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Der letzte Richter

1

Im Bergwalde ziehet der Auswärts ein.

Im Tale unten prangen die Fluren im ersten Grün, und die Osterglocken läuten darüber hin, zum Nachmittags-Segen rufend. Aber im schroffen Gewände rauschen und rieseln die Schneewasser, der tauende Schnee rutscht in ganzen Flächen über die Platten und Feldvorsprünge, und lockeres Gerölle kollert und poltert mit ihm in die Tiefen, und hinterdrein drängt das junge Leben. Vom hellblauen Himmel hernieder lacht und leuchtet die Sonne in reinstem Glanze, im Geäste des Hochwaldes singt der Schnerer, und zwischen Schnee und jungem Grün lugt der blaue Himmelsschlüssel, dessen goldgelber Bruder im Tale schon längst in vollstem Blumenschmucke pranget.

Und in der Wildnis, zwischen jäh aufsteigendem Gefelse, zwischen Gerölle, Schnee und krüppeligem Schwarzholze stapft ein Mann dahin, grobschlächtig und stämmig wie ein Buchenstamm. Das Gesicht und die großen, schwieligen Hände sind von Sonnenglut und Wettersturm braun gefärbt, das über der Stirne geradlinig zugestutzte Haupthaar wallt in dichten Locken auf den Joppenkragen nieder, die stark gewölbte Stirn verläuft in einer geraden Nase, buschige Brauen beschatten die dunkelbraunen, in jugendlichem Feuer strahlenden Augen, ein buschiger Schnauzbart bedeckt den Mund schier zur Gänze, und einige Haare biegen sich noch bis zu dem etwas vorstehenden, starken Kinn nieder.

Den breitkrämpigen Hut tief ins Genick geschoben, das Leibchen und das grobleinene Hemd geöffnet und den eisenbeschlagenen Stecken kräftig in das aufgeweichte Erdreich drückend, so strebt er das Gewände hinan. Er ist der Bauer vom Hüttenhof unten im Tal, der Lenz. Sie nennen ihn eigentlich den Bader-Lenz, und es ist ihm auch recht.

Ein gut Stück von einem Bader ist er schon, und es mag mancher Bader in der Welt herumlaufen und an Mensch und Vieh herumdoktern, der bei Weitem nicht so viel versteht als wie der Lenz. Aber er bildet sich nichts ein darauf, kein Brösel. Er weiß sogar, was ein Bader kann und wo seine Kunst am Ende ist, und das weiß oft der Zehnte nicht. Er kann Zähne ziehen, Beinbrüche heilen, das wilde Fleisch von Wunden vertreiben und den Wurm am Finger besprechen. Er weiß Mittel wider Gicht und Wassersuchten, wider Ungesegen und das Schwinden und kennt die Heilkräfte der Wurzeln und Kräuter. Aber das ist so ziemlich das Ganze, was er gelernt hat und was er versteht.

Ja, er hat die Baderei gelernt, einen ganzen Winter hindurch.

Als sich auf den Bergen oben der erste Schnee gezeigt im Herbste, hatte er sich den Fuß gebrochen. Wie es gekommen war, wusste er selbst nicht so recht genau; aber daran konnte er sich erinnern, dass die Sperrkette gerissen, derweil er gerade über einen jähen Hang heruntergefahren mit einer Fuhre Streu, dass er aufhalten gewollt, aber nachher, als Ross und Wagen an ihm vorüber gewesen, er mit gebrochenem Fuße im Hohlwege gelegen. Das war so schnell gegangen, dass er sich der anderen Einzelheiten gar nimmer zu entsinnen wusste.

Und das gebrochene Bein hatte ihn zum Bader gemacht. Sie hatten ihn gleich hinausgefahren zu einem weit und breit berühmten Manne, weit ins Land hinaus. Der hatte ihm den Fuß wieder zurechtgerichtet und nachher für Geld und gute Worte seine Kunst gelehrt. An guten Worten darf kein Mensch sparen, der etwas erreichen will, und Geld hatte der Besitzer des Hüttenhofes auch. Erst hatte er sich vorgenommen, er sei zufrieden, wenn er Beinbrüche einrichten, Zähne reißen und zur Ader lassen könne. Aber als er das alles zu Wege gebracht, waren in ihm die Lernbegier und der Eifer erwacht; er kaufte dem Lehrmeister ein Kräuterbuch ab und machte sich eine säuberliche Abschrift eines Arzneibuches. Er hatte noch das und jenes gelernt, und als er bei anbrechendem Märzen Abschied genommen von seinem Lehrmeister und mit heilem Fuße und nützlichen Kenntnissen im Kopfe dem Walde zugewandert, war er sich dessen klar: der Menschen Verstand hat vieles ausgegrübelt, noch mehr aber ist ihm ein Schloss mit sieben Schlüsseln, die alle in eine Feder greifen und wo sechs nicht sperren, wenn der siebte fehlt oder unrecht angesteckt ist. Er trieb wieder wie ehedem seine Wirtschaft und half nebenbei, wenn eins oder das andere seiner Hilfe begehrte. Und das geschah des Öfteren. Gleich nachdem er heimgekommen, hatte des Sterls Weib den Wurm im Finger bekommen, er hatte ihn angesprochen und am anderen Tag in der Frühe war der Schmerz weg gewesen. Nun stand es fest: der Lenz kann mehr denn Schwarzbrot essen und versteht seine Sache besser als mancher andere. Und da er selten ein Entgelt nahm für seine Hilfe, fehlte bald da, bald dort etwas.

Aber das hatte ihm schon oft den Kopf warm gemacht und manch schlaflose Nacht, wie es mit dem Ansprechen sei. Er sagte nur einige Worte ohne Bedeutung her, und es half. Wie mochte sich die Sache verhalten? Und er war nie weiter gekommen als bis zu der Frage.

Nun sucht er oben im Gefelse der Seewand Bären- und Enzianwurzeln und die knolligen Hahnerlwurzen. Sie seien am wirkungsvollsten, wenn sie gerade zu treiben begännen, hatte sein Lehrmeister gesagt, trotzdem im Kräuterbuche steht, dass dies im Maien der Fall sei. Aber er hält sich in den meisten Stücken nach seinem Meister. Bären- und Enzianwurzeln helfen wieder männigliche Beschwer des Magens und der daraus strömenden Lebenssäfte, und die Hahnerlwurz hilft wider das Reißen im Gesicht und in den Gliedern und hält die Lebensgeister munter; sie kann sie aber auch vergiften und bedarf daher äußerster Vorsicht.

Auf einer Matte oben mitten im Gewände wächst alles, was er sucht. Bald hat er, so viel er bedarf, und er wendet sich wieder abwärts.

Die Schneewasser rauschen und rieseln, im Geäste säuselt der Mittagswind, der Schnerer pfeift und schwegelt, und tief unten glitzert der See mit seinem allweg unruhigen Gewässer. Wie ein blauer Edelstein in schwarzeiserner Fassung liegt er da inmitten des dunklen Hochwaldes, wenn man ihn von oben beschaut und der klare Himmel sich darin spiegelt. Wenn man am steinigen Ufer steht, ist das Wasser freilich schwarz und düster.

Und der Lenz bleibt unwillkürlich stehen und schaut hinab in die unruhige Tiefe. Kein Schwindel kommt ihn an, kein Grausen, nur die Freude am schönen Heimatwalde rankt sich in seinem Herzen immer höher und höher hinauf, sie wächst und dehnt sich und sucht sich Luft zu machen. Ein Lied drängt sich auf seine Lippen, ein lebenslustiger, übermütiger Sang; aber noch beizeiten entsinnt er sich, dass heute Ostersonntag und zu solch heiliger Zeit ein weltlich Lied nicht recht stimmt. Nur den Stecken stößt er aus purem Übermut in den körnigen Schnee der Felsrinne, in der er absteigt, und klettert nachher wieder behände talwärts.

Der Lenz steht zwar schon im Anfange der Dreißiger, aber er vermeint kaum den Zwanziger übersprungen zu haben, und am Gemüte? Mein', es gibt Leute, die als Eisgraue noch so frischen Sinnes sind, so gerührig und fröhlich wie ein der Sonntagsschule Entwachsenes, andere wieder bleiben jungfrischen Geistes, bis den ein jäher Sturm oder Schlag zersplittert wie eine trutzige Eiche, und einige sind von Kindesbeinen an schon gemachte Griesgrame.

Er aber hält es mit den ersteren; er ist so frisch und grün wie ein schossender Tännling im Hochwalde.

Entlang des Ufers zieht sich ein schmaler Pfad. Den geht der Jager, der auf das am See wechselnde Wild pirscht, den schleicht der Wildschütz, der im Gewande dem Hühnerwild zuliebe geht und ab und zu einer, der sich aus dem schwarzbraunen Gewässer ein Fischlein holen will.

Stellenweise ist das Ufer tief ausgebuchtet, und die dadurch gebildeten Ufervorsprünge sind mit Sumpfkiefern und krüppelhaften Fichten bewachsen, stellenweise aber strebt das Gefelse in den See hinein, das Ufer ist steinicht und trocken, und die Wellen plätschern und klatschen in sanftem Einerlei.

Den Pfad wandelt der Lenz. Aber jählings gibt es ihm einen Ruck, und er bleibt wie angewurzelt stehen. In so einer felsigen Bucht sitzt eine Dirn auf einem mit gelblichgrünem Moose bewachsenen Steine und starrt hinaus auf die wellende und glitzernde Fläche. Ist dies eins von den Wasserweibchen, die unten in der unergründlichen Tiefe hausen und das nun heraufgestiegen ans Ufer, um sich an der Ostersonne zu wärmen? Ist sie ein Leut wie er und die anderen Leute? Er hebt den Fuß, um hinzugehen und sich zu vergewissern, aber er lässt ihn wieder geräuschlos sinken. Nein. Am Schönen freut sich jedermann, und er gar erst, und wozu sich mutwillig um den Anblick bringen?

Sachte lässt er sich nieder, und auf allen Vieren kriecht er hinter ein Gestrüpp junger Fichten. Dort legt er sich auf den Bauch hin und weidet sich an dem schönen Gebilde. Eine Fülle flachsfalben Haares fällt offen und fessellos nieder über Arme und Rücken, und der leichte Wind fächelt darin. Das feingeschnittene, rotbackige Gesicht ist auf die Hand gestützt, ein Paar himmelblauer Augen lugt daraus hervor, die schneeweißen Hemdärmel bilden einen angenehmen Gegensatz zu dem schwarz-samtenen, mit Goldborten verzierten Mieder und dem grauen Gefelse dahinter. Gewandet ist die Dirn schon wie die Weiberleute im Walde; aber warum sollten die Wasserweibchen da unten in den Tiefen auch anders gewandet sein?

Der Lenz hat sich sein Lebtag noch nicht viel gekümmert um das Weibervolk; er hat zu gegebener Zeit getanzt und geschäkert, er ist der auf die Hochzeit und einer anderen auf die Leiche gegangen, und nichts hat ihn angefochten; aber jetzt fährt ihm jählings ein gar sonderbarer und spaßiger Gedanke durch den Kopf: wenn die ein Wasserweibchen ist, nachher möchte er gleich unten sein bei ihnen in den Tiefen.

Aber gleich schüttelt er den Kopf gar heftig. Wozu aus Licht und Leben scheiden eines – Wasserweibchens willen? Wie oft träumt einem von dem oder jenem Schönen, und er weiß manchmal mitten im Traume, dass er träumt, und doch tut es der Freude keinen Abbruch. Er hat sein Auge ergötzt an dem schönen Gebilde, das Gesicht wird ihm zeitlebens im Gemerke bleiben und der Ostertag, an dem er es gesehen – was will er mehr? Er will sich heben, aber die Augen wollen sich nicht abwenden von dem schönen Wasserweiblein.

Überlings schnellt er empor. Es nutzt nichts, wenn er da liegen bleibt bis in die geschlagene Nacht und allweil nur nach dem Weiblein äugt. Jeder Traum muss ein Ende haben, der schönste gar. Und wenn sie sitzen bleibt, wenn er hingeht? Wenn sie nicht mit einem Tusch hinuntertaucht in ihr Element? Gut, so will er sie ansprechen und reden mit ihr, wie ein Bauernleut mit seinesgleichen redet. Aber den Kopf will er sich in acht nehmen und gehen, wenn er seine Zeit sieht.

Er stößt den Stecken in den steinigen Grund und schreitet auf das Weiblein los. Einen schlecht unterdrückten Schrei stößt dasselbe aus, bleibt aber auf dem Steine sitzen und starrt ihn mit seinen himmelblauen Augen an.

Er bleibt vor ihr stehen. »Was tust denn da?«

Sie lässt den Arm, auf den sie den Kopf gestützt, lässig auf das Knie sinken. »Ja, was tust denn du da?«

Ein linder Zweifel beginnt in seinem Kopfe aufzusteigen: ob die wirklich ein Wasserweiblein ist? Aber er kennt jedes Kind im ganzen Gericht, die hat er noch niemals gesehen. Sie muss also doch von da unten sein. »Ich hab Wurzen gesucht in der Seewand oben, weil ich sie brauch für mein Geschäft. Und du? Gelt, da heroben ist's doch schöner im Licht und Leben, als wie dort unten in der nassen Finsternis, in der toten.«

Die Dirn lacht hellauf. »Mir scheint, du hältst mich gar für ein Wasserweibl.«

»Gerad ein Wunder wär es nicht«, sucht er zu entschuldigen. »Und dass ich dir offen weg sag: Ich hab's richtig gemeint, wie ich dich gesehen hab' so mutterseelen allein da heroben in der Wildnis. Und nachher kenn ich alle Leut' im ganzen Gericht bis auf dich. Da braucht's dich schon nicht zu wundern. Wer bist denn nachher?«

»Den Bader-Lenzen hätt ich schon für gescheiter gehalten«, lächelt sie ob seiner Entschuldigung.

»Du kennst mich?«

»Ja. Am Karfreitag hab ich dich in der Kirchen unten gesehen und hab gefragt, wer du bist. Aber wenn ich dich auch nicht kennt hätt, für den Wassermann hätt ich dich doch nicht angeschaut.«

»Wer bist denn nachher?« drängt der Lenz.

»Mein Vater ist der Waldchristl, wie sie ihn heißen, und ist zu Josephi hereingezogen von der Eisensteiner Seite. In des Seebauern oberem Inhäusel, ein paar Büchsenschuss unterhalb dem See steht es, da sind wir in der Herberg.«

»So? Und darf ich mich leicht ein bissel hinsetzen zu dir auf den Stein?«

»Meinetwegen schon, wenn du dich vor dem Wasserweibl nicht fürchtest«, lächelt die Dirn wieder. »Mein gehört der Stein nicht.« Sie rückt zur Seite, fasst das aufgelöste Haar hastig zusammen und schürzt es in einen Knoten. Nachher will sie das schwarze Kopftuch darüber binden, aber der Lenz wehrt es ihr. »Geh, bind das Tüchl nicht um, die Haar haben mir so viel gefallen.«

»Du!« droht sie schelmisch, legt aber das Tuch wieder in den Schoß. »Auf dem Stein kannst sitzen, solang du willst, aber meine Haar lässt mir in Frieden, die gehen dich nichts an und wem anderen auch nicht; die gehören mein.«

»Na, na. Ist gerad nur so eine Red gewesen. … Aber sag mir gerad: Was sitzest denn da heroben in der Öden, gerad wie wenn du träumen tätest? Ein Weiberleut in deinem Alter lacht und scherzt mit dem jungen Volk, und …«

»Und was steigst denn du im Gewänd herum?« fällt die Dirn ihm in die Rede.

»Weil ich die Wurzen brauch und weil ich am Werktag nicht Zeit hab dazu.«

»Und ich, weil ich da meine Freud hab. Eins liebt die Lustbarkeit, ein anderes die Ruh … grad, wie eins Gott erschaffen hat.« Sie steht auf und springt über den Stein weg, leichtfüßig wie ein Rehkitz. »Behüt dich Gott, Hüttenbauer!«

»Ja, willst denn schon davon?«

»Dasselb siehst.«

»So wart und lass mich auch mit. Ich muss ja auch da hinunter.«

Schweigend schreiten sie nebeneinander dahin durch den lauschigen Bergwald. Zur Seite toset der Seebach über Gestein und Gefelse zu Tale, im Geäste singt der Schnerer; der Lenz hört beides, und er sinnt doch an etwas anderem. Überlings bleibt er vor der Dirn stehen.

»Wie heißt du denn?«

Sie sieht ihn mit ihren himmelblauen Augen verwundert an. »Wenn du gerad meinst, dass du es wissen musst: Sepherl.«

»Was d' nicht sagst? Ist denn das auch ein christlicher Nam?«

Sie schupft die Schultern. »Der Pfarrer sagt schon, und ich kann nichts dafür, mich hat keines gefragt.« Jedem kommt der Name so sonderbar vor, weil außer ihr kein Mensch so heißt im ganzen Umkreis. Schon die Schulgenossen hatten sie ausgespöttelt und gelacht über das schmächtige, schüchterne Ding mit den dicken Flachszöpfen und den großen, blauen Augen. »Sepherl! Sepherl!« hatten sie gekichert. »Wie kann ein Christenmensch nur Sepherl heißen? So ein Nam! Aber die verdient keinen schöneren Namen.« Was konnte sie dafür, dass sie so hieß? Sie war am neunzehnten des Lenzmondes geboren, und weil an dem Tage gerade Joseph im Kalender steht und der Pfarrer mit dem Namen so eine Freude hatte, war sie Josepha getauft. Ihre Schuld war es also nicht.

Und dem kam der Name auch unchristlich vor. Nun, einen Bader hätte sie schon für gescheiter gehalten.

»Na, na, wird schon auch recht sein«, fängt er nach einer Weile Sinnens an. »Es kommt nicht auf den Namen an, das Leut ist die Hauptsach. Gelt?«

Sie biegt jählings ab und springt das Gehänge hinunter. »Behüt dich Gott, Bader-Lenz!« Es klingt halb unwillig, halb neckisch, und verwundert schaut ihr der Lenz nach. Ja, was hat sie denn auf einmal? Aber wie er noch einen Schritt tut, kennt er sich halbwegs aus: Dort in der Rodung steht des Seebauern oberes Inhäusel, wo sie daheim ist, und … und ein halbes Kind ist die Dirn halt noch.

Er stapft am Ufer des Seebaches nieder und denkt bald hin, bald her, wie es einem halt in währendem Gehen anmutet. Auf dem Weidegrunde im Tale tummelt sich eine Schar Kinder herum in munterem Spiele, und vom Seebauernhofe her klingt ein neckisch Lied:

»Gehst allweil für
Bei unserm Haus, vor der Tür …
Dass d' einmal herein gangst
Und ein richtigs Wort sangst –
Aber nein! Aber nein!«

Er kennt die Stimme; sie gehört der Seebäuerin. Dass die auf den heiligen Tag vergisst? Aber nein! Leicht singt sie ihrem Büblein was vor, und wenn nicht, die Sünd kann's am Ende nicht so groß sein, wenn eins aus fröhlichem Herzen ein Gesangl hinausjagt in die Osterstille, kleiner schon, als wenn es im Stillen sänne zu des Nebenmenschen Schaden.

Da wirbelt ihm eine Hand voll roter Eierschalen an den Kopf, und ein schalkhaft Lachen klingt hinter der Stadelecke.

»Tausendstern!« schreckt er schier empor. »Wenn's im Seehof sonst nichts gibt wie Eierschalen, nachher steht's nicht sauber.«

»Gibt schon sonst auch was«, tritt ihm die Bäuerin entgegen. »Aber wirst ja wissen, wie es der Brauch ist: Wer sich nicht um die Eier müht, der kriegt halt gerad die Schalen.« Sie schaut ihn dabei mit ihren kohlschwarzen Augen so trutzig-schelmisch an, und um ihren Mund zuckt es wie Krämpfe. »Gelt, Sepperl, es kriegen nur brave Buben rote Eier«, sagt sie zu dem kleinen Kerlchen, das sie auf dem Arme trägt, aber die Rede gilt dem großen.

»Na, leicht dass ich nicht brav wär!« geht der Lenz auf die Anspielung ein.

Die Seebäuerin schupft die Schultern. »Ist's wie es ist: rote Eier kriegst doch. Aber hereingehen musst dir darum. Weißt, nachtragen tu ich sie keinem, nicht einmal bis auf die Gred heraus. Und ihrer gar viel sind's nicht, denen ich in der Stuben die Eier gern geb … Weißt ja, was nachher oft geredet wird«, setzt sie ernst hinzu, wie sie über die Gred hineingehen.

Die Seebäuerin ist eine Witib, trotzdem sie den halben Zwanziger noch nicht erreicht hat. Und eine schöne Witib ist sie, das muss ihr der größte Neider lassen. Die Leute sagen zwar, sie sei für den Witstand zu aufgelegt und lustig; aber du mein! Kann denn eins seine schönsten Jahre vertrauern? Was kann sie dafür, dass ihr der Herrgott den Mann genommen? Die paar Jahre, die eins jung ist, fliegen so dahin wie das Schneegewölk vor dem Herbstwind, und man weiß gar nicht, wo sie hingekommen sind. Wenn nachher das Alter kommt, trauert eins so, will es oder nicht. Und – das Trauerjahr ist aus. Am Palmsonntag ist es ein ganzes Jahr gewesen, seit sie ihren Mann in die Erde verscharrt haben.

Der Lenz hat seine roten Eier bekommen, er hat ein Stündlein verplaudert mit der Seebäuerin und macht sich wieder auf den Weg. Sie geleitet ihn bis vor die Gred hinaus und reicht ihm des Sepperls Hand zum Abschied.

»Komm so dann und wann einmal herüber zu uns!« Das ist ihre Einladung. »Und was ich dich fragen will: Reitest morgen auch deinen Schimmel zum heiligen Leonhard? Oder das Füchsel?«

»Ich werd schier mit allen zweien hinaus. Es ist so der Brauch seit jeher, und dass einem kein Unglück in den Stall kommt, muss ihm schon die Müh nicht verdrießen und das Opfer.«

Sie nickt. »Ich lass meine zwei Ross auch hinausreiten. Und ich mein, ich geh selbst auch mit. Das Heimgehen ist halt zuwider. Gleich will eins nicht fort, und nachher kann's allein heimstrampeln. Aber du bleibst gewiss auch draußen … auf ein Tänzchen?«

»Im Sinn hab ich es nicht«, zweifelt der Lenz.

»Geh, geh!« lächelt sie. »Wenn ich so gewiss tausend Gulden hätt … Aber wenn ich mich ein bissel länger verhalten sollt, musst schon mir zulieb bleiben. Weißt, allein ist der Weg gar so langweilig, das jüngere Volk geht erst oft ums Betläuten heim, und … dass ich dir's gerad weg sag: mit einem jeden geh ich nicht.«

»Werden halt sehen … Gute Nacht und einen schönen Dank für die Eier!« Er stößt den Stecken in den frischgrünen Rasen und schreitet den Anger hinüber.

»Die paar Eier wären einen Dank wert!« lächelt sie ihm noch nach und trällert dem Buben eine Weise vor, da sie über die Gred hinein schreitet.

Der Lenz stößt den Stecken öfter wuchtig in den Boden, öfter als es nottut und er es sonst in der Gewohnheit hat. »Die Wetterhex!« brummt er ein paarmal vor sich hin. »Die möchte mich gern verrückt machen … Aber nein! Aber nein!« Er summt den Endreim des Liedes vor sich hin, das er vernommen, als er dem Seehofe zugeschritten. Und trotzdem sinnt er daran.

Wie sie es meint? Ob ihr gerade nur um ihn zu tun ist oder um seinen Hof? Der Seehof gehört dem Sepperl, wenn er groß ist, das ist beim Oberrichter geschrieben, und sie ist derweil seine Wirtschafterin. Aber sich an einem Weiberleut auszukennen, dazu ist der Lenz zu wenig. Er kann eine stückelweise aneinanderheilen, aber was sie für Schnacken und Listen in sich hat, dasselb kennt er nicht.

An der Feldmark seines Hofes kommt ihm ein alter Mann entgegen.

»Guten Abend, Lenz! Wo steigst denn du herum?«

»In der Seewand oben hab ich Wurzen gesucht … Und Ihr seid gewiss beim Vater gewesen auf ein Plauscherl.«

Der Alte schüttelt den Kopf. »Mein', heut hab ich keine Zeit gehabt dazu. Auf der Seewiesen bin ich gewesen beim Oberrichter von wegen unserm Leibtum. Weißt, dort ist alles aufgeschrieben schwarz auf weiß, und ich hab nachschauen lassen, weil es allweil hackelt. Der Sepp ist verstorben und sie, die Nani, will uns nicht die Halbscheid geben von dem, was uns gehört.«

»Ja, was Ihr da nicht sagt, Seebauernähnl!« wundert sich der Lenz.

»Mein' ja. Wahr ist's. Es ist ein Kreuz, wenn der Mensch alt wird.«

»Um das hätt ich sie schon nicht angeschaut … Aber was geschrieben ist, das muss sie Euch geben, dagegen ist kein Kraut gewachsen.«

»Muss. Freilich muss sie; aber das ewige Streiten und Tagen wird einem so zuwider, dass es ein anderer Mensch gar nicht glaubt.«

»Wenn ich wieder einmal zur Sprach komm mit ihr, nachher red ich ihr derentwegen ins Gewissen«, verspricht der Lenz zum Troste. »Und oft hilft ein rechtes Wort zur rechten Zeit mehr wie Streiten und Tagen.«

»Wenn dich die Müh nicht verdrießt, ich sag dir Vergelt's Gott dafür, Lenz. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Sinnend schreitet er seinem Hofe zu. Das Gesicht der jungen Witib kommt ihm auf einmal so widerlich vor, und das Lachen so gezwungen und kalt, und er vermeint schier ihre Stimme zu hören, wie sie mit dem Alten um das rechtmäßige Leibtum tagt und hadert.

»Aber nein! Aber nein!«

*

Im Morgen steigt der erste Dämmerschein empor über die langgestreckten, dunklen Bergesrücken, und die Sternlein beginnen mählich zu verblassen.

Dem Hüttenhofe naht sich Pferdegetrampel, und beim Stadel halten die Reiter stille. »He! Mich däucht, da drinnen schläft noch alles«, ruft einer gen Hof hinüber.

Da knarrt die Stalltüre, eine Laterne wirft ihren grellen Schein über den Hofraum, und zwei Rosse werden herausgeführt, eines hat der Lenz am Halfter, eines der Großknecht.

»Gebt fein acht, dass euch über die Hänge hinab nichts geschieht!« trägt ein Alter auf, des Lenzen Vater. »Und der Bartel braucht sich aufzuhalten draußen. Wenn der Ritt getan ist, kann er gleich heimreiten. Ich hätt gar nichts dawider, wenn er in die Messe gehen wollt, aber wie es schon ist: Platz ist nicht so viel im ganzen Ort für all die Ross, die zusammen kommen, eins muss ans andere schier angelehnt werden, und nachher fangen die Häuter zu schlagen an und zu raufen, und es kunnt leicht ein Unglück geschehen. So mein' ich es.«

»Ja, ja«, sagt der Lenz zu. »Und du kommst ins Amt nach, Philomene?«

»Freilich. Es ist ja so ausgeredet.«

»Nachher wart ich draußen.« Er schwingt sich auf das Füchsel, und sie reiten unter Scherz und Lachen davon. Der Leonhardiritt ist Brauch im Walde, aus nah und fern kommen sie herbei mit ihren Rossen, selbst stundenweit aus Bayern herüber, den Ritt um das auf der Höhe stehende Leonhardi-Kirchlein zu machen, dass kein Unglück unter die Pferde kommt. Denn Unglück mit den Rossen kann einen Bauersmann bald vom Hofe bringen.

Und zusammengeputzt ist jedes auf den höchsten Glanz. Bartl, der Großknecht im Hüttenhofe, hat an die zwei Stunden gestriegelt und geputzt an den Viehern, hat ihnen Mähne und Schweif gekämmt und geflochten und bunte Seidenbänder daran gebunden, denn am Vieh erkennt man den Knecht, sein Können und seinen Fleiß.

Als die Lerchen zu trillern beginnen, reitet die Schar zu dem Kirchlein hinauf und in die Pferdeherde hinein. Grüße her und hin, neckische Rufe da und dort, dann schwenken sie ein und machen den dreimaligen Umritt. Nachher wird ein Pläuschchen gehalten, bekannte und unbekannte Rosse einer eingehenden Musterung unterworfen, dann machen sich die meisten wieder auf den Heimweg. In Gruppen, wie sie gekommen, zeihen sie wieder ab. Nur die entferntesten stellen im Dorfe unterhalb des Kirchleins ein, warten die Messe ab oder gar wohl auch ein Tänzchen am Nachmittag.

»Reitest du leicht auch gleich heim?« ruft des Gereuters Ältester dem Lenz zu.

»Nein. Die Rosse weiset der Bartl heim; ich wart auf die Philomene.«

»Nachher bleib ich auch da.«

Zur Messe kommen meist nur die älteren Leute, zum Hochamte aber strömt die Jugend herbei in dichten Scharen. Auf allen Wegen und Stegen kommen sie daher, festlich geputzt und aufgewichst. Die Tracht des Weibsvolkes ist so ziemlich gleich, höchstens dass eine statt eines leinenen, buntgewürfelten Rockes einen wollenen trägt, statt des aus schwarzem Halbwollstoff gefertigten kurzen »Röckels« mit aufgebauschten, wattierten Ärmeln ein halbseidenes und statt des schwarzen Wollkopftuches ein seidenes. Das wollene, rosenfarbene Brusttuch hat eine wie die andere. Die Männerleute aber haben ihre eigene Tracht. Ernst und bedächtig stapfen die Unterländer, die Dörfler, daher in Bundschuhen, weißen Zwickelstrümpfen und langem, blauttuchenem Schösselrocke, an den Westen der Bayer glänzen die dichten Reihen der »Frauenbildl-Zwanziger«, und die »Künischen« kommen in hohen Wadenstiefeln, kurzen Tuchjoppen mit grünledernem Besatze vorn an den Ärmeln, ebenfalls mit Zwanzigern als Knöpfen und weitem, wallendem »Bower« (Mantel).

»Freisassel – Waldwastel!« necken sie die Dörfler, aber sie bücken sich nicht darum. Während die Untertanen ihrer Gutsherrschaft sind, haben sie es wenigstens auf festen Pergamenten mit kaiserlichen Unterschriften, das sie freie Leute auf ihrem Grund und Boden sind, niemanden zinsbar zu »ewigen Zeiten«.

Mit den »Hinteren« kommt auch die Seebäuerin daher. Schnurstracks geht sie auf den Hüttenbauern zu und bietet ihm die Hand. »Ich hab mein Wort gehalten«, lächelt sie. »Bin neugierig, ob wer anderer das seine auch hält.«

»Ich hab keines geben«, lehnt der Lenz ab.

»Na, na!«

Die Glocken beginnen zu läuten, und alles strömt dem Kirchentore zu. Da gewahrt Lenz die Sepherl. Ein Ruck, und er steht bei ihr. »Du bist auch da?«

Sie sieht ihn groß an. »Ja, z'wegen was sollt denn gerad ich nicht da sein?«

Er hat noch eine Frage auf der Zunge, aber sie treten in die Kirche, und er drängt zum Opferstocke.

Der ist stark umdrängt. Der reiche Bauer, der einige Dutzend Vieh im Stalle hat, opfert seinen Sechser mit der Bitte, dass das Unglück seinen Stall verschonen möge, und die arme Witib, die nur eine Geis ihr eigen nennt, wirft in derselben Meinung einen Haller durch den Spalt.

Nach dem Hochamte sammeln sich die Bekannten zu Gruppen und ziehen so hinunter ins Dorf, sich zu laben und nachher ein Tänzlein zu machen. Derweil die Fremden ihren Mägen den Zoll entrichten, stimmen die Spielleute ihre Geigen, und sobald sie meinen, dass die meisten genug haben könnten, fangen sie zu stampfen und zu fiedeln an. Zur Schnittzeit darf eins nicht saumselig sein, und so ein Tag ist ihr Schnitt.

Des Gereuters Ältester, der Hannes, fasst gleich die Philomene und stampft mit ihr auf den holprigen Dielen umher, andere wollen auch nichts versäumen und beginnen zu landeln; nur der Lenz bleibt vor seinem Kruge sitzen und schwatzt mit einem Bayer über Rosse und deren Behandlung bei der Kehlkrankheit.

Die Seebäuerin nagt an ihrem Finger, rückt hin und her und hustet etliche Male, aber der Lenz versteht sie nicht. Endlich stößt sie ihn an. »Derweil ich dasitze neben ihm und auf ein Tänzlein wart, redet er von den Rossen.«

»Recht hast, Weiberleut!« lacht der Bayer und sieht sich auch nach einer Tänzerin um.

»Ich hab gar nicht daran denkt«, entschuldigt sich Lenz in währendem Tanzen. »Musst schon nicht zornig sein deswegen.«

»Zornig?« lacht sie auf und sieht ihm schelmisch in die Augen. »Dir kunnt ich gar nicht feind sein, wenn ich auch wollt!«

Aus der Ecke lugen ihnen zwei himmelblaue Augen nach. Die Sepherl kann das Tanzen nicht und schaut sonst recht gern zu; aber jetzt wäre es ihr mit einem Male recht, wenn sie es könnte. Warum, weiß sie selbst nicht recht, aber sie möchte tanzen.

Der Tanz ist zu Ende, und wie der Lenz auf seinen Platz gehen will, sieht er sie stehen. Er schwenkt ab und geht hin zu ihr. »Wir zwei haben auch noch nie tanzt miteinander; wie wär's, wenn wir uns einen aufspielen ließen? Die Spielleut wollen auch was verdienen.«

»Ich kann nicht tanzen«, wehrt sie ab und wird über und über rot.

»Willst mir einen Spott antun, weil ich dich gestern für ein Wasserweibl gehalten?«

»Kein Gedanke; aber ich kann es nicht.«

»Nachher lehr' ich dir's.« Er fasst sie bei der Hand, und sie folgt widerstandslos hin zum Spieltische und sieht, brennrot im ganzen Gesicht, unverwandt auf die Dielen nieder, derweil der Lenz einen Zwanziger auf den Tisch legt. »Den Mainzer!« (Schottisch) schafft er.

Die Spielleute streichen ihre Geigen, und der Lenz bleibt absichtlich noch stehen und tut, als ob er mit seiner Tänzerin wer weiß was zu bereden hätte.

»Schau nur auf die anderen und tu, wie ich dich lenk!« rät er ihr. »Und überhaste dich nicht!«

Sie fangen an, und nach einigen Fehlsprüngen schaukelt sich Sepherl ganz annehmbar nach dem Zeitmaße dahin. Er hält sie aber auch fest, dass sie nicht anders kann. Sie fühlt es unwillkürlich, dass sie am Richtigen ist, ihre Brust schwellt selige Freude, das Blut drängt ihr zu Kopfe, und in den Schläfen saust und hämmert es. Augenblicklich hat sie nur einen Wunsch: wenn sie allweg so dahin schaukeln könnte, gestützt von einem festen, starken Arme wie jetzt.

Und wie der Tanz zu Ende ist, schlägt sie in ihrer Verwirrung die Augen zu dem Tänzer auf und stammelt: »Vergelt's Gott, Lenz!«

Der zieht die buschigen Brauen zusammen. »Gehst mir nicht!« schilt er sie. »Für einen Tanz vergelt's Gott sagen!«

»Ja, aber es ist mein erster Tanz, und du hast mich das Tanzen gelehrt, zum wenigsten den Tanz. Ich kann nicht anders, und es wird kein Sünd sein.«

»Dasselb wohl nicht.«

Die Seebäuerin hat überlings Fältchen bekommen um ihren schönen Mund, wie sie den Lenz mit dem Dirndl ihres Inwohners hat zum Spieltische gehen sehen. Als er gerade an ihr vorbeikommt, hält sie ihn am Arme zurück. »Hast eine Buß verdient, dass du dich bei dem Tanzl hast so plagen müssen?« lächelt sie ihm zu. »Aber was gibst dich mit so einem Dirndl ab!«

Dem Lenz steigt der Ärger auf. »Ich mein', ich kann wohl mit der und mit der tanzen«, gegenredet er etwas schroffer denn sonst. »Und wenn ich mich plagen will … Juh!« Er geht zum Spieltisch und wirft noch einen Silberzwanziger darauf.


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