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Im Hüttenhofe ist Steuer- und Gerichtstag.

Die drei Geschworenen sitzen am großen Ecktische, über dem wie in fast jedem Bauernhause eine Glaskugel hängt mit einer schlecht nachgebildeten Taube darin, die ein Scheibchen im Schnabel hält und den Heiligen Geist versinnbildet. Während der Lenz von dem und jenem die verhältnismäßig kleine Abgabe einhebt, die Münzen in ein irdenes Schüsselchen wirft und den Betrag in ungelenken Zügen auf einem Blatt Papier anmerkt, unterhalten sie sich von dem und jenem oder machen ein Späßchen.

»Das Steuerzahlen ist eine dumme Einrichtung«, brummt der Sterl, als er seinen Betrag auf den Tisch zählt. »Und das allerdümmste ist, dass wir Steuer zahlen müssen, wo uns in einem Gnadenbriefe zugesagt ist worden, dass wir niemandem zu ewigen Zeiten zinsbar sein sollen.«

»Mach's anders!« schupft der Lenz die Schultern. »Es ist einmal so. Was das Kreisamt vorschreibt, muss zahlt werden.«

Derweil kommt der Schullehrer, der dem Richter als Schreiber dient, ein kleines, hageres Männlein mit ewig lächelndem Gesicht und trotz der grauen Haare und grauen Bartstummeln kindlich-freundlichen Augen. Rasch schneidet er sich einen Kiel zurecht und trägt die vom Richter angemerkten Beträge ordnungsgemäß in den hierzu bestimmten Bogen ein.

Es ist ja wahr, dass das Gebiet des königlichen Waldes, Hwozd genannt, einmal die Zusicherung erhalten, dass seine Bewohner niemandem zinsbar sein sollten, »zu ewigen Zeiten«. Aber du mein'! Es geht ja des Öfteren so. Aber trotzdem dies anders geworden, ist der Steuerdruck kein so hoher wie anderwärts, wo der Bauer in ausgesprochenem Untertänigkeitsverhältnis zu einer herrschaftlichen Grundobrigkeit steht. Aber dennoch steht die Steuer im Widerspruche zu den Gnadenbriefen.

Im Jahre 1040 soll der Böhmenkönig Bretislav I. die Chodenmark gegen ihm unliebsame Störungen seitens seiner deutschen Lehensherren, der deutschen Kaiser, und ein Jahr danach, als der selige Gunther dem Kaiser Heinrich III. den Weg durch das damals unwegsame Gebirge nach Prag gewiesen, die Mark des Künischen Waldes errichtet haben. Es ist jedoch nicht gewiss. Unzweifelhaft aber ist es, dass dem seligen Gunther gar mancher Ort des Waldgebirges sein Entstehen verdankt, gar manche Siedlung, dass die nachmaligen Gaugrafen von Bogen, die ehedem das Gebiet bis Schüttenhofen und Winterberg besaßen, viel zur Besiedlung taten, und dass die Herzogen von Böhmen geflissentlich deutsche Siedler herbeiriefen – als »Kulturdünger«. Die erste Bevölkerung des Künischen Waldes war entschieden eine deutsche, und sie ist es trotz Sturm und Wettern geblieben; sie hat sich nicht so sehr als Schutzwehr gegen reichsdeutsche Einfälle in böhmisches Gebiet bewährt, als vielmehr als felsenfeste Mauer wider das Vordringen des Slawentums.

Die Pioniere der Kultur waren wohl im ganzen Walde die deutschen Glasmacher. Der ungeheure Holzbestand reizte sozusagen zum Verbrauche. Rasch war eine backofengroße Gewölbhaube gebaut, die kleinen Häfen – meist im Durchmesser kleiner Teller – eingesetzt, und an Feuerung war keine Not. Die »Hütte« war auch ebenso rasch an einen anderen Ort verlegt, sobald das Holz nicht mehr nahe genug zu haben war, und auf dem ausgerodeten Stücke Landes schaffte nun der Bauer weiter. In fast jedem Orte des Gebietes verweist ein Name auf solche Gründung, oder wenn schon der Name nimmer geblieben, so meldet die mündliche Überlieferung davon.

Bei dem Hüttenhofe war der Name geblieben, und die Leute mochten nicht mit Unrecht sagen, er sei ehedem der erste Hof im Gerichte gewesen. –

Der Schullehrer zieht einen dicken Strich über die Seite und zählt die eingezahlten Beträge zusammen. »Es stimmt«, vermeldet er.

Der Lenz sieht sich die Zahlen an und nickt beifällig. Also das wäre abgetan. Das Steuereinheben ist eine wichtige Sache; verrechnet sich einer dabei, kann er den sich allenfalls ergebenden Fehlbetrag aus eigenem Beutel ersetzen.

»Und was habt Ihr?« wendet er sich danach an zwei in der Mitte der Stube stehende Bauern, die jeder nach einer andern Seite sehen, damit sich ihre Blicke nicht treffen.

»An unserer Markung ist sein jeher eine Buche gestanden«, fängt der eine an, ein etwas vernagelt dreinschauender Mann, »eine Markbuche, wie man sagt. So einen Baum darf nicht der abschneiden und nicht der, wenn es dem andern nicht recht ist, weil er allen zwei gehört. Aber der Veitl geht dieser Tag her, schneidet die Buche ab und führt sie weg. Sel darf er nicht tun, weil ich nicht gefragt worden bin.«

»Hast du die Buche abgeschnitten, Veitl?« fragt der Lenz den andern, einen struppigen, rothaarigen Mann von ungewöhnlicher Größe.

»Nun, ja«, gibt der zu. »Ewig kann der Baum nicht stehen bleiben, und der Simmerl ist nicht dahin zu bringen gewesen, dass er mittut.«

»Hast denn das nicht gewusst, dass so ein Baum nicht von einem allein abgeschnitten werden darf, weil er beiden gehört zu gleichen Teilen?«

»Schon. Aber die Äst sind mir so weit ins Feld hineingehängt und die Wurzeln … Und der Simmerl hat nie wollen.«

»Da bist du entschieden im Unrecht. Das darf einmal nicht sein, und wenn es einem hingeht, kann es morgen oder übermorgen ein zweiter auch tun. Du bist strafbar …Wie viel verlangst du für deinen Teil?« wendet er sich an den Simmerl.

»In dem Fall will ich einen Fünfer für meine Hälfte«, fordert der.

»Und was legt ihr dem Veitl für eine Buß auf?« fragt der Lentz die Geschworenen.

»Halt auch einen Fünfer«, beantragt der Gereuter.

»Seid ihr alle einig?«

»Es ist nicht zu übertrieben«, gibt der Wolferl zu.

»Also die Sach ist geschlichtet.« Der Lenz nimmt einen armdicken und etwa armlangen, aus Ruten geflochtenen und mit einer ledernen Handhabe versehenen, schwarz angestrichenen Prügel in die Hand, das »Recht«, das auf dem Tische liegt, und spricht das Urteil. Der Veitl hat für den Frevel fünf Gulden Buße zu leisten und dem Simmerl für die ihm gehörige Hälfte des Baumes fünf Gulden als Ersatz zu zahlen.

Der Veitl legt die fünf Gulden Buße sofort auf den Tisch, bezüglich der anderen fünf aber verlegt er sich auf Unterhandlungen mit seinem Streitgegner. Er fasst ihn am Joppenärmel und zieht ihn mit sich hinaus.

Nun kommt ein Weib daher mit einem Buben an der Hand, der den Kopf unförmlich eingewickelt trägt.

»Ist der Nazi noch nicht da?« fragt der Lenz.

»Ich hab ihn nicht gesehen«, verneint das Weib. »So ein grober Kerl! Schlägt er das Büblein wie nicht gescheit und … Da schaut nur an!« Sie wickelt die um den Kopf des Buben gebundenen Tücher los, zieht das Jöpplein vom Körper und weist die blauen Flecken und die Beulen, die der Bub hat.

»Ja, zwegen was hat denn der Nazi den Buben so geschlagen?«

»Du liebs, rotgoldenes Herrgottl! Zwegen was denn? Wie es halt an manchem Tag so heiß ist, biest das Vieh eh leicht. Und da ist die Stierfliege unters Vieh, und das geht dahin wie in die Höll und in der Seebäuerin ihren Hafer hinein. Mein', was kennt denn das dumme Vieh in seiner Wildnis? Das Bübl rennt nach und will abretten; da kommt der Nazi daher und verschandelt es so.«

Der Gereuter atmet tief auf. »Was halt ein ungeschonter Kerl ist, der bleibt einer, bis er stirbt«, entrüstet er sich. »Er muss eine Buß kriegen, dass er eine gute Weil daran denkt.«

»Was recht ist … alles, was recht ist!« stellt sich der Wolferl für seinen Bruder zur Wehr. »Sel geht nicht, dass einem mit dem und einem anderen mit jenem Maßl gemessen wird.«

»Im Amt musst keinen Bruder kennen«, stellt der Lenz vor.

»Eh nicht … eh nicht. Aber alles, was recht ist.«

Derweil kommt der Nazi daher. Ein höhnisches Lächeln umspielt seinen Mund, und die Äuglein blinzeln und schillern. Wer ihn so zum ersten Male sähe, den überliefe eine Gänsehaut. Aber die Anwesenden sind das Gesicht von jeher gewohnt.

»Also, was wollt ihr von mir, Männer?« fragt er kurz. »Müsst es aber kurz machen, weil ich nicht Zeit hab, dass ich mich herstell zu euch.«

»Red ein bissel anders, Nazi!« mahnt ihn der Lenz. »Sonst sind wir wohl Nachbarn, aber heut ist Gerichtstag, und wir sind nicht der und der, wie wir dasitzen. Wir sind Richter und Geschworene im Königlichen Waldhwozder Freigericht und anstatt der ganzen Gemeine und des Rechtes da. Davor soll jeder Achtung haben und …«

»Spar dir deine Red! Sag lieber, was ihr mir wollt!« unterbricht ihn der Nazi.

Des Richters Blick verfinstert sich, die Stirn legt sich in Falten, und die Augenbrauen ziehen sich wie Dächlein über den Augen zusammen. »Magst den Brauch halten oder nicht?«

Der Nazi zuckt mit der Schulter, sagt aber doch nichts mehr dagegen.

»Hast den Buben geschlagen?«

Der Nazi sieht ein Weilchen unschlüssig nach seinem Bruder, dem Wolferl. »Nein«, sagt er dann trotzig. »Beweist mir's!«

»Ich frag dich gerad! Hast ihn geschlagen oder nicht?«

»Wie oft soll ich's denn sagen? Verstehst leicht nimmer deutsch? … Damit, mein ich, sind wir schon fertig, wenn's sonst nichts ist.«

Dem Richter schwellen die Stirnadern an, sein Gesicht wird dunkelrot, und die Hand, die nach dem »Recht« greift, zittert sichtlich vor Erregung. »Ich sag dir's zum letzten Mal!« warnt er, sich sichtlich mühsam beherrschend.

»Wenn er's nicht gutwillig eingestehen will«, hebt der Mirtl langsam an, »so muss es halt bewiesen werden. Ich weiß es, ich hab's gesehen. Ich hab die Brach geeggt zur selben Zeit, hab den Buben schreien hören, und wie ich umgeschaut hab, was es gibt, hab ich den Nazi mit meinen eigenen Augen gesehen. Einen anderen Beweis braucht's nach meinem Gutachten nicht.«

»Hoho!« lacht der Wolferl zornig auf. »Seit wann ist's denn der Brauch, dass ein Geschworener Zeugenschaft gibt?«

»Du mischest dich jetzt nicht drein!« gebietet der Lenz und schlägt mit dem »Recht« auf den Tisch. Damit muss jeder Zwiespalt unter den Geschworenen und jede Meinungsverschiedenheit aufhören nach altem Recht und Gebrauch. Das »Recht« hat gesprochen.

»Leugnest noch?« wendet sich der Lenz an den Nazi. »Der Mirtl ist ein Zeuge, der nicht da und dahin zieht. Du bist überwiesen.«

»Höllsakra!« schreit der Nazi auf, und die Stimme schlägt ihm dabei über. »Wenn's da so zugeht und wenn du so ein Richter bist, nachher … Ich geh, ich hab nichts mehr zu suchen da. Lumpen ihr!«

Er will sich abwenden, aber mit jähem Griffe hat ihn der Lenz an der Schulter gepackt und reißt ihn herum. »Da bleibst und stehst Red und Antwort!«

»Du …« Er bringt nichts mehr heraus. Seine Augen funkeln schier grasgrün, und die Zähne knirschen hörbar aufeinander. »Du … du Baderlackl! Das schreib dir fein auf!«

Dem Lenz wird es rot und grün vor den Augen. Wuchtig saust das »Recht« nieder auf die Schulter des Burschen, dass sich der zusammenkrümmt.

Aber mit einem Sprunge ist der Gereuter bei ihm und fängt den zu einem zweiten Schlage ausholenden Arm auf. »Richter! Nicht … nicht!« wehrt er ab. »Das nutzt bei so einem Menschen nicht. Heb das Gericht auf, und übertrag die ganze Wäsch dem Oberrichter in Wüstritz. Der Oberamtmann wird den Lümmel schon katholisch machen.«

Nun springt aber auch der Wolferl auf und packt seinen Bruder am Arme. »Gestehst es ein, wenn's wahr ist!« schreit er ihn an. »Du Mistbub, du! So eine Aufführung unter den Leuten und vor Gericht! Schämst dich nicht? »Und ich muss dein Bruder sein!« Er weiß eben, wenn der Oberamtmann die Sache in die Hände nimmt, kriegt sie ein ganz ander Gesicht, und der Nazi kommt ein paar Wochen ins Loch und kriegt täglich eine gut gesalzene Mahlzeit. Und für ihn ist es nicht die größte Ehre.

Der Lenz hat seine Fassung wieder erlangt. »Setzt Euch nieder!« schafft er den beiden Geschworenen. »Also, wie ist's?« fragt er den Burschen. »Gestehst es ein, oder lassest es weiter kommen?«

»Ja«, brummt der kurz.

»Hast das Bübl so verschandelt und geschlagen?«

»Ja.«

»Ich an deiner Stell tät mich in Grund und Boden schämen, wenn ich mich an einem vergreifen tät, der mir nicht gewachsen ist, und nachher leugnen … lügen … Wenn das Vieh einen Schaden zugerichtet hat, hätt der Schleifer, bei dem der Bub dient, den Schaden gut machen müssen. Dafür haben wir das Gericht. Siehst das nicht ein? …«

Der Nazi sagt nicht schwarz, nicht weiß; er stiert auf die Dielen nieder und zuckt mit keiner Wimper.

»Was sprecht ihr für eine Buß aus?« wendet sich der Lenz an die Geschworenen.

»Der Röder hat halt in einem ähnlichen Fass vor ein paar Jahren zehn Gulden Rheinisch zahlen müssen«, erinnert der Wolferl, besorgt, es könnte ein höherer Bußsatz vorgeschlagen werden.

»Sel ist aber gerad eine Kleinigkeit gewesen dagegen«, meint der Mirtl.

»Es bleibt dabei«, bestimmt der Lenz. »Von Rechts wegen gebühret ihm mehr; aber es soll keiner meinen, dass ich im Amt eine Rachgier üb. Seid ihr alle einverstanden?«

Die Geschworenen nicken zustimmend, und der Lenz spricht das Urteil.

»Hast Geld?« fährt der Wolferl seinen Bruder an.

»Nein.«

Er greift nach dem Beutel und zählt die dreißig Zwanziger auf den Tisch. »Zahl es ich derweil. Und dass du es weißt: ich zieh mir es von deinem Erbteil ab.«

Die Türe herein stürzt Kathl, die Großdirn, und hinter ihr drein die Philomene.

»Bauer … Lenz! Den Schreiner-Velten haben sie umgebracht. In der Bärenau unten haben sie ihn gefunden – mausetot.«

Alle schauen erschreckt nach den beiden Dirnen, und der Nazi benützt die Gelegenheit und macht sich davon.

»Wart, Baderlackl!« knirscht er, als er über die Gred hinausstapft. »Wart nur! Einer Katz wenn man auf die Pfoten tritt, so schreit sie und … und ich sollt das dulden? Wart nur! Überlings wird sich's schicken. Geschworen hab ich dir's schon früher.« Zähneknirschend eilt er gen den Seehof hinüber.

»Dass es wahr ist?« vergewissert sich der Lenz.

»Nun, ja so. Des Veitls und des Sterls Hütbub haben ihn g'funden«, berichtet Philomene. »Mein Gottl! So ein Unglück!«

»Männer, das Gericht ist aufgehoben«, wendet sich der Lenz an die Geschworenen. »Ich geh' vom Fleck weg in die Bärenau. Leicht, dass noch zu helfen wär. … Und wenn nicht, es steht mir zu.«

»Ich geh schon mit«, entschließt sich der Gereuter. »Ich auch … ich auch«, die anderen zwei. Nur der Schullehrer geht nicht mit. Er ist eine viel zu weichherzige Natur zu so etwas. Er kann kein Blut sehen, ohne dass ihm über wird, und ein Totes, das nicht an gebräuchliche Weise verstorben, schon gar nicht. Er steckt die Federn in die dazu gerichtete Papierscheide, nimmt das Richtscheit in die Hand und geht heimwärts.

Der Lenz aber und die drei Geschworenen hasten der Bärenau zu. Die ist ein kleines Moor auf dem Wege vom Höhwirtshäusel gegen die Mitte der Gerichtsgemeine und im vertrocknen. Am Rande des davor liegenden Wäldchens reden und deuten schon ein paar Weiberleute, und eine neugierige Kinderschar steht um sie her.

»Wo liegt der Veit?« fragt sie der Lenz hastig.

»Unten, am Weg, gerad neben des Sterls Kreuz.«

*

Im Hüttenhofe wird in aller Herrgottsfrühe in der Stube gefegt und gescheuert. Kaum dass die Sonne recht emporlugt über die Berge, ist alles fertig. Dann setzen sie sich zur Morgensuppe nieder, und jedes bekommt seine Arbeit zugewiesen für den Tag. Später könnte keine Zeit mehr sein dazu.

Bartl, der Großknecht, ist gestern noch nach Bystritz gelaufen ins Oberamt und hat dort den vorgefallenen Mord gemeldet. Der Lenz hat ihn geschickt, weil es so seine Pflicht ist; die Gerichtsbarkeit über Verbrechen steht unbestreitbar dem Oberamte zu, das eine Art Oberherrlichkeit und Vormundschaft über die sechs oberen Gerichte des königlichen Waldes sich angemaßt hat. Für die drei unteren hat dies das Oberamt in Stubenbach getan.

Und da kann der Oberamtmann alle Augenblicke kommen. Aber er lässt sich augenscheinlich Zeit. Er ist der Höchstgebietende weit und breit, und wie er es tut, muss es recht sein. Da kann ihm nicht einmal der Fürst von Hohenzollern viel dareinreden.

Es wird gegen halben Vormittag, und er kommt noch nicht. Der Lenz geht unruhig hin und wider. Die Saumseligkeit des Oberamtmannes empört ihn. Wenn er ihm so seine Meinung flottweg ins Gesicht sagte?

Da stürmt der Hütbub herein.

»Wisst ihr, wer den Schreiner-Veiten erschlagen hat?« keucht er, schier vor Atem. Doch wartet er nicht erst eine Antwort ab. »Der Gereuters Hannes ist's gewesen.«

Mit einem Sprunge ist Philomene bei dem Buben. »Lüg nicht! Lüg nicht!« presst sie heraus, und ihr sonst so rosiges Gesicht wird bleich und fahl.

»Wahr ist's«, bestätigt der Bub. »Die Leute sagen es.«

Philomene findet kein Wort mehr. In ihrem Kopfe wogt und stürmt es wild durcheinander, ihr Atem geht schier pfeifend, und die Hand lässt den Buben los und sinkt schlaff hinab.

Lenz sieht seine Schwester einen Augenblick an; er weiß genug. »Haben sie leicht gerauft?« fragt er den Buben.

Der Bub schupft die Achseln. »Auf dem Heimweg aus dem Wirtshause soll der Hannes dem Veites aufgepasst und ihn nachher totgeschlagen haben. Er soll's schon früher verlauten haben lassen, dass er den Veit und den Greger einmal umbringt, weil sie seinem Vater das Ochsengeld abgespielt haben.«

»Jetzt schau nur wieder nach dem Vieh!« mahnt der Lenz den Buben. »Es kunnt gar leicht einen Schaden machen.«

Der Bub geht wieder.

»Der Hannes! Der Hannes!« sinnt der Lenz. »Das kann eine schöne Geschicht werden!«

»Der Hannes ist's nicht gewesen; er kann es nicht gewesen sein. Die Leut werden halt nach seinem Herumreden mutmaßen«, legt sich Philomene für den Hannes ein. Dass sie von der Unschuld des Burschen voll überzeugt ist, sagen die Worte deutlich.

»Wie weißt du denn das?« forscht der Lenz neugierig.

»An dem Sonntag, gerad wie der Pfarrer das erste Mal heraufkommen ist zu dir, da hat's der Hannes gesagt. Draußen beim Gartl sind wir gesessen im Schatten, und der Hannes ist auch kommen. Und wie die Red schon auf allerhand kommt, so hat er von dem verspielten Ochsengeld erzählt und eine Weil gebrummt. Gesagt hat er schon, dass er die zwei zu Leib nimmt, aber er ist nachher doch abgestanden davon. Die Seebäuerin hat's auch gehört.«

»Derweil kunnt ihm längst wieder anders worden sein … Und nachher: Kannst denn auch auf so einen Hütbubenschwatz was geben?« Er geht wieder hin und her, sinnt über die Mordgeschichte, über die Rede des Hütbuben und über die Entdeckung, die er an der Schwester gemacht. Und dabei spinnen seine Gedanken schön langsam und still hinüber, bis sie beim See oben sind und inmitten der Öde und Wildnis ein Wasserweiblein malen mit himmelblauen Augen und wallendem, flachsblondem Haar.

Ein lindes Lächeln gleitet dabei um den Mund des Richters, und seine Augen beginnen zu glänzen. Es ist auch nicht das erste Mal, dass er so sinnt; er denkt gern an den Ostertag zurück, und selbst der Traum hat ihm die Stunde schon oftmals vorgezaubert. Und warum soll er es nicht tun? Ist's ein Unrecht? Wenn ihm auf des Nachbarn Grund drüben ein Blümlein gefällt, darf er es nicht anschauen und nicht daran denken, sooft er will? Aber – nicht abreißen. Sel wär ein Unrecht. Und wenn er an der schlichten Schönheit der Dirn sein Wohlgefallen hat, wie am Blümlein auf des Nachbarn Grund? Weiter kann es ja so nichts sein. Er ist der Bauer am Hüttenhof und der Richter und hat, wenn er einmal heiraten soll, nach einer Braut auszuschauen, die ihm gleich steht an Ansehen … in allem. Seine Gedanken spinnen weiter und malen ihm die Zeit vor, wo er einmal verheiratet sein wird. Unwillkürlich schauert er zusammen. Das ganze Gemälde ist so trostlos und öde wie die Gegend draußen im Flachland, wo er die Baderei gelernt, wenn die Herbstwolken darüber hineilen und kein Sonnenstrahl durch das Gewölke dringt.

Endlich kommen die Bystritzer. Er fährt schier zusammen, als er ihre Tritte hört. Voran ein stämmiger Überreiter mit blinkendem Pickelhelm, aber zu Fuß, und hinterdrein der Oberamtmann und sein Schreiber.

Dem Oberamtmann sieht man es auf den ersten Blick an, dass er sich seiner Macht und Gewalt wohl bewusst ist. Auf den Willkommgruß des Richters hat er nur ein herablassendes Kopfnicken.

»Also, wie steht der Fall?«

Der Lenz erzählt, auf welche Weise sie gestern von dem Verbrechen Kenntnis erlangt hatten; dass sie gleich an Ort und Stelle gegangen und sich überzeugt hätten. Er als gelernter Bader sei der Ansicht, dass der Veit mittels eines Schlages auf den Kopf getötet worden sei. Mehr wissen er nicht, zumal die Untersuchung des Falles nicht ihm zustehe.

Wieder ein billigendes Kopfnicken; dann gehen sie in die Bärenau, wo der Erschlagene gelegen.

»Halt dir die ganze Gegend im Gedächtnis!« schafft der Oberamtmann dem Schreiber; nachher gehen sie in das Häusel des Schreiner-Veit.

Der Tote liegt aufgebahrt auf einem Brette, sein Weib und zwei Kinder sitzen auf der Ofenbank und flennen, und der Pfarrer steht bei ihnen und tröstet.

Im Besenwinkel aber drängt sich ein Haufen Neugieriger zusammen und flüstert und deutet, wie der Richter mit dem Oberamtlichen eintritt.

»Wer hat's getan?« fragt der Oberamtmann kurzweg.

»Wer? Ja, wenn das jemand bestimmt wüsste, nachher wär es ein Leichtes. Aber wer ist denn dabei gewesen? Die Leute sagen halt allgemein, des Gereuters Hannes sei es gewesen, weil er sich an den Zwei wegen des verspielten Ochsengeldes hat rächen wollen.«

»Sagen! Sagen!« rügt der Lenz die Vorlauten. »Wo es sich um so etwas handelt, müssen Beweise sein.«

»Mein Lieber, das versteht Ihr nicht«, lächelt ihn der Oberamtmann bedeutungsvoll an. »Das judizielle Richteramt will studiert sein … Was willst du sagen?« wendet er sich an einen sich vordrängenden Burschen, den Nazi, der alles liegen und stehen gelassen hat daheim, als er die oberamtliche Abordnung gesehen hat.

»Zu mir hat er es öfter wie einmal gesagt, dass er die zwei noch totschlägt«, behauptet der mit einem eigentümlichen Seitenblick auf den Richter. »Und zu meiner Schwester, der Seebäuerin, hat er es auch gesagt, und dem seine Schwester ist auch dabei gewesen.«

»Wo solche Leute Zeugenschaften ablegen, da geh ich«, sagt der Lenz trutzig und wendet sich der Türe zu. »Behüt Gott, Oberamtmann!« Die hochfahrende Weise widerte ihn an. Wie der Mensch nur gar so viel aus sich machen kann? Freilich befand er sich bei den Freisassen, denen gegenüber man gern die Überlegenheit herauskehrte. Und dann gab er auf die Aussage dieses Menschen kaum etwas. Er, der Lenz, hatte genug. Seinetwegen sollten sie tun, was sie wollten …

Als die Bystritzer heimgehen, nehmen sie den Hannes mit. Sie wollen ihn in Ketten legen, aber er versichert, dass er keinen Fluchtversuch machen wolle, und sein Vater, der Gereuter, stellt sich und seinen Hof als Bürgschaft.

Wie ein Narr fährt der Gereuter herum im ganzen Hof. Das Gespiel, das sakrische Gespiel! Der Bub muss jetzt büßen dafür! Und er ist unschuldig, so unschuldig wie die Sonne. Er hat es in seinen Augen gesehen, und die trügen nicht … das sakrische Gespiel!


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