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3

Von den Wiesen herauf zieht sich der süße Duft des aufgeschöberten Heues, und im Garten vor den Fenstern des Hüttenhofes entfalten sich die ersten Rosen. Unter dem Apfelbaume draußen an der Gartenecke sitzen Philomene und die Seebäuerin auf dem frischgrünen Rasen, und der Sepperl haspelt von einer zur anderen. So viel Schwenkungen er auch macht und so viel spaßige Stellungen, keine bringt es weiter als bis zu einem gelinden Lächeln; auch die Seebäuerin nicht.

Das hat wohl seinen Grund in der Trauer um den vor nicht ganz drei Wochen schier jählings verstorbenen Ähnl im Hüttenhofe. Und deswegen ist die Seebäuerin zumeist herübergekommen zu trösten und zu zerstreuen, derweil ja auch gerade Sonntag ist.

»Du musst die Sach viel leichter nehmen«, redet sie der Philomene zu. »Das Abstrubeln und das Abkränken, sel nutzt nichts. Sterben muss ein jedes, und wann der Herrgott ruft, muss es einem recht sein.«

»Nun, ja freilich«, gibt die zu. »Wahr hast ja; es ist so. Aber hart kommt's eins halt derentwegen an.«

»Und der Lenz soll den Fall auch leichter nehmen …«

»Mein'! An dem kennt sich keins aus, wie ihm ist. Er sagt nicht so und nicht so; er hat nicht einmal gejammert, wie er im Herbst den Fuß abgebrochen hat. Und nachher verwindet ein Männerleut einen Schlag leichter als wie unsereins.«

Sie Seebäuerin spielt während der Rede im blonden Haargelock des Buben, und sie gibt der Philomene in Gedanken recht: An dem kennt sich keins aus, wie ihm ist. Und sie wüsste es so gerne.

Von der an der Mittagsseite des Backofens gelegenen Immhütte herüber schleicht sich lächelnd ein Bursche. Er hat den in zwei ausgehöhlten Baumstämmen hausenden Tierlein schon eine Weile zugeschaut, wie sie sich im Sonnenscheine tummeln ohne Rast und Ruhe. Nun duckt er sich hinter die Rosenstaude, bricht ein Knösplein ab und wirft es nach der Philomene, trifft aber den Buben.

Mit einem Rucke fahren die zwei Weiberleute herum.

»Was ist denn das wieder für ein Brauch?« entrüstet sich Philomene.

»Ein elendig schlechter«, lacht der Bursche hinter der Rosenstaude. Er ist des Gereuter Ältester, der Hannes.

Die Entrüstung schwindet auf dem Gesichte des Dirnleins, und eine leichte Röte überzieht es. »Wie leicht hättest den Sepperl ins Aug treffen können?« schilt sie.

Die Seebäuerin hat sich im Nu ausgekannt, wie die zwei mitsammen stehen. »Die Philomene hat schon recht«, bestätigt sie. »Es ist ein elendig schlechter Brauch, mit Rosenknöspchen zu werfen. Aber zur Straf gehst her und setzest dich zu uns, so lang, bis wir dich gutwillig fortlassen.«

»Die Straf wird schon zu verbüßen sein«, lacht der Hannes, schlendert herbei und setzt sich den zweien gegenüber. »Aber gar zu lang müsst ihr mich doch nicht sitzen lassen. Ich hab noch ein Geschäft beim Sengenmüller. Und eine Weil bin ich schon bei den Immen gestanden und hab ihnen zugeschaut, weil die Leut sagen, die Tierlein verstürben auch, wenn ihr Herr stirbt. Aber sie sind so frisch und aufgelegt wie von eh und richten sich gar nicht zum Sterben. Es wird doch nichts daran sein.«

»Ich hab auch schon öfter so geschaut«, gibt Philomene darauf. »Sie richten sich nicht dazu. Es wär auch schad um sie. Ich hab die Vieher so gern und der Lenz auch. Und nachher … Sie werden wohl kaum versterben müssen, weil die Wirtschaft schon lange dem Lenz zugeschrieben ist, und da gehören die Immen auch sein.«

»Siehst, das wird's sein.«

»Ich halt nicht viel auf so ein Gerede«, mischt sich die Seebäuerin darein. »Es wird oft gar viel geredet, und ist nicht wahr.«

»Es soll schon was daran sein«, beharrt der Hannes.

»Meinethalben auch«, meint die Seebäuerin leichthin. »Aber weil du schon gerad in der Straf sitzest, jetzt wirst auch sagen, seit wann eins am Hüttenhof vorbeikommt, wenn es vom Gereuter zum Sengenmüller gehen will.«

Der Hannes errötet ein Merkliches. »Sonst nicht«, wehrt er sich. »Aber ich hab gerade was beim Bergmichel zu tun gehabt, und da hab ich es halt auf einen Weg genommen. … Ich muss in die Mühl um zwei Ochsen, was der Vater heut Vormittag gekauft hat.«

»Weil gerad die Red ist davon«, fragt Philomene hastig, »sag: ist da was daran? Es ist gestern geredet worden, dass der Greger und der Schreiner-Veit deinem Vater das ganze Ochsengeld abgespielt hätten.«

Der Hannes ballt die Faust, dass die Knöcheln knacken. »Wahr ist's«, bestätigt er. »Heut vor acht Tagen ist's gewesen, und keinen Heller hat er mehr heimbracht. Aber Gnade Gott denen, wenn sie mir einmal in die Hände fallen!«

»Nicht! Hannes, nicht!« wehrt Philomene ab. »Das nicht! Es geschieht ihm recht, warum spielt er. Es hätten auch die zwei anderen verspielen können.«

»Haben!« lacht die Seebäuerin spöttisch auf. »Dass der Greger, mein Inmann, gerad nur zehn Gulden verspielt! Nicht möglich ist's, weil er sie nicht hat.«

»Wohl!« nickt der Hannes. »Falsch gespielt haben sie; ich hab's schon wieder gehört. Aber …«

»Folgst nicht?« widerrät Philomene. »Er hätte nicht spielen sollen mit solchen Leuten, wenn er schon weiß …«

Hannes sann eine Weile. »Kunnst auch recht haben; er hätt nicht spielen sollen. Von mir aus tun sie, was sie wollen.«

Durch die Point herauf schreitet ein Mann mit breitkrämpigem Hute und langem Habit.

»Da kommt ein Pfarrer!« wundert sich der Hannes, der ihn zuerst ersieht.

»Meiner Treu!« bestätigt Philomene. »Ein ganz Fremder. Was wird der bei uns suchen?«

»Leicht, dass er ein Bettelbruder ist von Neukirchen«, mutmaßt die Seebäuerin. »Aber die haben doch allweil einen braunen Kittel gehabt.«

»Ich geh«, nimmt sich der Hannes vor. »Behüt Gott all zwei!«

»Behüt dich Gott auch!«

Er eilt den Anger hinaus.

Der Mann im langen Habit kommt heran. »Gelobt sei Jesus Christus! Bin ich da im Hüttenhof, wo der Richter ist?«

»In Ewigkeit! … Ja, das ist der Hüttenhof, und der Lenz, der Bruder, ist drinnen in der Stube. Wenn Ihr ihm was wollt …«

»Dank schön!« Und er geht ins Haus.

»Du, ob der nicht gar der neue Pfarrer ist?« rät die Seebäuerin. »Ich hab bei der Kirchen unten heut vormittags so reden hören, dass er die Wochen kommen soll, und der alte hat am vergangenen Sonntag schon sein Abschiedsred gehalten.«

»Das kunnt sein«, gibt Philomene zu.

Eine Weile noch plaudern sie von dem und dem, dann hebt sich die Seebäuerin und geht heim. Sie will allein sein mit ihren Gedanken. Was sie heute wahrgenommen, wie der Hannes und die Philomene miteinander stehen, betrübt sie nicht. Es ist ihr im Gegenteile ganz recht. Es muss überlings ein Tag kommen, wo sie mitsammen vor den Altar treten. Dann hat der Lenz seine Hauserin verloren, dann muss er Farbe bekennen, weil er gezwungen ist, zu heiraten. Ein Bauernhof ohne Bäuerin ist wie eine Kirche ohne Altar, sagen die Leute …

Der Lenz sitzt am Ecktische in der Stube und liest in einem in roten Samt gebundenen, säuberlich geschriebenen Buche, als der Mann im langen Habit eintritt. Es ist die Privilegien-Bestätigungsurkunde der Kaiserin Maria Theresia vom 10. Jänner 1747, die er sich vor einigen Tagen vom Oberrichter ausgeborgt und die er nun liest, um einen Einblick zu bekommen. Das Buch enthält alle Privilegien-Bestätigungen des Königlichen Waldes, Hwozd genannt, von der von Ferdinand III. am 22. Feber 1631 gegebenen an wörtlich aufgeführt und bekräftigt und bestätiget alle.

Bei dem Gruße des Eintretenden sieht er fast erschrocken von dem Buche auf, aber der Zeigefinger bleibt noch auf der Stelle, wo er die Lesung unterbrochen. »In Ewigkeit!« dankt er. Aber gleicht springt er vom Schragen auf und geht dem Geistlichen entgegen.

»Seid Ihr leicht unser neuer Pfarrer?«

»Ja, der wär ich. Und Ihr? Seid Ihr wohl der Richter?«

»Wohl, wohl, Hochwürden. Aber geht gleich weiter zum Tische.« Er legt ihm seine schwere, kräftige Hand auf die schmale Schulter und nötigt ihn vorwärts.

»Was lest Ihr denn da?« fragt der Pfarrer, sichtlich neugierig.

»Den Gnadenbrief der Kaiserin Maria Theresia, den sie dem Künischen Walde geben hat. Es ist eine wichtige Sach, aber mein', alles versteht halt unsereins nicht. Da ist gleich wo ein Wort.« Er deutet mit dem Finger darauf.

»Dismembriert«, liest der Geistliche und überfliegt die ganze Stelle. »Das heißt: Der Kaiser Ferdinand hat verordnet, dass die Waldhwozder Gerichte niemals zerteilt oder zerstückelt werden dürfen, dass sie allweg unter einem Oberhaupte vereinigt bleiben müssen. Da ist's.«

Dank, Hochwürden! Sel wird so nicht geschehen. Wir gehören zusammen wie ein Fingerglied zum anderen … Aber was ich ganz vergiss! Wann seid Ihr denn schon kommen? Heut zu Mittag? Ja, es freut uns recht, dass Ihr da seid und – bei uns wird nicht lang herumdruckt, es geht heraus, wie es drinnen wächst im Herzen – und dass Ihr ein Deutscher seid, wie ich an der Aussprach kenn. Wir haben uns gerad über den anderen Pfarrer auch nicht so klagen können, aber … aber es ist halt allweil so: Gerad nur das gleiche Blut rinnt zusammen und … und … Ich kann's nicht so sagen, wie ich mir's denk; aber eine recht Freud hab ich, wirklich. Und wo ist denn Euer Einrichtung, und wie viel Wagen werden wir brauchen? Gerad nur sel möcht ich wissen, das andere ist alles meine Sach'.«

»Ist schon im Pfarrhof«, lächelt der Pfarrer. »Ich bin armer Leute Kind, und der mich hergefahren hat, der hat auch gleich mein Zeug mitgenommen.«

Der Lenz sieht ihn schier mitleidig an. Ein Inwohner, wenn zu Georgi umzieht, hat zwei bis vier Wagen voll Einrichtung und Hausrat, und der Pfarrer … »Wird schon besser werden, Hochwürden«, vertröstet er. »Ist noch keiner als ein Armer weggegangen aus unserer Pfarr, nie noch.«

»Ich zweifle auch nicht daran«, gibt der Pfarrer zu. »Aber deswegen bin ich nicht da. Und wenn es zwei und drei tun, dass sie Reichtümer sammeln, so braucht es ein vierter nicht ebenso zu machen. So viel ich brauche, hab ich, und mehr ist nicht vonnöten. Ich bin ein Diener des Herrn und hab nicht für den und nicht für den zu sorgen.«

»Nun ja … nun freilich«, meint der Lenz verlegen. »Das Wichtigste kunnt es schon sein auf die Weis'; aber mein' … Ich wollt schon nicht sagen von den armen Leuten, wenn einer denen ein Gotteslohn tut; aber wer es hat und sich danach bestellt, der soll nur zahlen. So mein' ich.«

Der Pfarrer sagt eine Weile nichts darauf, um dem Gespräche eine andere Wendung zu geben. Er blättert in dem in roten Samt gebundenen Buche und liest da und dort eine Stelle. Dann sieht er langsam auf von dem Buche.

»Richter, warum ich gekommen bin … zuerst zu Euch? Dass wir einander kennen lernen, wenn wir vielleicht in der ersten Zeit dann und wann miteinander zu tun hätten, und dann … Ich will nicht nur den Ansassen in meinem Pfarrsprengel ein Führer und Ratgeber sein in Angelegenheiten ihres Seelenheiles, was meine Pflicht ist, auch in anderen Angelegenheiten und Nöten will ich raten und helfen, wo ich kann … mitten in der Nacht. Sagt das den Leuten; Euch glauben sie vielleicht mehr, wenn Ihr im Umgange redet mit ihnen, als wenn ich es ihnen vom Predigtstuhle aus sage, wo sich die meisten wohl denken würden, ich predige nur so, weil mir gerade nichts anderes einfällt. Und ihr, Richter, wenn Ihr das oder das Anliegen habt, zu jeder Zeit bin ich Euch zu Rat und Hilfe.« Er streckt ihm die Hand entgegen.

»Ich dank Euch, Hochwürden«, sagt der Lenz ernst, »für mich und für das ganze Gericht. Und wenn Ihr das oder jenes braucht, jetzt wisst Ihr den Hüttenhof schon.«

»Auch, auch«, nickt der Pfarrer und verabschiedet sich.

Der Lenz geleitet ihn bis vor die Türe. »Behüt Gott, Hochwürden! Kommt sonst ab und zu.«

Schon wandelt der über die Wiesen dahin, steht er noch in der Haustüre und sieht ihm nach. Ein sonderbarer Mann! Er hat nichts und begehrt keiner Reichtümer und will jedem zu Rat und zu Hilfe sein. Das will ihm nicht einleuchten.

*

Am nächsten Tage gegen Mittag steigt der Pfarrer die Hänge hinauf gegen den See. Steil steigt das Gehänge an, und der Weg ist nicht der beste. Im Geäste der Buchen rührt sich kein Blättlein, und die Vögel halten ihre Mittagsruhe. Die Luft ist drückend schwül, nur der in wilden Stürzen zu Tale stürmende Seebach verbreitet einige Kühlung. Ab und zu hält der Pfarrer im Steigen inne und verschnaufet. Er ist das Steigen nimmer gewohnt, und das anhaltende Studium hat ihn schwachbrüstig gemacht.

Früher wohl – es war noch nicht zwanzig Jahre her – da war ihm kein Berg zu steil und kein Felsen zu glatt. Von den höchsten Fichten holte er die Krähennester und aus dem schroffsten Gewände die Steinwurz (Engelsüß). Er war ein Hütbub wie alle anderen. Dreiviertel einer Hose und ein Hemd wie ein Lattenzaun, das war einen Sommer wie den andern sein Gewand. Und es waren glückliche, sonnige Tage, die er auf der freien Bergeshöhe verlebte mit seinen Rindern und Schafen, die Tage der Jugend, des Lebensfrühlings.

Das hatte ein einziger Tag geändert. Seiner Mutter Bruder hatte im Lande draußen ein gutgehendes Wagnergeschäft, nur ein Kind, eine Tochter, und er suchte für das Geschäft einen Nachfolger aus der Freundschaft. Und die Wahl fiel auf ihn. Er musste mit, vormittags in die Schule gehen und nachmittags Felgen hauen. Wie er sich da nach er freien Bergeshöhe gesehnt! Oft war das Kissen in der Frühe waschelnass vor Tränen und die Augen rotgeweint.

»Der faule Stingl taugt zu nichts als zum Herumliegen auf den Weiden«, hatte sich sein Vetter mehr denn einmal entrüstet, wenn seine Hand das Hackel auf den Stock stützte und seine Gedanken sich im Bergwalde oder im Gewände herumtummelten.

»Martin, hast denn gar keine Freud mit der Wagnerei?« hatte ihn der Pfarrer einstmals gefragt. »Dein Vetter klagt sich über dich … Mit was hättest denn sonst eine Freude?«

»Mit nichts. Heim möcht ich.«

»Das ist kindischer Eigensinn. Jeder Mensch muss was sein und zuerst was lernen. Einem hat der Herrgott zu dem eine Neigung geben, einem anderen zu dem, sonst trieben alle das Gleiche. Du lernst gut; möchtest da auch nicht studieren?«

»Wo müsst ich dann hin?«

»In die Stadt und lernen und lernen, bis du etwas bist, meinetwegen Pfarrer oder sonst was. Möchtest?«

»Nun, lieber schon wie wagnern.«

»Der Herr segne deinen Willen!«

Am nächsten Tage hatte der Pfarrer – Gott verleih ihm die ewige Ruhe! – mit dem Vetter eine langmächtige Unterredung gehabt, und am zweitnächsten musste er sein Sonntagsgewandel zusammen nehmen unter den Arm, und der Pfarrer weiste ihn in den Pfarrhof.

Seit der Zeit ist vieles Wasser zu Tale geflossen, und viele Tage sind über den Wald hingezogen. Alle Tage wurde gelernt und geübt; dann kam der Tag, wo er das erste Mal den Fuß über die Torschwelle der Lateinschule setzte.

»Martin, sei allweg brav und fleißig!« hatte der Pfarrer noch beim Abschiede gesagt. »Lern fleißig und sei deines hohen Zieles zu jeder Stunde eingedenk! Für das andere sorge schon ich.«

Aber es kam auch der Tag, wo sich diese Sorge jählings aufhörte, wo sie den braven Mann in die Erde versenkten wie jeden anderen Menschen. Was nun? Den letzten Groschen in der Hand, stand er mutterseelenallein da in der fernen Fremde, und die Tränen kollerten eine um die andere über seine bleichen Wangen nieder. Was tun? Aber wie er etwas zur Ruhe gekommen, hatte er sich gelobt, sich durchzuschlagen bis zum Ziele, so gut es ginge und auf welche ehrliche Weise immer. Er hatte sein Häferl genommen und sein Leben gefristet als Bettelstudent.

Dann war aber auch der Tag gekommen, wo er die Weihen empfing in Gemeinschaft mit den anderen Alumnen und der Bischof sie hinaus sandte mit den Worten des Herrn: Gehet hin in alle Welt …! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch …«

Und er war gegangen. Mochten andere ihr Sendung weniger ideal aufgenommen und aufgefasst haben – eines Menschen Sinn ist nicht wie der des anderen – er nahm seine Aufgabe ernst, und er sah in der Erreichung der größtmöglichen menschlichen Vollkommenheit sein Ziel: Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst! Und das Gebot ist der Kern aller anderen, die wie Strahlen von einem Mittel ausgehen.

So hatte er es bislang gehalten, so wollte er es auch fürder halten …

Durch den mittagsstillen Hochwald klingt glockenheller Sang. Der Pfarrer bleibt neugierig stehen und horcht auf. Es ist eine jungfrische Mädchenstimme, die eine alte, wehmütige Weise hinaus singt in die Waldesstille. Aber bei den letzten Worten des Liedes schlägt die Stimme jählings und schier trotzig über in einen kecken, übermütigen Jodler, der zu der Weise gar nicht passen will.

Die Sepherl! Wer wäre sonst da heroben in der Wildnis? Ein wohlgefälliges Lächeln umspielt den schmalen Mund des Pfarrers, und er schreitet wieder bergwärts, eiliger denn bisher.

Nach kurzer Zeit steht er am Waldrande. Auf der Weidefläche vor ihm jagt ein Dirnlein mit fliegendem, flachsfarbenem Haar zwei tollen Geisen nach, die der gemächlich der Hütte zuschreitenden Kuh durchaus nicht folgen wollen.

»Verzweifeltes Gevieh!« schilt das Dirnlein schon unwillig, lacht aber gleich danach wieder hell auf, als sich eine der Geisen aus tollem Übermute auf die Hinterfüße stellt und mit den Hörnern nach ihm gaukelt.

Hastig schreitet der Pfarrer auf das Dirnlein zu. »Gelt, du bist die Sepherl? Grüß dich Gott!«

Das Gesicht des Dirnleins wird mit einem Male ernst, eine tiefe Röte übersteigt es, und die Augen mustern misstrauisch den Mann in der schwarzen Kutte, der sie beim Namen ruft.

»Bist du denn die Sepherl nicht?« forscht der Pfarrer nochmals, aber etwas verlegen, da er sich nicht sicher fühlt, ob er nicht etwa eine andere als die Sepherl vor sich habe und der die Hand zum Gruße geboten.

»Ja, die Sepherl bin ich schon«, gesteht sie. »Aber was wollt Ihr mir denn?«

»Kennst mich denn nicht mehr?«

Das Dirnlein schüttelt schweigend den Kopf.

»Ja freilich … freilich. Selbes Mal, wie ich fortgekommen bin, bist grad noch im Polster gesteckt und nachher … Auf meiner Primiz ist nur der Vater gewesen und der Konrad. Sind sie daheim?«

»Bist leicht nachher gar unser Martin?«

»Ja, Sepherl.«

»Dass es gewiss wahr ist?«

»Nun so ja. Siehst denn nicht schon an meinem Gewand, dass ich nicht lügen darf?«

Ein Sprung, und sie hängt ihm am Halse. »Martin, unser Brüderl! Martin … Und heut seh ich dich das erste Mal …!« Aber jählings lässt sie ihn wieder los und schleicht einige Schritt zurück. »Musst schon verzeihen!« sagt sie verschämt und verlegen. »Im ersten Augenblick hab ich gar nicht daran denkt, dass du ein Pfarrer bist und ich nur ein Weiberleut.«

»Aber Sepherl!« beruhigt er sie. »Bist ja meine Schwester …«

»Dasselb' schon. Und dass ich dir sag': Ich wär selbes Mal so gern mitgangen, wie du deine Primiz gehabt hast, aber sie haben mich nicht mitlassen. So ein kleines Dirndl verstünd nichts davon, haben sie gesagt, und nachher ist auch das Geld wenig gewesen, und jemand hat daheim sein müssen bei dem Gevieh.«

Die Geisen springen nun der Kuh nach, und der Pfarrer und seine Schwester gehen langsam hinter ihnen drein.

»Was tun denn der Vater und der Konrad allweil? Du wirst halt die Hauserin machen?«

»Nicht allweil. Der Konrad hat sich zu den Soldaten abführen lassen, schon ein paar Jahre her. Wenn er nachher in zwei Jahren heimkommt, kriegt er hundert Gulden rheinisch auf die Hand, und damit will er einen Viehhandel anfangen, haben sie ausgemacht, gar erst, wenn er sich noch ein bissel was erheiraten tät. Und der Vater? Mein', wirst ihn ja eh kennen. Seit selbes Mal der Baum die Mutter erschlagen hat, ist er halt ein bissel zerwirrt im Kopf. Arbeiten tut er wie nicht gescheit, aber sonst ist halt nicht viel zu reden mit ihm.«

Der Pfarrer seufzt auf … »Ihr werdet zu mir hinunterziehen in den Pfarrhof«, sagt er. »Ich bin jetzt Pfarrer in eurem Gericht.«

»Du?« Mit einem Satze springt sie davon, der Hütte zu. »Vaterl! Vaterl! Der Martin ist da … und Pfarrer ist er in unserem Gericht … und hinunterziehen sollen wir zu ihm in den Pfarrhof.« Das alles hastet sie nur so heraus, wie sie ins Haus kommt.

Der Alte sitzt am Feilstock und schrotet eine Baumsäge. Ungläubig schüttelt er seinen eckigen, grau gesprenkelten Kopf. »Der Martin? Da wirst dich fein sauber irren, Dirndl. Der Martin ist ein Herr und ist im Land draußen. Schlakrawall! Der geht nicht …« Die Feile fällt ihm aus der Hand, und der Arm sinkt am Körper hinab. Er ist richtig der Martin, der durch die niedrige Türe kommt und ihm die Hand bietet. »Grüß Euch Gott, Vater!«

»Ja, bist es oder bist es nicht?«

»Kennt Ihr mich denn nimmer?« Ein Tröpflein schleicht sich dem Pfarrer ins Auge. »Fehlt es da schon so groß?«

»Wohl, wohl. Wenn ich dich nicht kennen tät, Martin! Aber so gach! Frei erschrocken bin ich, weil ich … weil ich mir denkt hab, es müsst dein Geist sein. Aber besser schaust schon aus als wie selbes Mal, wie du die Primiz gehabt hast. Selm hab ich gemeint, du wirst nach der Mess nimmer viel andere lesen … Und wie kommst denn dazu, dass du uns einmal heimsuchen kannst? Haben sie dich doch auf ein paar Tage auslassen?«

Es fehlt ihm schon im Kopfe, aber so weit, wie der Pfarrer gleich im ersten Augenblicke gemeint hat, fehlt es nicht. Oft kennt ihm eins nicht viel an, oft aber hat er schon seinen Riss.

»Ich bin ja Pfarrer im hiesigen Gericht«, erklärt der. »Gestern bin ich kommen, so um den Mittag herum, und wie ich so gefragt hab nach dem und jenem, hab ich auch Euch erfragt. Da bin ich denn gleich heut herauf zu Euch, dass ich Euch wiederseh und dass wir uns ausreden können, wann Ihr zu mir hinunterzieht in den Pfarrhof.«

Der Alte sieht ihn fast scheu an. »Zu dir hinunter in den Pfarrhof?« wiederholt er und legt seine grobschlächtige, raue, fast rindenbraune Hand auf das schmale, knochige Händchen seines Buben, der nun sein Pfarrer ist. »Martin, lass mir mein' Ruh!« bittet er. »Lass mich heroben im Wald! Schau! Im Wald bin ich aufgewachsen und groß worden, im Wald hab ich meine schönsten Tag verbracht. Im Wald ist eure Mutter gestorben – der Herrgott gib ihr die ewige Ruh'! – und ich möcht auch einmal da versterben, wenn's dem Herrgott recht ist. Lass mich da! Ich taug nicht hinein in einen Pfarrhof; es wär gerad, als ob eins eine recht krusplige Buchen hinein pfelzen wollt in ein Rosengartl, gerad so. Ich müsst vor der Zeit versterben … Die Sepherl kannst dir als Hauserin mitnehmen, wenn du willst … Ja, richtig, nachher hätt ich keine. Martin, wenn d' mich als deinen Vater achtest und gern hast ein bissel, lass alles so, wie es ist.«

»Ich hab es Euch nur zum Guten gemeint«, versichert der Pfarrer. »Ich hab Euch wollen in Euren alten Tagen das Leben leichter machen …«

»Nein, nein! Lass, wie es ist!« wehrt der Alte hastig ab. »Mir würd das Leben nicht leichter auf die Weis' … Aber jetzt geh her und iss mit uns, wenn's dir nicht zu schlecht ist! Schau, die Sepherl hat schon aufdeckt, uns die kocht nicht schlecht.«

Der Pfarrer betet den Tischsegen, setzt sich an den Tisch und greift dann zu. Das erste Mal wieder nach vielen, vielen Jahren, dass er mit den Seinen isst.

»Alle Sonntag und Feiertag, wenn ihr in die Kirche hinunterkommt, seid ihr all zwei meine Gäst«, bedingt er sich. »Da dürft ihr nicht widerreden.«

»Sel schon«, nimmt der Alte an. »Aber unten bleiben nicht, nicht um einen Bauernhof. Aber hast denn schon eine Hauserin, oder kochst dir selbst?«

»Wir essen beim Wirt.«

»Hast auch recht.«

»Aber alle zwei können wir niemals zu gleicher Zeit unten bleiben«, wendet Sepherl ein. »Das Gevieh will auch seinen Mittag haben wie unsereins.«

»Es wird schon gehen.«

Nach dem Essen setzen sie sich zusammen und reden und plaudern von dem und jenem, von vergangenen Tagen und von der ungewissen Zukunft. Sie sollen es schön haben, verspricht der Pfarrer. Er will bei Gelegenheit reden mit der Seebäuerin, dass sie von den ausgestifteten Arbeitstagen absieht und sich dafür mit einem Geldbetrage abfinden lässt. Und wenn es dem Vater heroben gar so gut gefalle und der Herrgott es einmal schickte, dass er so viel Geld beisammen hätte, könnte das Häuschen auch angekauft werden. Zum ersten Male seit seiner Kindheit denkt er an das Geld und dessen Besitz, aber nicht für sich.

Als er dann geht, geleitet ihn Sepherl bis zum Waldrande hinab und eilt dann entlang des brausenden Seebaches hinauf zum See. Heute hält sie einen Feiertag, heute rührte sie nichts an, was nicht unbedingt sein muss, und wenn alles zu Grunde ginge deswegen.

Am Ufer des Sees ist ihr liebster Aufenthalt zur Sonntagszeit. Wenn sie an der Arbeit ist, schafft sie wie ein Mann, aber zur Feierzeit sitzt sie am steinigen Ufer des Waldsees, sieht dem flimmernden und glitzernden Wasser zu und – träumt.

Die Wellen kommen einmal wie das andere Mal angehüpft, und das Plätschern und Klatschen am Ufergestein klingt einen Sonntag wie den anderen. Alles ist ihr schon so bekannt: die Wellen, das Plätschern, das Säuseln des Windes in den Bäumen, der Sang der Vögel und das Tosen des Seebaches. Beim Waldsee fühlt sie sich am heimischsten und wohlsten. Oft ist es ihr schon vorgekommen, wenn sie die immer ruhigen Wellen geschaut, als merke sie darin ein bekanntes Gesicht. Erst dämmerig und verschwommen, tritt es immer schärfer und deutlicher hervor, bis es schließlich ein Männergesicht wird mit hochgewölbter Stirn und buschigem, über den Mund hernieder gebogenem Schnauzbarte. Aber wenn sie recht genau zusieht, verschwindet das Bild allemal. Die Wellen zerstören es.

Oft saß sie noch des Abends am Ufer und starrte hin über die allweg wogende und wellende Fläche. Die Leute fürchten sich bei hellem Tage um die Mittagsstunde in der Umgegend des Sees, sie geht selbst am Abend keine Scheu an. Manchmal hat sie auch schon gemeint, sie sähe die Wasserweiblein dahin tanzen über das Wasser; aber wenn sie recht genau zugesehen, war es allemal nur ein Nebelstreif. Wasserweiblein? Ob es wohl welche gibt? Wer weiß?

Der Hüttenlenz hatte ja sie für ein Wasserweiblein gehalten selbes Mal. So eine Narrheit! Sie will lachen darob, aber sie kann nicht; es widerstrebt ihr, über den zu lachen, der ihr das Tanzen gelehrt.

Sie sieht in den Wellen wieder das Bild sich zusammentun, aber diesmal wird es der Martin, ihr Bruder, der nun Pfarrer ist im Gericht.


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