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8

Es ist der Festtag Allerheiligen.

Draußen stöbert und weht es, dass es ein Graus ist. An den Fensterscheiben prasseln die festgefrorenen Schneekörner, und im Rauchfange heult der Wind.

Im Gereuterhofe sitzen sie beisammen in der Stube. Der Gereuter, sein zweiter Bub, der Michl, und der Inhäusler sitzen um den Tisch herum, und die Weiberleute halten sich hübsch beim warmen Ofen.

»Heuer muss sich der Martin mit seinem Schimmel um vierzehn Tag geirrt haben«, meint der Inhäusler. »So ein Hundswetter schon vor Martini! Hat denn ein Mensch schon so was erlebt?«

»Pass auf, wir kriegen noch eine schöne Zeit!« prophezeit der Gereuter. »Wenn's vor Martini gar so stürmt und werkt, kommt gemeiniglich ein milder Winter.«

»Sein kunnt's eh.« Der Inhäusler bricht jäh ab und horcht nach der Ofenbank, wo die Weiberleut mitsammen plauschen.

»Wie es herschauen soll, wird auf Kathrein noch Hochzeit«, erzählt die Inhäuslerin.

»So? Sel ging aber rasch«, meint die Gereuterin.

»Wer soll denn heiraten?« fragt der Gereuter.

»Der Richter und die Seebäuerin.«

»Dass es wahr wär? Na, derweil glaub ich es noch nicht, bis der Hochzeitslader den Strauß auf die Tür malt. Wann ist's denn gewesen, gestern oder vorgestern, da bin ich beim Richter gewesen und hab ihm nichts ankennt. So ein kirrsaueres Gesicht macht ein Bräutigam nicht. Wer weiß denn, wer die Mär wieder ausgeheckt hat?«

»Es soll was daran sein«, behauptet die Inhäuslerin. »Am Heimweg von der Kirche hat mir's die Gregerin erzählt. Es soll was daran sein. die Geschicht mit dem Nazi ist vorbei, hat sie gesagt. Was es eigentlich gewesen ist, sel wird man nicht inne, aber gar der Wolferl soll nichts mehr dagegen gesagt haben, wie sie ihm reinen Wein eingeschenkt hat. Es wär ihm eine Straf zugestanden, und da hat sie ihn so verräumt, die Seebäuerin. Der Wolferl soll daraufhin worden sein so weich wie ein Butterstrizl. Bis der Nazi wieder heimkommt, denkt kein Mensch mehr daran … Und weil die Seebäuerin nun keinen Wirtschafter mehr hat, will sie einen Mann.«

»Will, will?« lächelt der Gereuter. »Ob aber der Lenz auch will? Mich hat er nicht danach angeschaut.«

Da poltert ein Mann in die Stube. Die ganze Gewandung ist schneeweiß, und der struppige Vollbart hängt voll Eiszapfen.

»Ist das ein Wetter!« schnauft er.

»Ah, der Veri!« wundert der Gereuter. »Na, setz dich nur gleich zum Ofen! Oder geh zu uns her; es ist da auch recht schön warm. Und die jähe Hitz kunnt dir schaden.«

Der Veri setzt sich an den Tisch. Mit dem Taschentuche wischt er sich den Schnee vom Barte und holt nachher die Pfeife aus der Joppentasche. An seinem ganzen Gehaben ist eine eigentümliche Hast und Unsicherheit, und seine Augen streifen fortwährend die Inhäuslerleute.

»Dass du dich aber heute herausgewagt hast in dem Wetter!« meint der Gereuter und blickt unablässig auf den Besucher, dessen Hast ihm aufgefallen.

»Nun, nun … Es ist oft, dass es sein muss. Nachher scheut eins auch kein Wetter. Es kommt schon zeitweise so … Und nachher, von der Stube aus schaut sich das Wetter viel ärger an. Ist eins einmal draußen, däucht es einem nimmer so arg.« Er hat die Pfeife vollgestopft und schlägt nun mit dem Messerrücken auf den Feuerstein los, dass die Funken nur so herum stieben. Der Schwamm glimmt schon lange, aber er schlägt noch immer.

Da gewahrt der Gereuter, dass ein Funke auf das Leibchen des Veri gesprungen und dort das Zeug anzubrennen beginnt. Schnell tappt er mit der Hand danach und drückt das Glimmen ab. »Da wär bald ein Loch worden«, meint er.

Der Veri legt nun den glimmenden Buchenschwamm auf den Tabak und stäupt dann an der gefährdeten Stelle.

»Kunnt einer leicht sein bestes Leibl anschüren.«

Die Inhäuslerleute heben sich und gehen. Der Veri mochte Geschäfte oder sonst was Dringendes mit dem Gereuter zu reden haben. Leicht dass ihn auch sein Bauer, der Richter, schickte. Zur Kurzweil gerade mag er den Weg nicht gemacht haben. Und er hat ja selbst gesagt, dass es oft so ist, dass es sein muss. Wer weiß, was er hat, und sie wollen nicht im Wege sein.

Der Veri rückt schon ungeduldig umher auf seinem Stuhle und kann es sichtlich nicht erwarten, bis die Leutchen die Türe hinter sich zugezogen haben. Er ist kein Bauer, er ist nur als Inhäusler in des Hüttenbauern oberem Inhäusel, das hoch oben am Mittagshange des Gefildes liegt. Es geht ihm nicht sonderlich gut und auch nicht recht schlecht. Wenn jede Mahlzeit schier ein Dutzend Leute um den Tisch sitzt, kann eins froh sein, wenn es allweil glatt abgeht. Und er ist zufrieden, wie er es hat.

Die Inhäuslerleute sind fort; sie stapfen eben über die Gred hinaus.

Der Veri stützt sich auf den Tisch und dämpft seine Stimme merklich. »Weißt, z'wegen was ich heut in dem Wetter zu dir komm?« hebt er mit unsicherer und leise zitternder Stimme an. »Ich wett, was du willst, du verfällst nicht darauf, Gereuter.«

»Dasselb kann schon sein«, gibt der zu. »Aber ich denk mir deinem ganzen Gehaben nach, dass es was Wichtiges sein muss. Hat dich leicht der Lenz geschickt, der Richter?«

Er schüttelt den Kopf. »Aber recht hast. Wichtiges ist's für dich … für dich. Ich wett, dass du mir einen Hunderter herlegtest auf der Stell, wenn du es wüsstest. Brauchst nicht meinen deswegen, ich gäb dir einen Wink … nicht denken. Du kennst mich ja. Was? Ich hab es schon lang tragen in meiner Brust, es hat mich oft druckt, und niemals noch hab ich mir denkt, ich mach mir's zunutze. Ich hab, was ich brauch, und keine Stund noch hab ich mir denkt, wenn ich mehr hätt … Ich hab oft ganze Nächt grubelt; soll ich es sagen oder nicht? Veri, hab ich mir denkt oft und oft, Veri, sagst es, ist ein Unglück fertig. Ein Weib und fünf Kinderlein verlieren den Vater, und wer weiß, was ihnen die Leut alles nachtragen. Sagst es nicht, bist nicht besser wie der andere. So hab ich hin und her geohrt, und jetzt bin ich im Reinen mit mir; ich muss es sagen … Aber das musst mir versprechen, Gereuter, ehe ich dir's sag, das Weib und die Kinder darfst mir nicht … denen darfst nichts nachtragen, und wenn eine Zeit käm, wo der Hunger sich einstellte, tu ein gutes Werk an ihnen. Dein Hof geht derentwegen nicht unter. Und du kannst es.«

»Ich geb so auch Almosen«, sagt der Gereuter. »Und das Gericht hat noch keines von seinen Leuten verhungern lassen. In der Sach' kann dein Bauer mehr wissen wie ich. Und wenn es was ist, ich red mit ihm.«

»Weißt, selbiges Mal, wie der Schneider Veit ist erschlagen worden und wie sie nachher deinen Hannes forthaben …«

»Weißt du was davon?« fährt der Gereuter auf. Seine Hände beginnen zu zittern, und es ist ihm, als müsse er das erlösende Wort dem Veri aus dem Munde reißen.

»Ja. Los nur gerad! Also selbes Mal, wie die Mordtat geschehen ist, hab ich ein Scheit zu Holzschuhsohlen gebraucht für meine jüngsten Buben. Derweil ich keinen Wald hab, bin ich in einen anderen gangen. Der Bauer hätt schon Scheite oben gehabt im Gefilder Schlag, aber es ist mit ein bissel zu weit gewesen, und in der Bärnau hab ich mir schon früher ein schönes Espenscheit gesehen. Mir wär's zuwider gewesen, wenn mich einer erwischt hätt, so bin ich auf Schleichwegen gangen. Bei des Sterls Kreuz hör ich auf mal jemanden kommen. Ich hab nicht geschaut, wer es ist; ich hab mich hinter einen Busch duckt und gewartet …« Er beginnt an seiner Pfeife zu saugen, in der schon lange kein Glimmen mehr ist, und ein leises Schaudern überläuft seinen Körper, da er an das Schreckliche denkt.

Der Gereuter fasst ihn krampfhaft am Rockärmel. Sein Oberkörper neigt sich weit vor, und in den sonst allweg gutmütigen Augen beginnt es zu leuchten.

»Red! Red!« keucht er und reißt am Joppenärmel, als sollte er den Erzähler aufrütteln aus seinem Traume.

»Ich sag es schon«, sagt der Veri wie geistesabwesend. Seine Gedanken sind um Wochen zurückgeeilt und malen ihm die grause Stunde wieder lebhaft vor. »Brrr!« schüttelt er sich, nachher beginnt er wieder ruhiger zu erzählen. »Wie ich so dahock, hör ich auf einmal einen dumpfen Schlag, einen Schrei und nachher einen schweren Fall. Es packt mich ein Grausen an, ich spring auf und seh es … Gereuter, der Gevatter hat's getan, der Greger. Ich hab's gesehen, und wie wenn der Böse hinter mir her wär, bin ich heimgerannt. Es war eine scheusame Stunde selbes Mal.«

Der Gereuter hat den Rockärmel losgelassen. Mit einem Satz springt er vom Schragen auf und rennt in der Stube herum. »Nimmer! Nimmer!« murmelt er vor sich hin. Dann bleibt er überlings vor dem Veri stehen. »Bleibst bei der Red?« fragt er hastig.

»Alle Stund«, versichert der.

»Nachher komm!« Der Gereuter greift nach den Stiefeln und zieht sie an.

»Wo willst denn hin?« fragt der Veri höchlichst erstaunt.

»Wohin? Aufs Oberamt nach Bystritz. Der Hannes soll keine Stunde länger eingesperrt sitzen. Ich hab's von allem Anfang an gewusst, er ist unschuldig. Jetzt hab ich einen Zeugen dafür. Komm!«

»Heut nicht. Schau, es nachtet schon, und bis zum Oberamt sind's im Sommer bei gutem Wetter drei starke Stunden. Morgen meinetwegen.«

»Ich geh … ich dank dir derweil, Veri. Ein andermal reden wir mehr davon.« Er zieht die Tschirkerjoppe an und wirft den Bower über. Derweil er seinem Weibe und dem Michl Aufträge gibt, ist der Veri aus der Stube verschwunden.

Zeitweise kommt es ihm vor, als hätte er Böses getan, dass er das Geheimnis verraten. Wer weiß, ob der Greger seine unselige Tat nicht schon manche Stunde bitter bereut? Er war zusammengesunken die Zeit her, als ob eine böse Krankheit zehrte an seinem Mark. Manchen Morgen hatte er ihn gesehen mit dunklen Rändern um die Augen, die beredte Zeugen waren eine schlaflos durchwachten Nacht. Und das Weib und die Kinder! Wenn der Überreiter käme um den Vater! Ihm schaudert vor dem Jammer und dem Weh.

»Ich soll es nicht tan haben«, wirft er sich vor. Und dann sinnt er wieder weiter. Er konnte doch nicht anders. Ja, wenn nicht ein Unschuldiger dafür büßte!

Jählings biegt er vom Wege ab und schreitet die Hänge quer hinüber. Er geht zum Greger. Dort brennt schon das Licht auf dem Tische, als er eintritt, und die ganze Familie sitzt bei der Nachtsuppe. Die Seebäuerin geht mit ihrem Buben auf dem Arme in der Stube auf und ab und scherzt und lacht. Einen Stich gibt's dem Veri durchs Herz, als er sie so friedlich beisammen sitzen sieht. Er setzt sich auf die Bank und wartet.

»Setz dich her und iss mit, Gevatter!« lädt der Greger ein. Aber der Veri lehnt ab. Still und schweigsam sitzt er da, und sein Herz zerwühlen bittere Vorwürfe.

Als sie fertig sind und der Greger das Tischgebet gesprochen, winkt ihm der Veri. »Geh auf ein Wörtel heraus!« Er wünscht eine gute Nacht und geht voraus. Eine gute Nacht? Schier hätte er gellend aufgelacht.

Vor der Haustür lehnt er sich an den Pfosten. »Gevatter, ich bring dir nichts Gutes«, hebt er an. »Mache dich aufs Schlimmste gefasst!«

»Weißt leicht …?« ächzt der Greger. Er hat Stunde um Stunde gefürchtet, und auch jetzt verfällt er zuerst auf das Schlimmste.

»Wohl. Ich hab's selbes Mal gesehen, und die lange Zeit her hab ich gezweifelt, was ich tun soll. Gevatter, es sitzt ein Unschuldiger; ich hab nicht anders gekonnt.«

Dumpf stöhnt der Greger auf. Seine Brust keucht schwer, und der Veri vermeint in dem Stockdunkel die verzerrten Züge seines Gevatters zu sehen. »Ich hab nicht anders gekonnt«, versichert er nochmals. »Ich hab's gesagt, und der Gereuter ist schon auf dem Wege zum Oberamt.«

»Und was willst nachher bei mir?« stöhnt der Greger.

»Ich wollt dir's sagen. Und noch was! Ich hab mein Gewissen in die Ruh gebracht, und jetzt wollt ich dir raten und … nein, helfen werd ich dir nicht können. Aber es wird das Gescheiteste sein, du gehst und gibst dich selbst an beim Oberamtmann. Es kunnt dir doch was nützen.«

Ein minutenlanges Schweigen folgt den Worten. Über das Tal und die Gehänge hört man den Sturmwind dahin brausen, und den übertönt fast das Keuchen und Atemholen des Greger.

»Du bist mir zu Hilf gekommen, Veri«, hebt endlich der Greger an. »Auf der anderen Seiten auch nicht. Wie man's nimmt. Aber schau, ich hab oft schon so geohrt im Stillen, derweil die anderen schliefen: Geh und verklag dich selbst! Aber das Weib und die Kinder! Und ich hab nie das Herz dazu funden. Aber jetzt muss es sein … Herausreißen wenn ich denselben Tag kunnt aus der ewigen Zeit, ich wüsst nicht, was ich darum gäb … Das Spiel! Das verdammte Spiel!«

Furchtbar aufstöhnend wendet er sich weg und geht in die Stube. Der Veri schreitet die Gred hinaus. Er will den Jammer und das Weh nicht hören. Wie von Hunden gehetzt, eilt er durch den tiefen Schnee dahin.

»Legfeigen!« schreit plötzlich etwas in seiner Brust. »Angerichtet hast den Jammer und trösten und anhören scheuest?« Jählings wendet er sich um und geht dem Hause zu. Schon von Weitem hört er schreien und jammern, und hart vor ihm eilt einer den Hang hinunter. …

*

In des Seebauern oberem Inhäusel, im Häuschen unterhalb des Sees, ist es still und schier öde geworden.

Früher sang die Sepherl jeden Tag, den der liebe Herrgott kommen ließ, vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. Ihr silberhelles Lachen füllte das ganze Häuslein, und in den Wäldern umher widerhallte ihr Singen. Ihr Vater hatte sich schon so daran gewöhnt, dass er schier verzagt wurde, als der halbtote Richter in seiner Stube lag und Lachen und Sang wie weggezaubert waren.

Aber die Zeit war vorübergegangen, und Sepherl war wieder fröhlich und aufgeräumt geworden, schier wie früher. Schier! Aber es war doch nimmer ganz so. Ihr Lachen war stiller geworden und ihr Sang schwermütiger. Die Raschheit, der schier übersprudelnde Übermut waren wie weggeblasen. Er machte sich weiter nicht viel überflüssige Gedanken darüber; er war froh, dass sein Sepherl wieder so war.

Und die wähnte inmitten des sich langsam über die Schwebe neigenden Sommers den Auswärts heranziehen. Tage des reinsten Glückes brachen an für sie. Auch am regnerischsten Tage wähnte sie die Welt voll eitel Sonnenschein und Glanz. An Sonntagnachmittagen saß sie wie gewöhnlich am See. Die hüpfenden Wellen, der dunkelgrüne Tann und die düster niederschauenden Felswände schienen von rosenrotem Lichte umflossen zu sein, und das Plätschern der Wellen, das Rauschen des Seebaches und das Säuseln der Lüfte im Geäste klangen ihr wie himmlische Musik.

Zu solcher Zeit ist jedes Herz so. Einmal im Leben lugt selbst in das verborgenste und unscheinbarste Kämmerlein ein Strahl jenes Glückes, wenn auch nur auf Augenblicke, um nachher die Finsternis desto schwärzer hervortreten zu lassen.

Dann war der Sonntag gekommen, wo der Lenz sie gefragt, ob sie sein Weib werden wolle. Ob sie wolle? Ja, wenn sie ganz sicher gewesen wäre, dass er sie nicht nur deswegen heiraten wollte, weil sie jede andere Entlohnung für die Wart und Pflege ausgeschlagen. Aber als sie daheim so gesonnen, waren die Zweifel geschwunden; sie hätte aufjauchzen mögen vor Freude, hätte es hinausschreien mögen in die ganze Welt: Er hat mich auch gern. Und dann war ihr wieder so angst und schwül geworden, dass sie hätte weinen können wie ein kleines Kind. Das Glück war zu groß für sie, viel zu groß, und so eines hält nicht lange. Es graute ihr vor dem Gedanken, dass es einmal jählings zerbrechen könnte.

Und es zerbrach. Wie denselben Frauentag alles gekommen? Sie kann es heute noch nicht mit Bestimmtheit sagen, aber sie war unschuldig daran. Kein ungerechter Gedanke hatte ihr Herz beschlichen, kein einziger, und wenn sie der Nazi meuchlings überrumpelt … Ja, was konnte sie dafür? Aber das Glück war zerbrochen …

Sepherl litt schwer darunter. Ihre Wangen, die sich nach den anstrengenden Nachtwachen, nach der ausgestandenen Angst und Sorge wieder zu röten begonnen, wurden merklich bleicher, und kein frohes Lachen wollte mehr über ihre Lippen kommen. Sie träumte am Waldsee, der ihr mit einem Male düster und unheimlich vorkam, und sie träumte schier auch bei der Arbeit.

»Sepherl, dich geht der Krank an«, mutmaßte eines Tages ihr Vater. »Du singst nimmer, du lachst nimmer, und allweil losest du umher wie ein krankes Biberl. Was fehlt dir?«

Aber sie schüttelte den Kopf. »Mir fehlt nichts. Ich bin so gesund wie von eh. Es muss der Herbst machen, dass eins nimmer so aufgelegt ist wie im Sommer.«

Der Christel schüttelte den Kopf. Der Herbst focht ihn nicht an. Ihm war der Sommer wie der Winter und der Auswärts wie der Herbst. Dass seine Sepherl anders wäre denn er? Er sann hin und her, aber er konnte es nicht herausbringen, was seinem Kinde fehlte.

Wenn Sepherl so am Ufer des Waldsees saß und die Wellen zu ihren Füßen hart und eintönig an das Gestein plätscherten und zwischen dem Glitzern und Flimmern die düstere, unergründliche Tiefe heraufgähnte, fuhr es ihr wohl öfter denn einmal durch den Sinn, dort drunten müsse es sich kühl und ruhig schlafen. Dort focht sie der Herbst nicht an und nicht der Gedanke an das zerbrochene große Glück. Aber dann kam ihr wieder der Gedanke an ihren Vater. Was würde der ohne sie anfangen? Zum Martin mochte er nicht hinunterziehen in den Pfarrhof, derweil er nicht hinpasste, das hatte er schon oft genug beteuert. Wer würde ihm den Haushalt führen und ihn in seinen alten Tagen hegen und pflegen?

Dann schlichen sich wohl auch kleine Tränlein in ihre himmelblauen Augen und kollerten die bleichen Wangen hernieder und fielen in den See …

Nun sind auch die Gänge zum düsteren Waldsee eingestellt. Berg und Tal, Gehänge und Gefelse deckt der Schnee, und Sepherl sitzt am Rocken und spinnt. Ihre Gedanken sonnen sich an vergangenen, glücklichen Tagen, und sie schreckt schier auf, wenn sie der kalten, öden Gegenwart gewahr wird. Die Gedanken zaubern ihr den Tanz vor am Ostermontag, wo sie das erste Mal in ihrem Leben mit einem Manne getanzt, mit dem Richter. Sie gleiten unmerklich weiter, bis sie ihr ein Bild vormalen, das ihr den Herzschlag hemmt: wie man den Halbtoten in die Stube brachte. Alle Angst und Qual durchkostet sie nochmals, aber die schwindet auch mählich, und süßes Glück umfächelt ihr Herz.

Draußen rüttelt der Wind an den Fenstern, und sie schreckt auf aus ihren Träumen. Alles vorbei … vorbei! Der Faden entgleitet ihrer Hand, er reißt entzwei und schlingt sich ums Geflügel der Spule.

Vorbei! Sie hat es dieser Tage unten bei der Kirche erzählen gehört, dass der Lenz die Seebäuerin heiraten wird. Er ist vorübergegangen an ihr, kalt und trotzig, als ob er sie nicht kennte, als ob sie ihm zeitlebens eine Wildfremde gewesen. Wie hart sie das angegangen! Noch nie in ihrem Leben war ihr etwas so schwer gefallen. Aber was nutzt alles?

Sie wickelt den Faden vom Geflügel los und spinnt weiter. Ihre Gedanken ziehen wieder ihre eigenen Wege, sie kommen und gehen, ungerufen und ungehindert. Überlings bleibt das Rad stehen, und sie starrt wie geistesabwesend nach den braunen Kacheln des Ofens. Ein Gedanke ist ihr durch den Kopf gefahren wie ein Sternschneuzer: nicht freiwillig lassen von ihrem Glücke!

Der Christel nietet am Schraubstocke ein abgebrochenes Sägeohr an. Er hört das Rad nimmer schnurren, und er sieht sich nach der Ursache um.

»Um Gottes Willen! Was hast denn, Sepherl?« fährt er erschrocken auf. »Ist dir schlecht worden? Was hat dich denn angangen?«

Die Dirn fährt zusammen und dreht wieder. »Nichts, nichts«, beruhigt sie ihn. »Ich hab gerad nur ein bissel gerastet und dabei ein wenig geohrt.«

Er klopft und hämmert wieder weiter, das Rädchen schnurrt wieder, und Sepherl zwingt die Gedanken nach einer Richtung. Starrer Trotz bäumt sich in ihrem Herzen auf; sie will nicht freiwillig lassen von ihrem Glücke. Sie will es zurückzwingen zu ihr. Zwingen? Als ob sich das Glück zwingen und nötigen ließe! Aber sie will. Nur das Wie macht ihr Kopfzerbrechen. Soll sie zum Lenz gehen und ihn bitten? Um keinen Preis! Soll sie der Seebäuerin ein gutes Wort geben, ihr das Glück nicht wegzuhaschen? Nein, niemals. Da kommt ihr der Gedanke an ihren Bruder, den Pfarrer. Wie der Anflug eines Lächelns huscht es über ihr bleiches Gesicht. Ja, dem will sie sich anvertrauen, will ihm ihre Not und ihren Kummer klagen und ihn um Hilfe bitten. Er kann gewiss helfen; er ist ja ein Pfarrer. Er kann beten oder sonst auf eine Weise bewirken, dass es mit der Heirat nichts wird und dass das Glück wieder zu ihr zurückkehrt.

Die ganze Nacht über sinnt und ohrt sie, und als der Morgen graut, zieht sie ihr einziges Sonntagsgewand an und richtet sich zum Gehen.

»Ist denn heut Sonntag?« wundert sich ihr Vater. »Ich hab gemeint, es ist erst zwei oder drei Tag her, seit der letzte Sonntag gewesen ist. Müsst ein Feiertag sein.«

»Es ist ein Werktag wie alle anderen«, beruhigt ihn Sepherl. »Ich geh nur so in die Kirche, weil ich nachher mit dem Martin etwas zu bereden hab. Ihr könnt schon fortarbeiten.«

Während er sich wieder in altgewohnter Weise an das Richten und Feilen der Baumsägen macht, die ihm die Holzhauer in den herrschaftlichen Wäldern beständig zutragen, steigt Sepherl die Hänge hinab. Sie sinnt sich schon zusammen, was sie dem Bruder alles sagen will und wie sie es vorbringen würde. Er ist ja so gut mit ihr und wird ihr gewiss helfen. Aber in die schimmernde Hoffnung mischen sich immer mehr und mehr Zweifel, und wie sie ins Tal hinab kommt zur Kirche, beginnt die ganze Hoffnung zu schwinden.

Sie läuten gerade zur Messe. Hastig huscht sie in einen der hintersten Stühle und betet um das verlorene Glück.

Als die anderen wenigen Leute aus der Kirche gehen, geht auch sie, und vor der Kirchentüre erwartet sie den Bruder.

»Sepherl, was führt denn dich heut herunter?« wundert sich der und bietet ihr die Hand zum Gruße. »Der Vater ist doch nicht etwa krank?«

Sie schüttelt den Kopf. »Er ist so gesund wie allweil. Ich bin nur gerad so herunter gangen, weil … weil es nicht so eilig ist um mich und … und weil ich dich um was bitten möchte.«

»Nun, so geh!« lädt er sie ein und führt sie in den Pfarrhof. Dem einen Chorbuben, der ihm sonst das Frühstück aus dem Wirtshause holt, trägt er auf, zwei Frühstücke zu bringen.

»Also was willst denn?« fragt er in der behaglich durchwärmten Stube. Aber gleich besinnt er sich anders. »Lass es derweil, bis wir gegessen haben, nachher sagst mir dein Anliegen. Gelt?«

Sepherl schützt zwar vor, dass sie ja daheim schon gegessen, aber es nutzt sie nichts. Das zweite Frühstück ist nun einmal da, und es muss gegessen werden.

Nach dem Essen zündet er sich eine lange Pfeife an und fordert sie auf, zu reden und ihm zu sagen, was sie bedrückt.

Sie hat sich die ganze Rede so gut zusammengesonnen und zurechtgelegt in währendem Heruntergehen, aber nun sie anfangen soll, weiß sie kein Wort mehr vom Ganzen. Tiefe Röte überzieht ihr sonst so bleiches Gesicht, und verlegen haftet ihr Blick auf den blank gescheuerten Dielen.

»Red, Sepherl«, ermutigt der Pfarrer. »Mir kannst alles anvertrauen, was dir auf dem Herzen liegt, alles. Denk dir den Pfarrer weg; ich bin ja so wie so dein Bruder, und was ich dir helfen oder raten kann, von Herzen gern, Sepherl. Sag nur gerad heraus, was dir am Herzen liegt!«

Die Rede, noch mehr aber der herzliche Klang seiner Stimme macht ihr Mut. Es ist ja doch ihr Bruder, auch wenn er Pfarrer ist, und Geschwisterlieb lässt auch ein schwarzer Pfarrerrock durch. Schüchtern und stockend fängt sie an, ihm ihr Herzeleid zu klagen, aber mählich kommt die Rede mehr in Fluss, und in kurzer Zeit weiß er alles.

Dichte Rauchwolken entströmen seiner Pfeife, und seine Augen hängen besorgt am blassen Gesichte des Schwesterleins. Er kann sich keinen Begriff machen von dem Kummer des Dirnleins, aber wie er das bleiche Gesicht mit dem vergleicht, das sie gehabt, als er sie zum ersten Male gesehen, wird er sich dessen klar, dass das Leid kein kleines sein mag.

»Und du trägst wirklich keine Schuld an dem Umschwunge?« fragt er zweifelnd.

»Nein!« schreit sie fest. »Nicht einen bösen Gedanken hab ich gehabt, keinen einzigen.«

Er beginnt die Stube auf- und abzugehen. Leichte Falten ziehen sich auf seiner hohen Stirn zusammen, und tiefes Mitleid schleicht in sein Herz.

»Was soll ich dir raten?« hebt er dann unschlüssig an. »Ich kann dir auch nicht helfen. Das eine nur muss getan werden: Klarheit in die Sache zu bringen. Du darfst nicht in falschem Lichte erscheinen. Kein Mensch darf Böses von dir denken … Bist du mit seiner Schwester gut?«

»O ja. Wir haben uns all zwei geängstigt genug um ihn.«

»So erkläre der den Sachverhalt, aber nicht in einer Weise, dass es unrecht aufgefasst werden könnte. Hörst du? Es darf nicht einmal den Anschein haben, als wenn du auf Herstellung des früheren Verhältnisses abzieltest. Deine Ehre muss dir allweg das Höchste sein. Und dann … das Weiter dem lieben Gott überlassen. Ist's sein Wille, dass ihr zusammenkommt für das Leben, nimm es mit Dank an aus seiner Hand und habe ihn allzeit vor Augen. Ist es sein Wille nicht, füge dich in seinen Willen: er meint es jedem zum Besten. Oft meint eins: ja, wie kann der Herrgott nur so etwas zulassen, er ist doch die Gerechtigkeit selber. Und dennoch tut es ihm unrecht. Es hat nicht die Gabe, in die Zukunft zu schauen und zu erkennen, was alles damit bezweckt wird. Aber wenn Jahre und Jahre vorübergezogen und wenn es dann zurückschaut und nachdenkt, es wird allemal finden, dass der Weg doch der richtigste gewesen, den er gezeigt und gewiesen. Und ist es also sein Wille, nachher vergiss, Sepherl, vergiss! Es mag ja schwer sein, ich glaub dir's; aber alles bringt der Mensch zuwege, was er ernstlich will. Und dann: vielleicht kommt eine Zeit, wo dir das Glück, das du jetzt so hart missest, klein und nichtig erschiene gegen ein anderes.«

Der Sepherl rollen die hellen Tränen herb über die Wangen, derweil ihr geistlicher Bruder so redet. Vergessen! Ja, er hat gar leicht zu reden, durch seinen Pfarrerrock hindurch ficht ihn nichts an. Aber sie? Nein, sie kann nicht vergessen, sie will nicht vergessen; sie will nicht lassen von ihrem Glücke. Es fällt ihr ein, dass sie sich auch vorgenommen, ihn zu bitten, er möge durch Beten oder Anwenden der Schwarzkunst den Lenz und die Seebäuerin auseinander bringen. Er wird's ja können auf die oder jene Weise. Sie hat schon öfter denn einmal erzählen hören, dass jeder Pfarrer die schwarze Schul durchmachen müsse, so wird sie auch er, der Martin, durchgemacht haben und die Künste kennen. Aber nach dem, was er ihr bereits geraten, getraut sie sich nimmer, ihn darum anzugehen.

»Lass das Flennen und folg mir!« bitte er sie fast.

Sie nickt nur dazu, steht vom Stuhle auf und richtet sich zum Gehen. »Ich dank dir, Martin!« stammelt sie und eilt hinaus.

Der Pfarrer sieht ihr durch die leicht angefrorenen Fensterscheiben eine Weile nach und schüttelt ab und zu den Kopf. Dann geht er hastig die Stube auf und ab.

In dem großen Kachelofen knistern und sprühen die Buchenscheite, und in seinem Kopfe kreuzen sich die verschiedensten Gedanken.


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