stube und lass dir sagen!« Er fasst ihn am Hemdärmel und zieht ihn die Gred hinein.

»Wir müssen einen Aufruhr machen«, schlägt er nachher vor.

Der Lenz schüttelt zweifelnd den Kopf. »Wie viel sind, die mittun?«

»Genug, genug«, versichert der Gereuter. »Höllsakra, zwanzig fürcht ich noch nicht. Und wenn's ums alte Recht geht, Lenz, ein jeder wird sich so denken.«

»Hast schon gehört, was sie im Auswärts gesagt haben. Sonst schlagen sie einer dem anderen die Hirnschalen ein, wenn sie der Ärger anpackt, aber wo es sich um eine große, ernste Sach' handelt, da zagt jeder … Ich hab in währendem Heraufgehen so gesonnen: Wenn wir, die gesamten neun Gerichte, eine Schrift aufsetzen täten und wenn ein paar Männer damit selbst nach Prag gingen zur Landtafel und unser Recht, unser verbrieftes, geltend machen täten, eh wir …«

»Zagst du leicht ab?« spöttelte der Gereuter.

»Ich?« lacht der Lenz trocken auf. »Auf der Stell … Aber was red ich denn? Auf mich könnt ihr euch alle verlassen, zu jeder Stund. Mir ist schon so: heut lieber denn morgen. Mich hält nichts; aber eine Aussicht müsst sein, weißt, der ganze Wald müsst wie ein Mann stehen, und das bringst derweil nicht zuwege.«

»Bring ich, bring ich«, behauptet der Gereuter hastig. »Sel überlass nur mir. In vierzehn Tagen steht alles in Bereitschaft.«

»Und ich werd in der Zeit von wegen der Abordnung an die Landtafel das Meine tun.« Aber mitten in der Rede fängt er an mit dem Kopfe zu schütteln. »Gereuter«, hebt er sorgsam und bedächtig an. »Tu du keinen Schritt nicht, es ist alles umsonst. Gerad fällt es mir ein: Zur selben Zeit wär es recht gewesen, wie ich gemeint hab, wo der Aufruhr noch an allen Orten und Enden gewesen ist, jetzt ist's zu spät. Alles hat sich gelegt, und wir allein können nichts erzwecken.«

Der Gereuter lässt ihn hart an ob der Abmahnung, und sie trennen sich das erste Mal als Uneinige.

Des anderen Tages macht sich der Lenz auf den Weg zum Oberrichter. Dem erzählt er sein Vorhaben und findet ein williges Ohr. Was sich der denkt, kann er freilich nicht erraten, aber ein Hoffnungsschimmer leuchtet in sein Herz, als er seine Mithilfe zusagt. Es kann am Ende noch alles gut werden. Wenn man den anderen allen auch diejenigen Freiheiten zuerkennt, die der Königliche Wald seit jeher hat, so kann sie das nur freuen, aber an ihrer Gerechtsame darf man nicht rütteln. Die Freigerichte dürfen nicht hinfällig werden und müssen zu ewigen Zeiten ein Ganzes bilden unter einem selbstgewählten Oberrichter. Das ist's, woran sie sich zumeist zu klammern haben. Und darüber haben sie ein Kaiserwort als Pfand.

Der Lenz will weiter gehen, von einem Gericht zum anderen, aber der Oberrichter widerrät es ihm. »Den Weg machst umsonst«, meint er. »Ich werd die Sache in die Hand nehmen, und da hat sie viel mehr Gesicht. Ich lass die Schrift aufsetzen, schick sie in jedes Gericht, dass sie alle unterschreiben können, und wer sie nachher überbringen soll, der kann gewählt werden. Jeder kann wählen, zu wem er Vertrauen hat.«

»Ich dank Euch, Oberrichter!« sagt der Lenz und atmet auf, wie wenn sich ein ungeheurer Felsblock von seiner Brust wälzte. »Und lasst Euch keine Müh und keine Zeit gereuen! Es trifft uns alle.«

»Hab keine Sorg, Hüttenbauer!« tröstet der. »Was in meiner Gewalt steht, sel wird alles geschehen, alles.«

Dem Lenz ist so leicht und so wohl zu Mute, als er die Höhe hinan steigt, wie schon lange nimmer. Der Oberrichter ist dafür, und wenn alles so geht, kann noch nichts verloren sein. Über Kaiserworte kann auch die Prager Landtafel nicht hinaus. Aber als er schon gegen Abend seinem Hofe zuschreitet, geht ihn wieder das Zweifeln und Zagen an, und der Hoffnungsschimmer verblasst wie der letzte Schein am Abendhimmel.

Die Schrift ist aufgesetzt und schier von allen Insassen der neun Gerichte des Königlichen Waldes unterschrieben, nichts desto weniger aber kommt überlings eine amtliche Verfügung aus Pisek, dass bis zur endgültigen Einleitung ins neue Geleise die Leitung der einzelnen Gemeinden aus den Händen der bisherigen Richter zu nehmen und »provisorischen« Vorstehern zu übertragen sei.

Als solcher ist der Wolferl genannt.

Der Lenz zuckt mit keiner Wimper, als er die Schrift liest; ruhig legt er den Zettel auf den Tisch und greift nach den Wadenstiefeln. »Bis zum Abend bin ich noch Richter, nachher ist's gar«, sagt er gelassen.

Philomene springt auf. »Lenz! Han, was hast denn, dass d' auf einmal gar so … so spaßig daherredest? Lenz, Bruder! Was hast denn im Sinn?«

»Im Sinn?« lacht er hart auf. »Im Sinn hab ich allerhand. Aber dass ich spaßig reden tät? Ich wüsst nicht. Da drinnen steht's im Zettel! Mit den Richtern ist's aus und Amen; der Wolferl ist provisorischer Vorsteher. Die Freigerichte sind begraben.«

Die Dirn starrt ihn verständnislos an. Nachher nimmt sie den Zettel und liest. Mit einem tiefen Seufzer legt sie ihn wieder auf den Tisch. »Und wo willst jetzt hin?«

»Zum Wolferl. Ich muss ihm von der Sach' doch sagen.«

»Lenz! Aber ich bitt dich, kränk dich nicht ab derentwegen! Was geht dich die ganze Geschichte an? Wenn ein Unheil erwächst daraus, die anderen trifft es gerad so gut. Was sollst du dich so abstrubeln? Hast ja schon Kummer genug.« Überlings hat es ihr die Rede herausgerissen; sie kann die Worte nimmer einfangen und zurückjagen in ihre Brust. »Lenz, ich hab's nicht so gemeint«, will sie begütigen.

»Gar kein Darandenken. Getan hab ich es ehzeit; jetzt nimmer. Halt ein Ross auf, was in geschrecktem Renn ist und gegen einen Absturz will! Ich hab's allweil geahnt, was kommt, und richtig ist's beim Ziel. Aus ist der Tanz! Was auf der Welt ist, nimmt alles einmal ein End, früher oder später, auch die Freigerichte. Ja, wenn wir lauter Adelige wären, nachher blieb es beim Alten; aber wir sind gottlob gerad gemeine Bauern. Aber es wird auch noch einmal eine Zeit kommen, wo die Vorrechte dieser Leut fallen, wie heut unsere Gerichte gefallen sind … Merk nur auf! Überlings wird's kommen … Dass ich mich kränken sollt deswegen? Nimmer! Keinen Schritt tu ich mehr dafür; es wär schad um alle Müh. Und Kummer, Philomene? Kummer hab ich keinen. Aber weil wir schon gerad bei der Red sind, es ist das erste Mal, wo das zwischen uns zur Sprach kommt, ich sag dir's, wie mir ist. Gerad wie einem einschichtigen Baum im Wald, wenn der Wettersturm alle anderen um ihn her abbrochen und hingeworfen hat auf die Erde, und er steht nur gerad mehr allein da. So ist mir.«

Sie streicht ihm begütigend über die raue Wange. »Lenz! Du musst dir andere Gedanken machen. Auf die Weis' kommst an kein End. Wenn die Zeit über ist, wenn eine andere Sonn scheint an einem anderen Tag, nachher … Und anders machen kannst es nimmer, der Herrgott hat's so geschickt.«

Er schüttelt den Kopf und geht. Geflissentlich macht er einen Umweg über den Gereuterhof. Er hat dort was zu besorgen.

»Wie steht's?« fragt der Gereuter hastig, als er seiner ansichtig geworden.

»Aus ist's. Da lies! Gerad geh ich zum Wolferl und überbring ihm die Botschaft.«

Der Gereuter fährt in der Stube auf und ab wie ein Wilder. Alle Flüche, die ihm einfallen, würgt er heraus, und so tobt er, bis er müde und matt auf einen Stuhl niedersinkt.

Der Lenz ist während dem gegangen. Er fühlt sogar einen Abscheu vor seinem besten Freunde. Was nützt das Toben und Fluchen?

Im Hofe trifft er den Hannes, der gerade das Pferd an den Pflug spannt. »Was ist's denn mit der Heirat?« fragt er ihn. »Oder habt Ihr es nimmer im Vorhaben?«

Der Bursche sieht ihn groß an. Was ihn die Philomene gebeten, will er nicht sagen, und eine Lüge bringt er nicht aus dem Munde. Endlich stottert er verlegen heraus: »Die Philomene hat gemeint … weißt, wir kunnten … Du kunntest sie als Hauserin nicht entraten.«

»Wenn ihr wollt, nachher schaut dazu!« rät ihm der Lenz. »Wenn du Zeit hast, könnt ihr meinetwegen heut Nachmittag auf die Lehr gehen zum Pfarrer. Die nächste Wochen fällt ein Feiertag, und da kunnt schon am Montag in acht Tagen Hochzeit sein. Aber weißt: Stad, ganz stad. Ich mag keine Lustbarkeit nicht.«

»Dass es dein Ernst ist?« wundert sich der Hannes.

»Ja, was fragst denn noch eine Weile? Wenn du willst, nachher richt dich. Ich werd nicht lang über Mittag ausbleiben.«

Langsam geht er die Hänge hinüber gegen den Wolferlhof. Seine Gedanken aber wandeln andere Wege. Er hat einige Nächte so gesonnen: Was soll er anfangen ohne Lust und ohne Freud, ohne Ziel und Hoffen? Was er geliebt, sein Glück hat ihm die unerbittliche Hand des Todes entrissen, wofür er sich begeistert, das ist gefallen. Was hat er noch zu hoffen? Und ein Mensch, der nichts mehr zu ersehnen hat und zu erhoffen, der gehört nimmer in das Getriebe der Welt.

Beim Wolferl sitzen sie gerade beim Mittagessen, alle, Bauernleut, Kinder und Ehehalten, um den großen Ecktisch herum, nur der Leibtümer verzehrt hinten auf der Ofenbank sein bissel Essen, das sie ihm vorgestellt.

»Ja, was ist denn das, Ähnl?« wundert sich der Lenz. »Was geht Ihr denn nicht auch zur Herde hin?«

Der schüttelt den Kopf. »Ich gehöre nicht hin«, sagt er mit tonloser Stimme. »Mein Vater hat auch da gesessen … und leicht bin ich auch nicht der Letzte, der da isst«, setzt er nach einer kleinen Pause hinzu.

Dem Lenz läuft es eiskalt über den Rücken bei den Worten des Alten. Hinter jedem der Worte wähnt er die strafende Hand Gottes zu erblicken. So ein Leben muss der Hölle wenig nachstehen.

Der Wolferl kommt ihm mit seinem süßesten Lächeln entgegen. »Frei ein Ereignis, dass du einmal zu uns kommst«, heuchelt er. »Ich werd es wirklich müssen in den Kalender schreiben zum ewigen Gedächtnis.«

»Den Tag schreib dir ein!« rät der Lenz. »Er ist es wert, dass eins nicht vergisst darauf.«

»No, no! Wird wohl nicht so aus sein … Aber geh doch weiter, und setz dich derweil nieder, bis wir gessen haben, oder noch besser, setz dich her und iss mit. Ist dir vergunnt, wenn's dir schmeckt.«

»Ich dank schön«, lehnt der Lenz ab und setzt sich abseits des Tisches auf einen Schragen.

Der Wolferl isst weiter, aber ein süßliches Lächeln, in das sich Schadenfreude und ein bissel Spott gemischt, umspielt allweil seinen Mund. Er weiß, weshalb der Hüttenbauer zu ihm gekommen, er weiß es, dass von morgen ab er der Erste ist im ganzen Gericht oder in der ganzen Gemein, wie es von jetzt ab heißen wird. Der Oberrichter ist gestern selbst bei ihm gewesen und hat ihm davon gesagt. So nebenbei natürlich, der Zweck seines Besuches ist der gewesen, dass er, der Wolferl, sich zur Reise nach Prag rüsten solle. Er und noch zwei andere aus den übrigen Gerichten seien ausersehen, die Schrift bei der Landtafel einzubringen und dort auf Grund der kaiserlichen Gnadenbriefe die alte Gerechtsame zu fordern. Die Botschaft ist ihm schon lieber gewesen denn ein Hunderter. Der Zahltag ist gekommen. Er hat sich ausgekannt an dem Oberrichter; o, so schlau, wie der ist, so schlau ist der Wolferl auch. Er, der Oberrichter, spreizt sich nicht gar so sehr gegen die neuen Einrichtungen, aber das Gebiet des königlichen Waldes, Hwozd genannt, soll beisammen bleiben unter einem selbstgewählten Oberhaupte, wie es in einem der Gnadenbriefe heißt, und wenn auch dieses Oberhaupt den Charakter eines kaiserlichen Beamten annehmen müsste. Wie schlau und fein! Also kaiserlicher Beamter will der Herr Joachimsthaler werden. Nicht schlecht, gar nicht so schlecht. Aber in dem Punkte denkt der Wolferl anders als der Oberrichter, und wenn er nur einmal in Prag ist bei den Herren, er redet schon, gewiss redet er, aber nach seiner Meinung.

»Also jetzt setz dich her an den Tisch und lass uns reden mitsammen!« redet er dem Lenz zu, als die Großdirn das Geschirr vom Tische nimmt und das Tischtuch zusammenrafft.

»Es ist kurz gesagt«, meint der Lenz. »Ich hab dir nur gerad den Zettel zu bringen. Es steht alles darinnen. Mit dem heutigen Tag hören sich die Richter auf in unserem königlichen Wald, und von morgen ab bist du provisorischer Vorsteher in unserem Gericht. Kannst dir um die Gemeintruhe hinunterschicken zu mir, wann du willst, heut oder morgen.«

»Was d' nicht sagst?« wundert sich der Wolferl zum Scheine. »Also die Gerichte hätten sich wirklich aufgehört? Sakra! Ich kann's frei nicht recht glauben … es will mir nicht recht in den Sinn.« Er nimmt den Zettel und liest. »Es wird doch so sein, wie du sagst«, gibt er nachher zu. »Was wohl daraus werden wird?«

»Was weiß ich?« schupft der Lenz die Schultern und richtet sich zum Gehen. »Meinetwegen wird daraus, was will; mich geht's nichts mehr an.«

»So gehört sich's … so gehört sich's!« lacht ihm der Wolferl höhnisch nach, als er über die Gred hinausstapft. »Die Zeiten wenden sich wie das Blatt am Baum. Behüt dich Gott, Herr gestrenger Richter. Die Zahlzeit kommt …«

Als der Lenz in die Stube seines Hofes tritt, ist der Hannes schon dort, sein bestes Gewand auf dem Leibe.

»Die Philomene will es nicht glauben, dass du mir's geschafft hast«, wendet er sich an den zukünftigen Schwager.

»Richt dich nur zusammen, Schwester!« mahnt sie der. »Ich geh auch mit zum Pfarrer.«

»Und was willst denn du anfangen?« stellt Philomene vor.

»Sorg dich nicht um mich!« tröstet er sie. »Ich bin ja doch kein Schulbub mehr, dass ich nicht wüsst, was ich tu.«

Sie gehen mitsammen zu Tale, der Kirche zu. Der Pfarrer arbeitet gerade im kleinen Hausgärtlein, als sie ankommen. Er legt das Werkzeug weg und geht ihnen entgegen. »Mir scheint, ich riech eine Hochzeit«, versucht er zu scherzen, aber das Lächeln, das dabei um seinen Mund spielt, ist durchaus erzwungen.

»Wohl«, bejaht der Lenz. »Meine Schwester und des Gereuters Ältester wollen Hochzeit machen. Wenn Ihr Zeit hättet zur Lehre.«

Der Pfarre winkt den beiden. »Ihr könnt derweil ins Wirtshaus gehen, Richter«, rät er dem. »Dabei zu tun habt Ihr nichts; ich komme nachher auch hin auf eine Halbe.«

»Ich wart da heraußen«, lehnt der ab. »Wenn Ihr fertig seid mit den beiden, möchte ich auch ein paar Wörtlein reden mit Euch.«

»Gut, gut! Also wartet!«

Die Lehre dauert nicht gar zu lange. Freudestrahlenden Gesichtes kommen die beiden durch die Türe. »Wenn du auch eine mitgenommen hättest, ging es unter einem«, scherzt der Hannes aus purem Übermut. »Die lästige Stund ist vorüber.«

»Wird schon wie werden«, gibt der Lenz darauf. »Im Wirtshaus unten wartet halt auf uns.« Nachher geht er in des Pfarrers Stube.

»Also, was wollt Ihr?« fragt der Pfarrer.

»Hochwürden, ich möchte gerad nur einen Rat, sonst nichts … Ging es nicht, dass ich in ein Kloster kommen kunnt, und kunntet Ihr mir nicht dazu helfen?«

Der Pfarrer starrt ihn mit weit aufgerissenen Augen verwundert an. – »Richter! Was fällt Euch ein? Das kann doch nicht Euer Ernst sein.«

»Wohl, Herr Pfarrer. Es ist mein Ernst, und ich hab an der Sache nicht gerad erst eine halbe Stund gesonnen. Ich kann nicht vergessen, es ist unmöglich. Ich hab's versucht, denselben Tag hinauszumerzen aus meinem Sinn, ich hab mich für unser Recht eingesetzt, so viel ich hab können; ich kann nicht vergessen, und die Gerichte, unser Recht und das Kaiserwort sind gefallen.«

Der Pfarrer saugt an seiner Pfeife, was seine Lungen vermögen. Die Rede des jungen Bauern ist so lückenhaft wie möglich und entbehrt der klaren Folge, aber er wähnt zwischen den einzelnen Worten all das zu hören, was in dem Herzen dieses Mannes vorgegangen sein muss während der Zeit und was zur klaren Folge notwendig ist.

»Was soll ich unter den Leuten?« nimmt der Lenz wieder das Wort. Er hat des Pfarrers Schweigen falsch gedeutet. »Auf der einen Seite ist Hass und Schlechtigkeit und auf der anderen ein Glück, das für mich nimmer blühet. Ich steh in der Mitte drinn und kann nicht vor und nicht zurück. Was soll aus dem schönen Hüttenhof werden, wenn er niemals eine Bäuerin bekommt. Und heiraten nach dem … Hochwürden, sel bring ich nicht über mein Herz. Ich kann die Sepherl nicht vergessen, und … Gerad nur noch ein stilles Platzl will ich auf der Welt, wo ich leben kann, wie einer, der … nichts mehr zu hoffen hat als die Ewigkeit.

*

Am Morgen steigt sie Sonne über die langgestreckten, dunklen Bergrücken empor, und am Abendhimmel verglimmt das letzte Morgenrot im zerrissenen und zerfransten Nebelgewölbe. Ein schneidiger Westwind jagt die Wolkentrümmer am lichtblauen Himmel dahin über die Gehänge und Gefilde, und ihre Schatten huschen gespensterhaft über das Gelände. Aus dem Bergwalde steigen die Dünste gleich Rauchwolken empor und aus den Waldesschluchten; bald ist eine Kuppe oder ein ganzer Bergzug ganz in Nebel gehüllt, und einige Augenblicke darauf schleifen die Schwaden über die Baumwipfel dahin. Im taufeuchten Rasen flammt und strahlt es, als hätten die dienstfertigen Geister der Nacht an jedes Hälmlein ein Demantkorn gehangen von edelstem Feuer; im Gehecke der Flur und im Gezweige des Hochwaldes fangen die Vögel an zu pfeifen und zu schwegeln, und von den zerstreut im Gelände umherliegenden Gehöften verklingen die letzten Weckrufe der Hahnen. Es sind ohnehin nur mehr gegenseitige Morgengrüße, denn um diese Zeit ist im Walde kein Mensch mehr in den Federn.

Der Lenz, der Bauer im Hüttenhofe, tritt gar schon in halbem Sonntagsstaate auf die Gred. Die blütenweißen Hemdärmel flattern im Morgenwinde, und das wallende Haar, durch das die letzten Wochen manchen Silberfaden gewoben, stiebt wirr durcheinander wie die Nebelstreifen in den Gehängen. Von der Gred geht er auf den Anger hinaus, sieht sich eine Weile nach allen Windrichtungen um, und als er wieder zurückgeht zum Hofe, nickt er einige Male wie zustimmend vor sich hin. Als er über die Gred hineingeht, tritt der Hannes in die Haustüre. Er ist schon seit der Hochzeit im Hüttenhofe und schafft rüstig. Der Lenz hat es so angeordnet.

»Wird's schön heut?« fragt er.

»Ich mein, es kunnt sich ausheitern und bis gegen Mittag der schönste Tag werden«, mutmaßt der Lenz.

»Und wo willst denn hin heut? Leicht auf die Seewies'?«

»Weiter«, gibt der Lenz zur Antwort, und es fragt auch der Hannes nimmer. Wenn er es hätte sagen wollen, hätte er es gleich gesagt.

Der Lenz geht auf den Dachboden hinauf und bindet sich ein Bündel Wäsche zusammen. Heute macht er sich auf den Weg nach dem viele Stunden entfernten Kloster, und die Wäsche nimmt er mit.

Vor einigen Tagen hat der Pfarrer Nachricht erhalten, dass der junge Bauer als Frater eintreten könne, und es ihm mitgeteilt. Daraufhin hat er eine Schrift aufsetzen lassen vom Pfarrer und von zwei Männern als Zeugen unterschrieben, dass er den ihm gehörigen Hüttenhof, wie er geht und steht, seiner Schwester und deren Manne schenke als ihr Eigentum. Das Bargeld, das er daheim liegen gehabt, hat er in einen festen Beutel geschnürt und für sich seitwärts gelegt.

Dasselbe ist an einem Sonntag gewesen. Am Montag in der Frühe ist der Gereuter kommen, und ein vergnügliches Lächeln hat um seinen faltigen Mund gespielt.

»Weißt was Neues?« hat er gefragt. »Es ist einesteils zum Lachen, anderenteils aber zu Zerspringen vor Gift und Galle … Dem Wolferl haben sie gestern den Buckel so abgekehrt, dass er heut vor Tags hat den Pfarrer haben müssen. Sterbenskrank soll er sein. Und noch zu wenig ist's, viel zu wenig, sag ich. Höllsakra! Für so eine Lumperei gehörten Rad und Galgen. Ist dir der nicht imstand gewesen, drinnen in der Pragerstadt, wie er zur Landtafel geschickt worden mit der Schrift, ist er nicht imstand und sagt: Der Waldhwozd ist wie eine Wurst; er soll zerstückelt werden. Und zerstückelt wird der Königliche Wald, der ein Kaiserwort hat zur Bekräftigung, dass er's zu ewigen Zeiten nicht werden darf. Alle Donnerwetter und kein End! Sollt einem nicht die Geduld ausgehen mit solchem Zeug?«

»Es nutzt nichts«, hat der Lenz beruhigt. »Ich mein, des Wolferls Red hat nichts genutzt und nichts geschadet. Was die Herren wollen, sel geschieht; da kannst schwarz sagen oder weiß.«

»Ich hab's auch gesagt. Weißt, die selb Zeit, wo ich darein gehaut hätt wie nicht gescheit, die ist vorüber; selmal hab ich mich für ein paar Jahr im Voraus geärgert, und … und wenn einer einmal einen verheirateten Buben hat, nachher muss er schon dasiger werden.«

Nach der Morgensuppe wischt sich der Lenz mit dem Handrücken ein Tränlein aus dem Auge und legt den Schein, worauf von der Schenkung geschrieben steht, vor den Hannes hin auf den Tisch. »Seh«, sagt er. »Mehr kann ich euch nicht geben. Von heut ab bist du Bauer im Hüttenhof und …«

»Ja, was hast denn?« stößt der Hannes vor Schreck heraus. Ein Gedanke fährt ihm blitzartig durch den Kopf: Ob es den Schwager nicht im Hirn erwischt hat? Er ist die letzten Tag her schon so spaßig gewesen.

Philomene starrt den Bruder mit weit aufgerissenen Augen und Mund an. Nachher fängt sie an, am ganzen Leib zu zittern wie Espenlaub. Sie hat dasselbe gedacht wie ihr Mann. Mit einem Aufschrei fällt sie ihm dann um den Hals. »Lenz! Mein Lenz! Was hast denn auf einmal? Was tust denn gar so … so spaßig? Han, was denkst dir denn und was hast denn vor?«

»Ich geh ins Kloster«, sagt er mit unsicherer und merklich zitternder Stimme. »Du weißt, Schwester, wo mich der Schuh drückt. Ich kann mir kein End absehen, ich hab mit nichts mehr eine Freud … Behüt euch Gott, all zwei! Bleibt gesund und hauset mitsammen wie zwei christliche Eheleut, und du, Hannes, sei ein Bauer von altem Schrot und Korn, mit weichem Herz und felsenhartem Sinn. Und wenn die alte Zeit nimmer kommt, bleibt ihr die Alten! Sel Recht kann keiner stürzen.«

Er reicht beiden noch die Hand, dann wirft er das Bündel über die Schultern und langt nach dem Stecken. Wieder schleicht sich ein Tränlein in seine Augen, als er in den neben der Türe hängenden Weihbrunnkessel langt und einen letzten Blick zurückwirft in die Stube; aber er wischt es nicht weg. In dem Hause haben seine Vorfahren seit undenklichen Zeiten gelebt, einer nach dem anderen, sie sind darin geboren worden, haben darin gehauset in Freud und Leid und sind darin gestorben. Die Gemeindetruhe ist öfter denn einmal im Hüttenhofe gestanden, und das »Recht« hat von da aus das ganze Gericht in Ordnung gehalten … Die Zeiten sind vorüber, das Recht und die alte Gerechtsame sind abgekommen, und er als der letzte Richter im Hüttenhofe und im ganzen Gerichte verlässt seiner Väter Erbe … für immer.

Schweren Herzens schreitet er den Feldweg hinüber. Er will dem Pfarrer noch ein Behüt Gott! sagen und dann hinaus wandern in die Fremde, in eine andere Welt. Als er am Seehofe vorbeikommt, tritt ihm die Seebäuerin entgegen.

»Lenz, du gehst fort?« presst sie heraus.

»Ja, ins Kloster. Behüt dich Gott!«

»Lenz, Lenz!« bittet sie und fasst seine Hand. »Lenz, bleib da; geh nicht fort! Ich hab gefehlt, groß gefehlt, aber gerad nur, weil ich dich gern gehabt hab. Bleib da! Ich weiß, dass du die andere lieber gehabt hast wie mich. Ich verlang mir auch gar nimmer so viel. Mit einem kleinen bissel deiner Lieb bin ich zufrieden … Lenz, ich weiß alles! Und ich will dir eine Schwester sein und ein treues Weib zugleich. Du kannst mir deinen Kummer und deine Sorg klagen, und ich hör es wie eine Schwester an und tröst dich. Bleib da!«

Er schüttelt wehmütig den Kopf und wendet sich ab. »Behüt Gott!«

Weinend sieht sie ihm nach. Das Glück, nach dem sie so lange gehascht und gerungen, das sie schon in der Hand gewähnt und dessentwillen sie Unrecht getan, es rollt davon für Lebenszeit, und ein finsteres, freudeloses Leben ohne Sonne und Licht liegt vor ihr. Hat sie es wirklich verdient? …

»Also seid Ihr schon auf dem Wege?« ruft ihm der Pfarrer schon von Weitem zu; er wundert sich und hat doch gewartet auf ihn.

»Wohl, wohl. Es geht jetzt dahin, Hochwürden.«

»So behüt Gott denn! Findet in der stillen Klosterzelle den Frieden, den Ihr sucht!« Er drückt ihm die Hand und sieht ihm noch nach, als er schon die letzte Höhe emporsteigt, von wo aus sich der Weg senkt ins weite, weite Land hinaus.

Der sieht nicht aus, als ob er vergessen könnte. Seine Treue ist wie die Felswand ober dem See, und am alten Recht und der uralten Gerechtsame hängt er, wie der Baum mit allen seinen Wurzeln und Würzelchen im Boden haftet, in dem er aufgewachsen … Ob es so sein muss, dass eines Menschen Tugend dem anderen oft die bittersten Stunden bereiten kann? So sinnt und ohrt der Pfarrer.

Der Lenz aber wendet sich auf der Höhe noch einmal zurück gegen das sonnige Gelände, das seine Heimat … gewesen ist. Mit einem schweren Seufzer begrüßt er den Weggefährten, der sich ihm überlings zugesellt, das Heimweh, dann kehrt er sich hastig ab, stößt den Stecken wuchtig in das steinige Erdreich und steigt die jenseitige Hänge hinab. Zum Frieden! …


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