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Es war an einem Juniabend am Rande der Campagna, daß wir zuletzt beisammen gewesen, Freund Giulio und ich. Die Sonne brannte in die Scheiben der Osteria, als wir die Gläser erhoben, um Abschied zu nehmen auf Jahre. Eine Zeit, die wir als Brüder verlebt, lag hinter uns, ein Abschnitt der Jünglingszeit voller Freiheit und gemeinsamen Strebens, gemeinsamer Armut und ehrlich geteilten Überflusses an goldenen Zukunftsträumen. Giulio wollte seine Malerstudien auf der Akademie beendigen; meiner harrten lange und ernste Reisen. Noch einmal gedachten wir unserer Hoffnungen, gelobten, der Kunst wie allen anderen Idealen treu zu bleiben, und schwuren uns in erregter Jugendstunde, dereinst berühmt zu werden. Dann noch ein Händedruck, und ich stand vor der Schenktür im Winde und sah den Staubwolken nach, die des Vetturins klappriges Gespann dahintrieb, die Straße entlang am Fuße der braunen Sabinerberge.
Wir schrieben uns, wie's oft geschieht, erst häufig, dann gar nicht mehr. Das Schweigen entfremdete uns ebensowenig wie die Trennung, unsere Freundschaft war eine sichere. Auch wir hatten wohl heimlich denselben Gedanken im Herzen: einander dann erst begegnen zu wollen, wenn jenes Versprechen, das wir uns beim Abschiede gegeben, wenigstens teilweise erfüllt sei.
Giulio hat seinen Schwur gehalten, besser jedenfalls als ich. In einem südlichen Weltteile führten mir nach Jahren fremde Journale seinen Namen vor Augen. Dann mehrten sich die Nachrichten; ein Bild Giulios sei preisgekrönt, ein zweites, kaum vollendet, von der Landesregierung angekauft worden, ein drittes reise durch die Welt und entzücke auf Kunstausstellungen die Kenner. Als ich, Monate später, nach Europa zurückkehrte, fand ich jene Nachrichten bestätigt, Giulios Namen in aller Mund. Er hatte dasjenige in Jahren erreicht, wozu es sonst eines Menschenalters bedarf; er war berühmt geworden und – wer hätte es je gedacht – reich. Als sein Aufenthaltsort wurde mir Neuilly bei Paris angegeben, woselbst er sich ein schönes, geräumiges Heim gegründet habe.
Ich durfte fürs erste nicht daran denken, ihn aufzusuchen; Geschäfte, deren es nach meiner Rückkehr genug zu erledigen gab, fesselten mich einen ganzen Sommer hindurch an die Heimat. Räumlich dem Freunde näher, weilten meine Gedanken, in der Vorfreude des nicht mehr fernen Wiedersehens, um so öfter bei ihm. Es ist etwas Eigenes darum, liebgewonnenen Personen nach langer Trennung wieder zu begegnen; das Leben mag einen Riß geschlagen, Krankheit, Mißerfolg, Kummer, Zufall, Lauf der Welt können die Herzen unvermerklich verändert, entfremdet haben – bei Giulio hegte ich derlei Befürchtungen nicht. Er war noch jung, er war sicher der schaffensfrohe prächtige Geselle von ehedem geblieben, eher kraftbewußter, der Erfüllung seiner Ideale näher, lebensfreudiger gemacht durch den Erfolg, der seine Auserwählten wunderbar fröhlich erhält und stählt. An einem jener frischen, sonnigen Herbsttage, welche die Natur nur findet, um vor Nebeleinzug noch einmal alles zu vereinen, was sie an Vogelgezwitscher, warmem Sonnengolde und bunten Farben zu bieten vermag, verließ ich den Wagen vor Neuilly und durchschritt, innerer Eingebung mehr als Erkundigungen folgend, die freundlichen, weithin sich streckenden Villeggiaturen. Eine Besitzung, größer und abgelegener als die anderen, zog mich unwillkürlich an, sie lachte im Sonnengolde aus dunklen Bäumen hervor; hinter dem Gitter, im taublitzenden Grase, arbeitete ein alter Gärtner. Ich hatte mich nicht geirrt, auf meine Frage öffnete er höflich das Tor, wies mit der Hand die Allee hinunter und kehrte zu seiner Arbeit zurück. Bei einer Biegung des Weges lag das weiße, zweistöckige Haus vor mir, die Front nach Süden, mit einer breiten Terrasse, darüber sich rötliche Weinreben und verblühte Glyzinien rankten. Der Schatten sehr alter Ulmen breitete sich über Grasplatz und Kiesweg, die hochstämmigen Rosen waren, der Nachtfröste halber, schon niedergelegt. Es war traulich hier und vornehm, doch einsam, etwa als sei der Besitzer abwesend oder in Trauer; vor der Treppe stolzierte ein schöner Goldfasan, zuweilen im Sande pickend und mich dann musternd mit schrägem Halse und einem heraufgezogenen Beine. Der Vorsaal war leer, im Winkel hing ein alter brauner Mantel, dran ein verbogener Knotenstock – alte Bekannte aus der Campagna. Ich schritt an ihnen vorüber, die Treppe hinauf, deren Stufen sehr niedrig waren und mit Teppichen belegt, sie mußten den nächsten Weg zum Atelier bilden. Eine Tür stand weit offen, des Seitenlichts halber, dann einen Schritt noch und ich überraschte Giulio, wie er an einem halbfertigen Bilde matte, ruhig, mit sicheren großen Pinselstrichen.
So, gerade so hatte ich mir unser Wiedersehen vorgestellt – so gesund hatte ich ihn wiederzufinden gehofft, den lieben, prächtigen Freund, der, schwärmerisch im Wollen, ernst im Vollbringen, den schweren Kampf um Dasein und Ruhm nun überstanden hatte, glücklich und ungebeugt wie keiner …
Ein Ruf, ein helles Lächeln hinüber, herüber, und wir umarmten uns, ungestüm, glücklich, wie in alter Zeit.
Die nächste Stunde verging in einem Strom von Fragen und Antworten; zehn Jahre der Trennung wurden in sprühenden, sich überstürzenden Gedanken noch einmal durchlebt. Kaum weiß ich, daß ein Diener uns mehrfach gemahnt, und daß wir die Treppe hinunter und zu Tische gegangen, daß wir die Speisen kaum berührt und dann die ersten Zigarren fortgeschleudert, weil sie nicht brennen wollten, und weil wir eher zu plaudern bedurften als zu rauchen.
Wir saßen nach dem Mahle in seinem Arbeitszimmer, bei offenen Fenstern, vor uns Trauben in Kristallschalen und Gläser mit rotem Burgunder randvoll. Wir sprachen lange weiter und schwiegen dann, der erste Taumel des Wiederfindens war verweht, der erste Rausch verflogen. Fern an der Villa vorbei rollten einige Wagen, darin Hauptstädtler wohl, die von einer Lustpartie heimfuhren. Sie sangen vielstimmig, nicht mehr taktsicher ein abgedroschenes Lied, Hundegebell folgte ihnen Don weitem aus allen Türen. Wir schwiegen, ein leiser Windstoß warf einige rote Weinblätter, Überbleibsel des Spätsommers, auf unseren Tisch.
Giulio blickte wie müde auf die Rasenplätze hinaus, über diese schritt der alte Gärtner von vorhin, er hatte seine Schürze voll Stroh und umhüllte damit die Köpfe der niedergelegten hochstämmigen Rosen; unter uns ließen die Kastanienbäume einzelne Blätter in den Kies fallen, leise und widerwillig, von der dunklen Ulmengruppe kam ein fröstelndes Zittern herüber.
»Deinen Ruhm, Giulio!« – sprach ich, fröhlich das Glas hebend – »wir haben vergessen, ihn zu feiern.«
Er lächelte nicht, wie ich's erwartet hatte, sondern führte das Glas an die Lippen und stellte es dann mit zitternder Hand zur Seite.
»Meinen Ruhm,« sprach er langsam, fast mit Bitterkeit, »o schweig mir davon! Du weißt nicht, wie schwer ich ihn erkauft habe, und wie gerne ich ihn gelassen hätte um eine Spanne warmen, menschlichen Glückes. Der Lorbeer, Freund, ist eine ernste Pflanze, und ihr liebster Tau waren von jeher Tränen.«
Ich sah bestürzt auf; von seinem Gesichte schien jede Freudigkeit, jeder Lebensmut fortgelöscht. Erst jetzt gewahrte ich, daß sein Haar an den Schläfen grau geworden, daß um seinen Mund zwei feine, tiefe Furchen lagen, die nur ein großer Schmerz zurückgelassen haben konnte.
»Vielleicht fühlst du dich einsam, Giulio«, begann ich nach einer Pause. »Dein Haus ist ohne Kinder« …
»Ohne Gattin,« ergänzte er trüb, »es hat nicht anders sein sollen. Doch ich will nicht schwach sein,« fügte er hinzu, als wolle er männlich das Weh zurückkämpfen, das ihn übermannt hielt, »du hast recht – es lebe der Ruhm, der ernste, schwer erkaufte Ruhm, denn er ist auf Erden der einzigste und edelste Ersatz für verlorenes Glück.«
Er hob sein Glas ins Licht der sinkenden Sonne und leerte es langsam. »Willst du eine Geschichte hören, die ich noch keinem erzählt, ein Bild sehen, das noch kein Auge erschaut, das ich vernichten werde, ehe ich sterbe, damit es keinem lächle als mir? Sieh her, mein einziger Freund – dies Wesen hat gewollt, daß ich den Ruhm fände, und hat von mir gelassen in Unschuld und Übermaß göttlicher reiner Opferfreude, einzig damit ich groß würde. Und ihr zuliebe habe ich fortgelebt und fortgelitten, einsam im Leben, einsam im Herzen, bis ich ihn fand, den strengen Gefährten, bis endlich er mein war, der hohe, schmerzgeborene, aus Erdenweh und Erdenschatten erlösende Ruhm« …
Er tat einen Griff in ein goldenes Gitterwerk, das schwere Gardinen halb deckten: zwei Türflügel, aus Bronze getrieben, schlugen auf, aus einer Umrahmung von Samt strahlte ein Bildnis, so schön und lebensunmöglich, wie es Dichtern zuweilen im Traume erscheint. Es war eine Frauengestalt in weißem Gewände, schlank, mit blassen Zügen, draus dunkle, fast allzu große Augen fremd blickten, Augen wie Blumensterne, die sich für einen Tag öffnen und dann von der Erde scheiden, der sie nicht angehören dürfen. Ihr dunkles Haar durchzog ein rotblühender Mandelzweig, sie streckte die Kinderhand hinaus ins Leere, und an der Brust trug sie einen Strauß von Märzveilchen und Auferstehungsblumen. Das war das Bildnis einer tief Geliebten, vielleicht noch Lebenden, aber gewiß Verlorenen.
Nein – sie mußte tot sein. Unter dem blütenroten Munde lag ein Zug, den keine noch so geniale, fiebernde Künstlerhand findet, ein Zug, den nur einer mit edlem, unfehlbarem Striche hinmalen kann, streng, doch versöhnend, der Tod.
»Erzähle, Giulio«, sprach ich so leise, als seien wir in der Kirche.
Er strich mit den schmalen Fingern das Haar aus der Stirn. »Damals,« begann er, »als wir in der elenden Osteria so begeistert voneinander schieden, schlug mir das Herz nicht ebenso leicht, als du vielleicht glauben mochtest. War ich auch ein junger, lebensfroher Geselle, der Kraft und guten Willen in sich fühlte, so schien doch der Himmel meiner nächsten Zukunft nichts weniger als rosig. Elternlos und blutarm, ermöglichte mir nur der karge Zuschuß eines entfernten Onkels den Besuch der Akademie. Wenn es nun ein Wesen gab, dem die Kunst innewohnte, eine widerwillig gespendete Wohltat für den Empfänger möglichst fühlbar und demütigend zu gestalten, so war es unstreitig dieser Onkel, welcher damit begann, sich aus übler Laune für die mir notgedrungen gewährte Unterstützung eine fast unerträgliche Bevormundung meines Tuns und Lassens anzumaßen. Obschon er, aus Sparsamkeitsgründen, ein kleines Häuschen meilenfern von der Stadt bewohnte, scheute er den weiten Weg nicht, um wöchentlich mindestens einmal die vier Treppen, welche meine Mansarde von der Welt trennten, zu ersteigen, in meinen Skizzen umherzuwühlen, meine Fortschritte zu bemäkeln und mich, unter deutlichem Hinweis auf die schweren Opfer, welche er mir bringe, zum Fleiße anzuspornen. Häufig genug lud er mich ein, den Beruf, den ich, Gott sei's geklagt, aus Überschätzung und Verblendung erwählt habe, lieber aufzugeben und dafür das meinen Fähigkeiten weit angemessenere und einträglichere Handwerk eines Stubenmalers zu ergreifen. Dabei stellte er sich aber dümmer, als er in der Tat war, denn wie ich später erfahren, setzte er Hoffnungen auf mich und besuchte heimlich die Professoren, um deren Urteile, die günstig lauteten, zu seiner Beruhigung einzuholen. Somit betrachtete er mich als eine allerdings gewagte Gründung, aus welcher er späte, aber um so höhere Prozente zu erzielen hoffte. Wie sehr gerade ich unter einem solchen Verhältnisse leiden mußte, brauche ich dir wohl kaum zu schildern. Ich war jedoch im stillen zuversichtlich, arbeitete unbekümmert fort und begnügte mich, wenn der Onkel einen seiner Strafbesuche beendet hatte, mein Zimmer auszulüften und indessen ein halbes Stündchen zum Fenster hinauszusehen.
»Weit war die Aussicht freilich nicht, unter mir lag ein verwahrloster Garten mit einer Zisterne und etlichen hohen, finster aussehenden Bäumen über mir mußten noch ärmere Schlucker wohnen, als ich es war. Dieses ›über mir‹ war eigentlich keine richtige Bezeichnung, denn die zu meiner Wohnung gehörige Tür ging auf ein plattes Dach, dessen Ende einige Stufen aufwies, welche zu einem durch die unregelmäßige Bauart des Hauses immerhin möglich gewordenen Erkeraufsatze führten. Von meinem Fenster aus war nur eine schmale Mauerwand erkennbar, darüber ein paar Quadratfuß blauer Himmel. Zur Not konnte ich die Hälfte eines stets offenen Fensters gewahren, vor dessen weißen Gardinen ein kleiner hölzerner Vogelbauer hing, mit einem munteren Stieglitz darin.
»Einmal bog ich mich, der milden Frühlingsluft wegen, besonders weit hinaus und übersah das Gebiet meiner Nachbarn ganz. Einige Blumenstöcke raubten mir den vollen Einblick, dennoch gewahrte ich hinter den windgeblähten Gardinen ein junges Mädchen, welches in eine Stickarbeit vertieft schien. Ihre Hand hob und senkte sich hinter dem Fensterbrette, den Faden automatenhaft ziehend; ihr Gesicht, das ich gern deutlicher gesehen hätte, verharrte eigensinnig im Halbprofil, ich konnte nur erkennen, daß sie ein schönes, schweres Haar hatte, tiefbraun mit einem Goldstriche. Die Spätnachmittagssonne fiel über die Dächer und schickte ihre Strahlen in das sonst gewiß sehr dunkle Stübchen. Ich konnte einen Teil davon, der nichts Bemerkliches bot, übersehen, einen Kleiderständer, eine Tischkante, den geschweiften Fuß eines alten Schrankes, die Hälfte eines Bettes, auf dem eine Gestalt zu liegen schien, welche von einem übergespreiteten Rahmen Wergzotteln oder Wollflocken zupfte.
»Das alles war uninteressant und natürlich. Arme Leute, so wie ich. Da ich arbeiten mußte, schalt ich mich ob meiner Zeitversäumnis, warf den Fensterflügel zu und öffnete ihn lange nicht wieder. Manchmal begegnete mir im turmartigen Treppengestiege unseres Hauses eine Gestalt, welche wohl die volle Ergänzung des flüchtig erschauten Halbprofils meiner Nachbarin sein mochte, doch wußte ich's nicht mit Bestimmtheit, denn sie schritt stets schnell an mir vorüber, die Falten ihrer Mantille nach Art der Genueserinnen tief in die Stirne geschlagen. Zuweilen ärgerte mich der Faulenzer, der Stieglitz, der zu zwitschern anhub, wenn die Nachmittagssonne um die Ecke kam und seinen Bauer vergoldete, indessen ich emsig, mit tastenden Kohlenstrichen dem unglaublich verbogenen Arme einer klassischen Nereide zu korrekt osteologischer Berechtigung verhalf.
»Einmal jedoch war der Bauer des Stieglitzes verhangen, das Fenster beharrlich geschlossen; ich entsann mich, im Laufe des Nachmittags auf der Treppe draußen ungewohnten Lärm vernommen zu haben, wie vom Ein- und Ausgehen mehrerer Menschen. Ein eigentümliches Gefühl der Unruhe trieb mich auf die Terrasse und die wenigen Stufen zur Wohnung meiner Nachbarin hinan. Ich redete mir ein, daß es Pflicht sei, diesen Gang zu tun; konnte doch den hilflosen Frauen in ihrer Einsamkeit ein Unglück widerfahren sein, vielleicht daß sie erkrankt waren, oder daß ihnen der Hausherr die Möbel abgepfändet hatte … als ich nach leisem Anpochen die Tür geöffnet, ward mir freilich bald Bescheid. Vor dem leeren Bette mit den zerwühlten ärmlichen Kissen kniete das junge Mädchen, den Kopf an die Bretterkante des elenden Lagers gelehnt; auf dem weißgedeckten Tische stand eine Schale voll Wasser, darin einige zusammengebundene Zweige tauchten, den Raum selbst durchquoll der weichliche Duft halbverflogenen Weihrauchs.
»›Sie haben die Großmutter fortgetragen,‹ sprach das arme Kind, indem sie den Kopf hilflos nach mir umwandte – ›sie haben sie fortgetragen, meine liebe, gute Großmutter‹, wiederholte sie, als wolle sie sich den vollen Umfang ihres Verlustes so recht zum Bewußtsein bringen. Dann barg sie den Kopf in die Hände und begann zu weinen, wie Kinder es tun, schluchzend, unaufhaltsam; ich hatte noch niemals einen so wilden Schmerzesausbruch gesehen.
»Obwohl sie untröstlich schien und mir selber es nicht eben leicht fiel, beim Anblick eines solchen Kummers völlige Fassung zu bewahren, begann ich, ihr Trost zu spenden, so gut ich's konnte. Gegen Abend wurde sie ruhiger, und ich schied, nachdem ich das Versprechen gegeben, sie am nächsten Tage auf dem Gang zum Friedhofe zu begleiten, da ihr der erste Anblick des frischen Grabes unendliches Grauen einzuflößen schien. Ich war zur angegebenen Stunde fertig, und es schnürte mir das Herz zusammen, als ich bemerkte, daß das arme Kind die Nacht hindurch gearbeitet haben mußte, um sich mit geradezu rührender Erfindungsgabe eine Art von Trauerkleidung zusammenzustellen. Der weite Gang vors Tor hinaus tat ihr sichtlich wohl, auch auf dem Camposanto blieb sie gefaßter, als ich zu hoffen gewagt hatte. Das Grab lag, ein länglicher, sehr schmaler Hügel, eingepreßt in die Reihe der übrigen Armengräber, die sich am Ende des großen Mauervierecks regelmäßig geschichtet dahinzogen, ohne Stein noch Kreuz, zuweilen mit einem Holztäfelchen geziert oder einem vom Regen arg mitgenommenen Glasperlenkranze. Mein junger Schützling kniete vor dem Hügel und betete; der Friedhof war menschenleer, nur die Februarsonne überflutete ihn voll, und ein verfrühter Schmetterling taumelte in schrägem Fluge über die Gräber und über die langen Halme, die hin und wieder zu grünen begannen.
»Auf dem Rückwege bat ich sie, mir von ihrem Leben zu erzählen. Es war die altgewöhnliche Geschichte, die so millionenfach sich wiederholt, daß sie langweilig wäre, wenn nicht in ihr eine sich rastlos erneuernde Anklage gegen die Vorsehung läge. Ihre Eltern hatte sie nie gekannt, war von der Großmutter auferzogen worden. Dann hatte sich die Großmutter gelegt und das Kind die Rolle der Wärterin übernommen, hatte durch Stickarbeit jahrelang die Greisin und sich selbst ernährt. Nun war die Alte gestorben und hatte sie allein gelassen, mit siebzehn Jahren allein auf der Erde! Mich überlief ein Schauder. Als wir zu Hause angelangt waren, bat ich, öfter nach ihr sehen, ihr mit treuem Rate beistehen zu dürfen. In ihre traurigen Augen kam ein Strahl von Freude und sie dankte schüchtern. ›Noch weiß ich nicht Ihren Namen‹, erinnerte ich beim Fortgehen, ihre feinen Finger freigebend. ›Ich heiße Lia‹, sprach sie, und mir war es, als flösse dieser Name von ihren Lippen wie eine Melodie.
»Allnächtlich sah ich in ihren Fenstern den zitternden Lichtschein, bei welchem sie bis gegen Morgen wach saß und stickte. Die Kosten der Krankheit und der Beerdigung mußten die letzten Mittel erschöpft, in das ärmliche Stübchen die bitterste Not gebracht haben. Nach langem Sinnen verfiel ich auf den Gedanken, ihrer Armut mit der meinigen zu Hilfe zu kommen, und zwar auf eine Weise, die nichts Verletzendes haben konnte. Ich brachte ihr die geringe Summe, mittels welcher ich monatlich in einem Speisehause meine Nahrung bestritt, und bat sie, mich der Zeitersparnis halber bei sich in Kost nehmen zu wollen. Sie wurde verlegen und nahm den Vorschlag dankbar an, mit einer inneren, kindlichen Freude, die mir unendlich wohl tat. Jeden Mittag kam sie nun die wenigen Schritte herüber und brachte mir in einem Handkorbe Brot nebst zwei sauber zugedeckten Tellerchen. Wenn auch mein jugendlicher Appetit nicht gerade seine Rechnung fand – denn das arme Kind führte eine wahre Puppenküche, ihren eigenen Bedürfnissen und der gewohnten Krankendiät der alten Großmutter entsprechend –, so entschädigte mich doch reichlich ihr liebes gemessenes Walten, sowie die schüchterne Sorglichkeit, mit der sie mich umgab. Auch beobachtete ich mit geheimer Freude, daß ganz allmählich ihre Wangen eine frischere Farbe gewannen, und daß die Lampe in ihrer Kammer nicht mehr bis in die Morgendämmerung hinein brannte. Nach und nach – es ging jedoch langsam – brachte ich sie dazu, länger mit mir zu plaudern und die scheue, fast ehrerbietige Befangenheit, die sie mir gegenüber hegte, ein wenig abzulegen. Ich erklärte ihr nach und nach meine Skizzen so, wie man einem Kinde ein Bilderbuch weist, erzählte ihr dies oder jenes Märchen, das der Darstellung zugrunde lag, und erfreute mich an ihrer natürlichen Begeisterung für Poesie, an ihren Fragen und Reden, die oft von bestrickendem, einfachem Liebreize waren. Freilich lagerte über ihrem ganzen Wesen und Gebaren ein trüber Schleier, den es schwer hielt gänzlich zu heben. Wenn ich von meinen Träumen und Zielen sprach, von der hohen, strengen und heiligen Kunst, die mir über alles teuer war, lauschte sie mit ihren großen dunklen Augen, als begehre sie den Glanz zu schauen, den meine Worte vor ihr entrollten, als sehne sie sich, aus ihrem Leben voll Not und Trübsal einen Blick hinüberzutun in die gepriesene, fremde, sonnige Welt. Ich freute mich, daß dies arme, verkümmerte Herzchen sich langsam an dem spärlichen Strahl von Fürsorge und Freundlichkeit zu wärmen begann, den ich ihr spendete, so gut ich's eben vermochte.
»Eines Tages bat sie, ich möge ihr gestatten, mein Zimmer dann und wann in Ordnung zu bringen, denn es sähe oftmals staubig und unwohnlich aus. Scherzend händigte ich ihr den Schlüssel ein und fügte hinzu, daß ich ja meistens abwesend, vormittags namentlich stets auf der Akademie sei. ›Du magst schalten und walten bei mir nach Belieben, Lia‹, endete ich. Sie errötete tief, und auch mir schoß das Blut ins Gesicht, denn ich hatte sie, unachtsam, zum ersten Male ›du‹ genannt. Das Wort war mir in den Mund gekommen, ich weiß nicht wie, ganz von selbst – und da sie es nicht rügte und ich nicht zurücklenken wollte, blieb ich fortab dabei. Um jedoch für den Augenblick meine Verlegenheit zu verbergen, zeigte ich ihr eine Mappe mit losen Blättern, die ich nicht durcheinandergeworfen zu sehen wünschte, ferner einen kleinen Wandschrank, in welchem meine Farben verwahrt lagen. ›Auch den berühre nicht, Lia,‹ bat ich, ›es befinden sich Dinge darin, welche eigen sind und gegen den Einfluß von Luft und Licht empfindlich. Dies Fläschchen hier enthält sogar Gift; wenn es zerbrochen würde, könnte leicht großes Unglück entstehen. Wenige Tropfen nur, in eine Wunde oder auf die Lippen gebracht, würden sicheren Tod herbeiführen.‹
»Sie sah das Fläschchen an, neugierig wie ein Kind, doch flog ein Schaudern über ihre Schultern. ›Wenige Tropfen … sicherer Tod‹ … wiederholte sie, um einen Schatten blässer werdend, ›das hätte ich mir gewünscht, damals, als sie die Großmutter fortgetragen. Jetzt aber, o nein, jetzt möchte ich nichts mehr davon wissen,‹ unterbrach sie sich hastig, zu mir gewandt, ›es wäre ja sündhaft und schlecht, wollt' ich so undankbar sein‹ … sie sah mit einem vollen Lächeln zu mir empor, aber gleich darauf lag doch wieder ein Schatten auf ihren Zügen. Sie hatte eben viel gelitten, und ihr Wesen trug, selbst in Stunden der Freude, einen schwermütigen Hauch, der sich niemals ganz verlor. Ich bemühte mich, sie um so inniger an mich zu ketten, ihr die Zukunft, das Leben, die Jugend mit frischen fröhlichen Farben zu malen, sie immer enger eine Genossin meiner Hoffnungen und Künstlerträume werden zu lassen. Meinen Bitten nachgebend, kam sie, erst selten, dann regelmäßig, nach beendetem Tagewerke zu mir herüber. Während sie dann eine leichte Handarbeit fertigte, machte ich Feierabend, strich nur, plaudernd, hin und wieder ein wenig an meinen Skizzen, oder begann aus Büchern vorzulesen, welche Lias Fassungskraft angemessen waren. Dieses reine Zusammenleben beglückte mich unendlich, Lias Anwesenheit brachte mir Segen wie das Walten eines freundlichen trauten Hausgeistes. Meine Fortschritte mehrten sich, meine Arbeitskraft wuchs, ich bekam sogar dann und wann Käufer für meine Skizzen und Erstlingsstudien, ein leiser Wohlstand zog mählich bei uns ein, es war die glücklichste Zeit meines Lebens.«
Giulio schwieg. »Ja, ich liebte sie,« sprach er dann, mir voll ins Gesicht sehend; »es war die echte Liebe, der darum gerade jeder unreine Gedanke fernblieb. Die Welt würde darüber lachen, würde ein unschuldiges Zusammenleben zweier jugendlicher heißer Herzen bestenfalls schwer begreiflich finden. Mir war Lia einfach heilig, weil sie hilflos war und weil ich sie liebte; die wenigsten ahnen freilich, daß wahre Liebe in ihrem tiefsten innersten Wesen keusch ist. Doch ich will kurz sein und deine Freundesgeduld nicht mehr lange ermüden.
»Es war damals um die Zeit meines Namenstages, und wir hatten uns auf eine kleine Feier desselben lange im voraus gefreut. Wir wollten einmal so recht um die Schule gehen und den ganzen Nachmittag im Freien verleben, irgendwo vor dem Tore zu Mittag essen, weit ins Freie wandern und den Abend in einem Gartenkonzerte beschließen. Lia hatte zum ersten Male ihre Trauer abgelegt und sich für ein gewisses weißes Sommerkleidchen entschlossen, das nach langen Verhandlungen bei einer Putzmacherin bestellt worden war. Der ersehnte Tag brachte herrliches Wetter, doch hatte sich gegen Mittag das Kleid noch nicht eingefunden, so daß Lia ungeduldig die Treppen hinunterhuschte, um durch einige gute Worte die Lieferung zu beschleunigen. Ich war gerade, seelenvergnügt, im Begriffe, auch meinem Äußeren einen möglichst sonntäglichen Anstrich zu verleihen, als ich auf dem Gange schlurfende, wohlbekannte Schritte vernahm, welche, obwohl ich sie niemals mit Vergnügen gehört, mir heute, gerade heute eine Welle von Arger ins Gesicht trieben. Daß meines Onkels Besuch, dessen ich mich lange nicht zu erfreuen gehabt, mit einer Gratulationsvisite wenig Gemeinsames haben würde, konnte ich mir leicht denken. Ich fühlte einen Augenblick die Versuchung, den Tauben zu spielen, doch eingedenk des Satzes, daß auf Erden keine ungetrübte Freude wohnen solle, öffnete ich rasch, um den Unwillkommenen desto früher los zu werden. Er trat ein, wie immer vom Ersteigen der Treppen kirschrot geworden, doch las ich sofort in seinen hämischen Zügen, daß sein Kommen einen ganz besonderen Zweck hatte, und daß er mich ärger behandeln würde als vielleicht je zuvor. Kaum war er ins Zimmer getreten, als er mich von oben bis unten besah und dabei zu lachen begann, als würde stoßweise an einer verrosteten Klingel gerissen. Er konnte lange nicht zu Worte kommen, dann brach der mißtönige Sturm los: ›Im Festtagsgewande anstatt in der Akademie … man hatte mir also nicht zu viel gesagt … recht so, mein Söhnchen, mein Herzenssöhnchen, du bist auf dem besten Wege … prasse weiter, lustig weiter, vergiß alle Wohltaten, bekümmere dich nicht um deinen alten Onkel, deinen Nährvater … bestiehl ihn, mein Söhnchen, bestiehl ihn weiter, vergeude sein Geld mit einer Dirne‹ –
»Das also war es. Ich erhob mich, faßte ihn bei den Schultern, so daß sein morscher Rock in den Nähten krachte, und trug ihn ohne Mühe der Türe zu. Unterwegs fiel mir ein, daß ich dem Manne Dank schuldig sei, daß er, von seinem freilich erbärmlichen Standpunkte aus, sogar recht habe. Ohne seine Hilfe hätte ich niemals die Akademie besuchen können, ich hatte Wohltaten von ihm empfangen und gehörte ihm deshalb … sein war unstreitig, was mein Talent hervorbringen konnte, und dieses wenige hatte ich allerdings für mich verwendet, für mich und Lia …
»Ich ließ ihn frei und preßte die Stirn ans Fenster. Von meinem Griffe halb erwürgt, sprudelnd, greinend wie ein Fischweib, bereitete er mir die ärgste Szene, die ich je erduldet. Er erzählte mir zum hundertsten Male die Opfer auf, die er mir gebracht hatte oder gebracht haben wollte, hämmerte auf der Saite der Dankbarkeit, die er gar bald als die schwächste Stelle meines verstörten jungen Gemütes erkannt hatte, unbarmherzig herum, prophezeite mir, daß ich untergehen würde, einen Bleisack an den Füßen, als Künstler wie als Mensch, wenn ich fortführe, mich an ein Wesen – er sagte diesmal nicht Dirne – zu ketten, die mir an Bildung nicht gewachsen sei, die meinem Aufschwunge nimmer würde folgen können, die mir den Weg zum Ruhme unrettbar verlegen, meine Zukunft vernichten, mich durch Familiensorgen hinmorden, mir stets ankleben werde, wie die Lehmscholle am Fuße … alles dieses durchmischte er mit Erfahrungssätzen, mit einer erschreckenden Krämerwahrheit, die darum gefährlich ist, weil sie so natürlich und überzeugend lautet, daß Kinder sie begreifen müssen.
»Mir war es, als hörte ich draußen einen halb erstickten Klageruf – sollte Lia den Auftritt belauscht haben? Heiliger Gott, ich wäre vor Scham und Schmerz gestorben! Den Unheilsprediger zur Seite stoßend, riß ich die Tür auf und blickte angstvoll über die sonnenbeschienenen Quadern … dem Himmel sei Dank, es war eine Täuschung gewesen, ich war allein auf der Terrasse, wirklich allein. Ich lauschte noch einen Augenblick, doch alles blieb still; als ich, in dieser Richtung beruhigt, nach dem Zimmer zurückkehrte, fand ich es leer. Mein Peiniger hatte sich, vielleicht einen neuen Ausbruch meiner Heftigkeit befürchtend, entfernt. Im Treppenhause verhallte sein Schritt, ich hörte, wie er die Hoftür heftig ins Schloß warf.
»Wie von einem Alp befreit, atmete ich auf. Die Erregung und Bitterkeit, welche der unliebsame Zwischenfall in mir wachgerufen hatte, kämpfte ich gewaltsam nieder, der Gedanke an Lia verhalf mir dazu. Sie durfte nichts von dem Vorgefallenen ahnen, der schöne Tag, auf den wir uns so lange gefreut, sollte ihr wenigstens nicht verdorben werden.
»Allmählich gewann der Jugendmut die Oberhand, noch halb ärgerlich, mußte ich über den beschleunigten Rückzug meines würdigen Oheims lachen, dann ordnete ich meinen Anzug und ging zu Lia hinüber. Sie kam mir auf der Terrasse entgegen, Körbchen und Sonnenschirm in der Hand, ganz reizend in ihrem neuen Sommerkleide, drin der Zugwind sich fing, der es zurückwehte über ihre nervigen schmalen Füße; sie bat mit munterer Stimme um Verzeihung, falls sie Verspätung verursacht habe.
»›Was ist mit dir, Lia,‹ fragte ich bestürzt, ›hast du geweint?‹
»Ihre Lippen zuckten unmerklich, bitterleise. ›Ja, ein wenig,‹ sagte sie, ›ich will es gestehen. Als ich nach Hause kam, fand ich den Vogelbauer offen und den Stieglitz davongeflogen! Die Tür wird aufgesprungen sein … armer kleiner Bursche, er war mir ein Freund in allen trüben und guten Tagen.‹
»Mit einem Ausrufe des Bedauerns trat ich näher. Der Käfig war freilich leer, doch begriff ich nicht recht, wie die Tür, welche ein fester kleiner Holzpflock verschloß, so leichtlich aufgesprungen sein konnte.
»›Es tut nichts‹ sagte Lia, sich Trost einredend, ›ihn lockte wohl die Freiheit, den armen Schelm. Vielleicht finden wir ihn draußen wieder, in irgend einer blühenden Hecke. Doch nun laß uns gehen, wir haben einen langen, schönen Nachmittag vor uns.‹
»Wir schritten dem Tore zu, die Menschen kamen und gingen geschäftig, es war ja Werktag, und nur in uns festliche Stimmung. Lia schwebte an meinem Arme und plauderte fröhlich wie ein Kind, lachend, fragend und wieder fragend, ohne die Antwort abzuwarten. Ich ging neben ihr, träumend, im Zauber ihrer leisen, goldhellen Stimme, die ich niemals so nahe, so süß und so fröhlich gehört hatte. Sie war glücklich, ich fühlte es wohl, glücklich wie vielleicht nie zuvor im Leben, und dennoch war ihre Freude keine laute, sondern blieb verschleiert von tiefer Sinnigkeit, von leiser, unüberwindlicher Schwermut.
»Eine Hökerin, welche ihren Kram unter dem Stadttor feilbot, rief mir freundlich geschäftig entgegen, ich solle nähertreten und Früherdbeeren kaufen für die schöne junge Madamina. Lia lächelte hell, indessen ihre Hand sich fester auf meinen Arm legte; wir blieben stehen und kauften einen kleinen Vorrat, den uns die Hökerin auf einem grünen Blatte überreichte. Lia trug das improvisierte Körbchen vorsichtig zwischen den Fingerspitzen davon. Ein wenig weiter spielte ein kleiner Bursche mit runden Ärmchen im Sande. Lia beugte sich nieder und begann ihn mit den Beeren zu füttern wie einen Vogel. Der Kleine ließ es ruhig geschehen, schloß und öffnete das rote Mäulchen und sah mit seinen Blauaugen höchst verwundert drein. Als ihm Lia das Blatt mit dem Rest der Früchte in die Hände gab, stand er auf und lief auf seinen unbeholfenen braunen Beinchen, so schnell er's vermochte, nach Hause.
»Nun waren wir im Freien, zwischen Feldern voll Klee und hellgrünen Halmen, dann wieder an Gartenmauern, über welche Lazerten huschten und knospende Feigenbäume schwache Schatten warfen, dann wogten die Saaten weit um uns, grüne, windzitternde Flächen, und talwärts, verborgen durch eine Wand hochstämmiger Pappeln blitzte der Strom auf, in seichten Wirbeln an flimmernden Kieselbänken, weidenbewachsenen Inseln dahinschießend, bis er in weicher Biegung hinter blaudunklen Baumgruppen verschwand. Ein Weg, von Schlehdornhecken begrenzt, führte zu einem Hause nieder, dessen Veranda ans Wasser reichte; schmale, zierlich bemalte Kähne schaukelten sich im Wellengeflimmer. Im Garten standen vor traulichen Laubenreihen roh gezimmerte Tische; es war ein Lustort, den die Städter zur Sommerzeit häufig besuchten. ›Wir seien die ersten Frühlingsgäste,‹ meinte der gesprächige freundliche Wirt, ›er wolle daher bei der schönen Signora und dem Herrn Gemahle besondere Ehre einlegen.‹ Er hielt sein Versprechen auch redlich, die Forellen waren köstlich, der Landwein kühl, von würzig leichter Herbheit, die auf den Lippen verflog wie der Duft wilder Beeren. Drüben am Flusse scherzten die Fährbuben in derber Jugendlust mit Mädchen, welche Wasser zu schöpfen kamen, ihr helles Lachen klang fröhlich herüber, die Drosseln schlugen in den gelben Weidenbüschen, es lag in der weichen Luft ein Erwachen, ein frohes Ahnen kommender glücklicher Tage, es war zur Frühlingszeit. Wir waren jung und Lia so schön, sie saß unter einem knospenbrechenden Mandelbaum, durch dessen Zweige die Abendsonne fiel, ihr feines sinnendes Gesicht war von einer rosigen Lichtwelle umflossen.
»›Nun wollen wir Blumen suchen‹, sprach sie, meinen Arm nehmend. Wir gingen über die weiten Wiesen, drauf Veilchen und Osterblumen in Menge blühten, auch zackige Wasserlilien mit dunkelblauen Kelchen, es war um uns ein herber Duft von jungem feuchten Grase, vom Rande des Flusses stiegen Nebel auf und zogen als leichte weiße Streifen über die dämmernde Wiese. Wir schritten langsam und wortlos zur Stadt zurück, wie widerwillig, Lia hing müde an meinem Arm, sie hatte den Strohhut abgenommen und trug ihn in der Linken, mit einer Garbe von Blumen angefüllt; es dunkelte schon, als wir zu Hause anlangten. Die Luft in meinem Zimmer war warm, ich stieß die Scheiben auf und lehnte mich ans Fensterkreuz, im verwahrlosten Garten drunten riefen die Frösche, die Baumwipfel wogten schläfrig durcheinander; ich wandte mich ab, kniete vor meinem Lager nieder, und ließ die Stirn übermüdet, frühlingstrunken, auf die Kissen fallen.
»Ein Geräusch erweckte mich. In meinem Zimmer stand Lia, ihr helles Gewand schimmerte weißlich durch die dunkle Stube, sie hielt den hastig gepflückten blauen Blumenstrauß und streckte mir ihn bittend entgegen, er war so schwer, daß er in ihrer Hand schwankte.
»›Sei nicht böse,‹ sprach sie mit leiser zitternder Stimme, ›daß ich noch einmal komme, um dir zu danken – nicht nur für einen ganzen Tag voll Glück, für noch viel mehr, für alles, was du mir getan, für alles Liebe und Gute … ich möchte dir so gerne etwas schenken an deinem Namenstage, aber ich bin arm und habe nichts als mein Herz. Willst du es haben, Giulio? Ach, verstoße mich nicht, nimm mich hin aus Erbarmen, ich habe dich ja unsäglich lieb‹ …
»Und mich erfaßte ein Taumel, tausend Quellen brachen mir auf im Herzen. Sie bot mir ihr alles, sie wollte mein sein, sie liebte mich –
»›Lia‹ – stöhnte ich, meiner selbst kaum mächtig, dann tat ich einen Schrei und umschlang ihre bebende Gestalt. ›Die Gabe sollst du nicht bereut haben, du großmütiges, böses, geliebtes Kind! Ja, ich nehme dich und halte dich fest auf ewig, ich nehme dich als meine teure, von Gott geschenkte Frau‹ …
»›Deine Frau‹ – flüsterte sie vor sich hin, ihr Haupt an meine Brust bettend – ›deine Frau‹, wiederholte sie glückselig, wie im Traume sprechend. ›Und nicht wahr,‹ flüsterte sie weiter, ›wenn wir Hochzeit feiern, so wird's in deiner Heimat sein, in dem Kirchlein drüben, wo die Glocken so hell gehen, und der freundliche Pfarrer, der dich eingesegnet hat, wird uns zusammengeben, und es muß ein sonniger Tag sein, und Blumen sollen sie ums Chor winden und um die Stühle, überallhin Blumen, viel Blumen‹ …
»Sie hatte die Arme um meinen Nacken gelegt, der Hauch ihrer Lippen glitt über meine Stirn. Schlaf wohl, du süßes träumerisches Kind – es war zur Frühlingszeit –
»Als ich erwachte, war der Platz an meiner Seite leer. Ich schrak empor und suchte meine Gedanken zu sammeln, ein unerklärliches Gefühl von Angst und Qual schnürte mir die Brust zusammen, lähmte meine Glieder. Ich erhob mich und tat einen Schritt vorwärts. Der Morgen graute fahl, vor dem halboffenen Fenster kniete Lia, das Haupt zurückgeworfen, mit weit ausgespreizten Händen am Gesimse tastend, ihr Leib bebte konvulsivisch, wie von Schauder oder Schluchzen geschüttelt. ›Was ist dir, um aller Heiligen willen‹, schrie ich entsetzt.
»Aus ihrem Gesichte, das sie mühsam umwandte, war der letzte Blutstropfen gewichen, dennoch versuchte sie, mich anzulächeln. ›Ich habe alles gehört‹ – sprach sie tonlos, hastig, ›ihr spracht ja überlaut. Und der alte Mann hatte recht, ganz recht, ich bin deiner nicht wert, ich würde dich doch nur hemmen, dir doch nur im Wege sein … und das durfte ich nicht … aber einmal wollte ich träumen, daß ich wirklich dein Weib sei, wollte nur einmal dir am Herzen ruhen, ehe ich stürbe …‹
»›Lia‹ – rief ich verstört und entsetzt, ›erbarme dich meiner! Was ist dir? Was sprichst du von Sterben?‹
»Sie deutete mit einer irren Bewegung rückwärts. ›Da‹ – stieß sie mühsam hervor, ›das Fläschchen – dort … aus deinem Schranke‹ … ›vergib mir,‹ sprach sie lallend, als ich sie mit einem entsetzlichen Aufschrei vom Boden in meine Arme riß – ›sieh, es mußte sein, es ist besser so … aber ich möchte nicht gerne umsonst sterben: versprich mir, Geliebter, daß du mich vergessen, daß du alles tun wirst, um ein guter Mensch zu bleiben, um ein großer Künstler zu werden … tu es mir zuliebe – willst du? Ach – nun ist alles gut …‹
»›Lia – bleib' bei mir,‹ rief ich halb von Sinnen, ›verlaß mich nicht!‹
»›Ich habe dich lieb‹, lächelte sie noch einmal. Ihr großes Auge trübte sich, ihr Kopf rollte von einer Schulter zur anderen und sank zurück in eine Welle gelöster, tiefdunkler Haare.
»Draußen hob sich rotflammend der junge Tag, und die Vögel sangen von Auferstehung.«
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