Johanna Schopenhauer
Ausflug an den Niederrhein und nach Belgien im Jahr 1828
Johanna Schopenhauer

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Die Reisenden unserer Zeit

Bei der jetzigen, fast epidemieartigen Reiselust, die in einem einzigen Jahre zehnmal soviel Reisende auf den Heerstraßen hin und hertreibt, als ehemals in zehnmal so langer Frist, fallen mir zweierlei Gattungen derselben besonders auf, denen man früher fast niemals begegnete: reisende Engländerinnen und reisende Kinder. Freilich vor dreißig bis vierzig Jahren, als man im größten Theil von Deutschland auf sandigen oder sonst unwegsamen Straßen sich langsam hinschleppen lassen und zufrieden sein mußte, wenn man mit Extrapost in anderthalb Stunden eine Meile zurücklegte, sich glücklich schätzte, wenn man in den Posthäusern nur eine Stunde auf frische Pferde zu warten hatte, die erst von der Feldarbeit hereingeholt wurden, und Abends im Nachtquartier erst mit Bitten oder Schelten um reine Betttücher einen Kampf mit der Gastwirthin zu bestehen hatte: damals mußte das Vergnügen des Reisens mit zu großen Aufopferungen und Unbequemlichkeiten erkauft werden, um bei unsern Großmüttern eine Sehnsucht danach aufkommen zu lassen. Sie blieben gern zu Hause bei ihren Kindern; sie ließen von ihren weitgereisten Männern sich erzählen, wie es in fremden Ländern aussähe, die sie weder kannten noch zu kennen begehrten, und das kleinliche Getreibe ihres Wohnortes war Alles, was sie von der Welt und dem Leben in ihr zu erfahren verlangten.

Eine vom Arzte verordnete Badereise nach Pyrmont, Karlsbad oder Aachen, die einzigen Bäder, die damals eigentlich recht bekannt waren, erschien ihnen fast wie ein Todesurtheil, denn eine solche Kur wurde zu jener Zeit als das letzte Mittel, als der letzte Versuch zur Lebensrettung betrachtet. Unter heißen Thränen, von den Ihrigen mit dringenden Bitten bestürmt, riß endlich dann die Mutter von ihren Kindern sich los, die mit sich zu nehmen ihr nicht in den Sinn kommen konnte, um mit Gottes Hülfe sich ihnen noch einige Jahre zu erhalten.

Wie so ganz anders ist das Alles jetzt geworden; die Welt ist heut zu Tage auch den Frauen aufgethan, und sie dürfen mit frischem Sinn und heiterem hellen Blick alles des Schönen und Herrlichen, was Kunst und Natur ihnen bieten, sich eine Weile erfreuen, um bei ihrer Heimkehr das Glück, das ihr häusliches Leben ihnen gewährt, um so inniger zu empfinden; denn jede Reise ist jetzt nichts weiter als eine etwas verlängerte Spazierfahrt, und wenigstens alle acht Meilen ist ein Gasthof anzutreffen, in welchem man beinahe eben so gut sich befindet, als im eigenen Hause.

Keine zärtliche Mutter braucht sich mehr eine Badereise zu versagen, um einen leichten rheumatischen Schmerz, einen hartnäckigen Schnupfen zu heilen, und vor Allem, um das namenlose unerklärbare Heer von Nervenübeln zu bekämpfen, das gleich heimtückischen Gespenstern die Welt durchzieht, die oft ungläubig genug ist, sogar seine Existenz bezweifeln zu wollen. Eine solche Reise bedarf jetzt keiner weitläufigen Anstalten für die Verpflegung der Kinder; die lieben Kleinen werden sämmtlich mitgenommen, und lernen bei Zeiten die große Welt und ihre Vergnügungen kennen. Auch geht die Reise gewöhnlich nicht weit, in der Nähe fast jeder namhaften Stadt sind seit den letzten Jahren wunderwirkende Heilquellen entdeckt worden; sodaß es wirklich zum Verwundern ist, daß nicht alle Leute hundert Jahre alt werden, und man noch an etwas Anderem als an Altersschwäche sterben kann.

Ob aber die liebenden Mütter ihren Kindern wirklich damit einen Dienst erweisen, daß sie dieselben auf Reisen mit sich nehmen, ob die Kleinen physisch und moralisch nicht mehr dadurch verlieren als gewinnen, das ist eine andere sehr ernste Frage, die sowol der Raum, als die eigentliche Bestimmung dieser Blätter, hier umständlich zu erörtern, mir verbieten.

Aber wehe, und dreimal wehe dem Unglücklichen, den ein heimtückischer Zufall auf der Reise, oder vollends bei längerem Verweilen, neben einer solchen ambulirenden Kinderstube, Thüre an Thüre mit derselben, sein Quartier angewiesen hat! des Nachts, wenn er schlafen möchte, das Summen und Singen der Wärterin anhören muß, die dicht neben ihm seinen kleinen schreienden Nachbar einzulullen versucht, und am Tage von dem unschuldigen muntern Spielen der lieben kleinen Engel aus seinem eigenen Zimmer hinauslaufen möchte, um nur einigermaßen zur Besinnung zu kommen. Wenn er darüber unwirrsch wird und im Unmuth sogar ein klein wenig flucht, es ist ihm in der That nicht sehr zu verdenken.

Godesberg besonders wimmelt von solchen kleinen Gästen, deren Zahl bisweilen bis an zwanzig reicht, die alle im Hause wohnen; und bei aller Vorliebe für den Aufenthalt daselbst, muß ich doch gestehen, daß dieser dadurch an Annehmlichkeit nicht besonders gewinnt. Indessen mag dafür zur Entschuldigung dienen, daß Godesberg, wie ich schon früher erwähnte, von vielen, etwa eine starke Tagereise von demselben entfernt wohnenden Familien als ein Landsitz betrachtet wird, wo man gern mit, von den Seinen umgeben, einen Theil der schönen Jahreszeit zubringt; auch verweilen die Kinder den Tag über gewöhnlich mit ihren Spielen im Freien, was allerdings ihren nächsten Nachbarn eine große Erleichterung gewährt. Nur bei der Mittagstafel wird ihre große Anzahl besonders lästig, denn eine Reihe von drei bis vier Kindern, zwischen Erwachsenen eingeschaltet, kann auf die gesellige Unterhaltung nicht anders als störend einwirken. Eine besondere »table d'hôte« für die Kleinen, an der sie unter der Aufsicht ihrer Mütter eine Stunde früher als die übrige Gesellschaft, mit ihrem Alter zusagenden Speisen abgefüttert würden, wäre gewiß, sowol für die Kinder selbst, als für die übrigen Gäste, eine höchst ersprießliche und erfreuliche Anstalt.

Lästiger noch als die reisenden Kinder, sind vielleicht die reisenden englischen Familien, deren Anzahl, besonders in den Rheingegenden, an das Unglaubliche reicht, sodaß man kaum begreift, wer denn noch, außer dem Könige von England und seinem Hofstaat, dort zu Hause geblieben sein könnte.

Godesberg scheint besonders von ihnen begünstigt zu werden; frisch nach Steinkohlen duftend, wie eine englische Zeitung, langen sie mit Hilfe der Dampfböte oft am dritten oder vierten Tage, nachdem sie London verlassen, dort an und wissen, bei ihrer Unbekanntschaft mit der Sprache und Landesart, kaum wie ihnen geschehen, noch weniger, weshalb sie eigentlich gekommen. Alles erscheint ihnen seltsam und dabei grundschlecht, weil es nicht wie in England ist, und für die Leute, die so dumm sind, daß sie nicht einmal Englisch reden können, fühlen sie ordentlich ein verachtendes Mitleid.

Mehrere Stunden vor ihnen kommt der Courier auf dampfendem Pferde angesprengt, irgend ein in der Welt abgetriebener Abenteurer von der gemeinsten Art, der bei der Gelegenheit gelernt hat, sich zur Noth in mehreren Sprachen leidlich verständlich zu machen, und den sie irgendwo an der Gränze angenommen, um für sie überall das Wort zu führen. Mit wichtiger Miene und genügsamer Arroganz betritt er das Haus, läßt die Zimmer sich zeigen, tadelt Alles, fordert Vieles, was nicht zu haben ist, findet überall die Preise zu theuer, nach denen er bis in die geringsten Einzelheiten sich erkundigt, und wird am Ende doch mit dem Wirthe einig, wenn dieser die rechten gewichtigen Gründe zu finden weiß, die ihn von der Billigkeit der an ihn gerichteten Forderungen überzeugen können.

Endlich, gegen Abend kommt der große schwerbeladene Wagen nach; ein Haus auf vier Rädern, oben, hinten und vorn und an allen Seiten mit einer Menge zierlicher, genau ineinander passender Koffer und lederner Behältnisse bedeckt, die so ziemlich Alles enthalten, was man auf einer Reise um die Welt brauchen und nicht brauchen könnte, und denen man, wie dem Wagen ebenfalls, schon von Außen es ansieht, wie höchst bequem sie eingerichtet sind; denn in dergleichen bleiben die Engländer unübertroffene Meister und werden es noch lange sein. Der Wagen hält, doch Niemand sieht aus demselben heraus, der Courier eilt an den Schlag und stattet demüthig Rapport ab. Zuweilen sitzt ein Bedienter auf dem Bock, oft fehlt er auch, und der Courier vertritt im Gasthofe dessen Stelle, denn die englischen Bedienten verlassen ungern die Insel, und sind auch auf dem festen Lande nicht sonderlich brauchbar; aber die beiden englischen Kammermädchen mit großen Hüten und schottischen Mänteln fehlen nie in dem Anbau hinter dem Wagen, wo sie der Sonne, dem Regen und den von den Hinterrädern aufgewühlten Staubwolken auf das unbarmherzigste preisgegeben sind. Auch sieht man ihren mismuthigen Gesichtern deutlich es an, wie überdrüßig sie des Reisens schon jetzt sind, und wie gern sie wieder zu Hause wären.

Eine lange Pause entsteht, während welcher der Wirth ängstliches Herzklopfen empfindet, der, zwischen Furcht und Hoffnung schwebend, den Befehl erwartet, den Wagenschlag zu öffnen. Im Wagen wird deliberirt, der Courier erschöpft alle ihm zu Gebote stehende Beredtsamkeit. Endlich gibt die geöffnete Wagenthüre das Signal und Alles wird lebendig. Der Bediente springt vom Bock, die Kammermädchen klettern von ihrem Sitze herunter und schütteln den Staub aus ihren Mänteln; der Fußtritt wird niedergelassen, Mylord wälzt sich hinaus, man sieht es dem guten Mann an, wie sauer ihm das Reisevergnügen geworden; oft aber ist auch gar kein Mylord dabei, und die Damen reisen allein. Auf Mylord folgt Mylady und noch eine Lady, und nun noch ein paar Kinder, deren Erziehung auf Reisen vollendet werden soll. Denn Deutschlernen ist jetzt in England Mode; ich sah in Godesberg eine Familie mit drei oder vier Knaben und Mädchen, die den nächsten Winter in Insbruck zubringen wollte, um ihre Kinder dort in der deutschen Sprache unterrichten zu lassen.

Mit steifem Nacken und verachtendem Blicke auf uns vor der Thüre Sitzenden, die sich die Freiheit nehmen, dem Debarquement zuzusehen, zieht die Gesellschaft in das Haus – und läßt sich nicht wieder blicken, und sollte sie Wochenlang verweilen. Nur zuweilen in der größten Mittagshitze sieht man die Damen auf dem Felde hin und her gehen, was sie einen Morgenspaziergang vor dem Frühstück nennen, oder auch mit ihrer Mappe sich niederlassen, um die Ruine zu zeichnen.

Im Hause aber wird die Gegenwart dieser Unsichtbaren um so merklicher; des Salons, der sonst der ganzen Gesellschaft offen steht, haben sie sich gleich zu ihrem Frühstück- und Speisezimmer bemächtigt; die ganze gewohnte Ordnung ist gestört, alle Hausgenossen, vom Herrn des Hauses an, bis zu den letzten Kellnerburschen hinab, sind verdrüßlich, laufen auf Treppen und Gängen durcheinander, und wissen sich weder zu rathen noch zu helfen, denn Mylord und Mylady, Kinder und Kammermädchen verlangen tausenderlei, was ihnen nicht einmal dem Namen nach bekannt ist. Obendrein sind die hohen Herrschaften mit Allem unzufrieden, finden Alles ärmlich und schmuzig und das Essen ungenießbar, weil es nicht auf englische Art bereitet ist. Sie schlafen bis gegen Mittag, verlangen das Frühstück, wenn eben das Diner für die übrigen Gäste aufgetragen werden soll, essen spät gegen Abend zu Mittage und trinken Thee, wenn alle Welt zu Bette geht. Lauter Dinge, die sie allenfalls in den großen Hotels großer Städte verlangen dürften, ohne allzulästig zu werden. So spinnen sie immer enger und enger in ihre gewohnte Lebensweise sich ein, und kehren genau so wieder vom festen Lande zurück wie sie hingekommen, ohne um einen einzigen Begriff reicher geworden zu sein.

Was sie am meisten fürchten, ist, von Unbekannten angeredet zu werden, deshalb bemühen sie sich, so abstoßend als möglich zu erscheinen, sobald sie unter Fremde gerathen; und wenn Jemand, sei es Mann oder Frau, sich von der treuherzig freundlichen Gewohnheit der Deutschen verleiten läßt, sie im Vorübergehen zu grüßen, so sehen sie mit einer Miene ihn an, wie etwa am Ganges ein Bramine einen Paria ansehen mag, der unerwartet ihm in den Weg kommt.

Bei alledem sind Mylord und Mylady nichts weiter, als reiche Gewürzkrämer oder Oelhändler aus der City, die ebensogut als im vergangenen Jahr ihr Nachbar der Bierbrauer, auch einmal auf dem festen Lande den Lord spielen wollen; was, wie sie gehört haben, mit den dazu gehörigen Guineen, die sie im Ueberfluß besitzen, gar nicht schwer hält. Die größere Hälfte der großen englischen Equipagen, welche Deutschland jetzt nach allen Richtungen durchkreuzen, ist mit Reisenden dieser Art angefüllt, die man, bei einiger Uebung, an ihren übertriebenen Forderungen und an ihrer großen Unwissenheit sogleich für Das erkennt, was sie sind; besonders aber an dem wirklich unanständigen Geiz beim Bezahlen der Rechnung im Gasthofe. Sie kommen spät Abends an, halten, ohne zu soupiren, die Leute bis zwei, drei Uhr in der Nacht mit Anordnung der Zimmer und Betten auf, die ihnen nie gut genug sind, reisen ab, ohne zu frühstücken, und wundern sich unter lautem Schimpfen und Schelten, wenn der Wirth für alle seine Mühe und Unruhe entschädigt sein will.

Die wirklich Vornehmen sind zwar nicht minder stolz, nicht minder arrogant, mit einem Wort, nicht minder nationell als ihre Nachahmer, die im Auslande sich ihnen gleichzustellen trachten, aber der Stolz steht ihnen besser, weil er ihnen natürlicher ist, und das Bewußtsein des ihnen wirklich angebornen hohen Ranges schützt sie vor der Lächerlichkeit, ihn recht auffallend zur Schau tragen zu wollen. Auch sind sie gewöhnlich schon mit den Sitten außerhalb ihrer Insel einigermaßen bekannt, die sie zum Theil selbst in ihren Kreisen angenommen haben, und werden dadurch vor zu groben Verstößen gegen dieselben bewahrt.

Uebrigens verhalten sie sich nicht minder schroff und unzugänglich gegen Unbekannte als ihre Nachahmer, und möchten, eben wie diese auch, von ihrer gewohnten Lebensweise um keinen Preis auch nur um ein Haarbreit abweichen; aber was sie ganz besonders vor denselben auszeichnet, ist die Scheu, die sie vor ihren eigenen Landsleuten bezeigen, sobald diese und ihre Abstammung ihnen nicht wenigstens dem Namen nach bekannt sind. Sie gehen jeder Annäherung derselben auf eine wirklich beleidigende Weise aus dem Wege, um nur nicht in Bekanntschaften zu gerathen, durch die sie bei ihrer Heimkehr sich compromittirt fühlen können, und lassen, bei aller ihrer abstoßenden Zurückgezogenheit, sich doch noch weit eher mit den Landeseingebornen in ein Gespräch ein, wenn die Noth sie dazu zwingt. Solch ein in der londner vornehmen Welt unbekanntes Geschöpf könnte ja nach seiner Rückkehr in London sich erdreusten, mit der Ehre ihrer Bekanntschaft groß zu thun, vielleicht gar einen Versuch wagen, sie zu besuchen und ihre Visitenliste durch seinen plebejen Namen entweihen; oder, was das Entsetzlichste wäre, in der Oper durch einen Gruß die momentane Bekanntschaft weltkundig machen!


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