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Über der Großstadt lag ein naßkalter schmutziger Nebel, das Pflaster war schwarz, jedes Dach leicht verschneit. Durch das dunkle Häusermeer schnitten die Avenuen schnurgerade, gashell, wie Milchstraßen; wo im Dunste ein besonders heller Fleck lag, befand sich ein Theater, ein Ausverkauf oder ein Kaffeehaus. Quer über den großen Strom, der die Stadt teilte, führten in gleichmäßigen Abständen Brücken, um deren Pfeiler das Wasser gurgelte, über welche hin die Wagen donnerten. Es war Christabend, daher rannten die Leute eilfertiger als sonst, in froher Hast, in rücksichtslosem Durcheinanderschieben.
Über eine jener Brücken kam raschen Ganges, fast laufend, ein junges Mädchen. Sie war sehr hübsch, nur war sie blaß und hatte einen starren Zug in den großen, glänzenden Augen. Sie lief unaufhaltsam geradeaus, Kopf und Schultern in ein altes schwarzwollenes Tuch gehüllt; sie war so armselig gekleidet, daß keiner der Herren, welche, die Zigarre im Munde und in Pelzen vergraben, auf und ab wanderten, es für wert hielt, den Kopf nach ihr umzuwenden.
Am Ende der Brücke zog sich, knapp über dem Wasserspiegel, ein breiter, mit Pfahlwerk verzäunter Weg hin. Sie schlüpfte leise die feuchten Stufen, die zu ihm führten, hinab, und blieb, an die Mauer gedrückt, ein paar Augenblicke atemlos, das kleine zusammengeballte Taschentuch vor die Lippen pressend. Sie wollte offenbar sehen, ob ihr jemand gefolgt sei. Dem war nicht so, das Gedränge strömte lärmend an ihr vorüber. War es eine Laune, oder trieb sie ein tieferer Grund dazu, plötzlich, abgewendeten Gesichtes, ihre Hand aus dem Dunkel des Pfeilers in die Menge der Vorübergehenden zu strecken? Es war ein Kinderhändchen in schwarzem durchgetragenen Handschuh, es blieb wenige Minuten schüchtern bittend ausgestreckt – dann wurde es hastig, mit einem Seufzer der Erleichterung zurückgezogen. Sie fühlte sich unbeachtet und ging den Kai eine Strecke hinunter, bis es einsam wurde, dann blickte sie noch einmal um sich, schlug die Hände vor die Augen und nahm einen raschen Anlauf …
Neben ihr erscholl ein heiserer Anruf; sie rang eine Weile vergebens, sich den Griffen, die sie festhielten, zu entwinden. »Laß mich, du alberner, häßlicher Mensch,« stieß sie abgebrochen hervor, »was kümmert's dich, was ich tue?«
Der Angeredete war ein hoch aufgeschossener, kaum dem Knabenalter entwachsener Bursche. Sein trübes mißtrauisches Auge, wachsam wie das aller Vagabunden, hatte trotz Dunkelheit und Nebel das Nahen des Mädchens bemerkt und ihre Absicht erkannt. Von dem Haufen Bauholz, auf das er sich zum Schlafen gedrückt, war er hinuntergeglitten und hatte gerade zur rechten Zeit die Arme ausgestreckt. Jetzt bemühte er sich, neugierig, die Gesichtszüge des sich noch wilder sträubenden Mädchens zu erkennen.
»Was? Du bist es, du –« sagte er bestürzt – »ich kenne dich ja, du bist die Rose, die meinem Arbeitsgeber gegenüberwohnte, dicht neben den Bauplätzen … erinnerst du dich meiner nicht mehr? Nun freilich –« und hier begann er, egoistisch wie alle Unglücklichen, die eigene Leidensgeschichte zu erzählen – »ich bin mager genug geworden, seitdem ich keine Arbeit mehr fand! Sie jagten mich von der Baustelle, weil ich nicht kräftig genug war, um länger durchzuhalten, und seitdem bin ich obdachlos und schlafe, wo's gerade geht. Aber du? Ich glaubte, du seiest reich und wohntest bei deiner Mutter und hättest Arbeit genug in der Blumenfabrik.«
»Die Mutter«, sagte das Mädchen, indem ein Schluchzen in ihrer Stimme aufstieg, »ist tot seit ein paar Wochen; sie ist überfahren worden, weil sie kurzsichtig geworden vom vielen Nähen. Aus der Wohnung haben sie mich ausgewiesen, weil ich die Miete nicht im voraus erlegen konnte, und aus der Fabrik mußte ich auch, weil der Herr …«
Sie brach ab, denn ein Schüttelfrost von Gram und Ekel packte ihre schlanke Gestalt. »Ich konnte nicht bleiben,« wiederholte sie wie zu sich selbst, »ich konnte nicht tun, was er verlangte – nein, nimmermehr.«
»Verstehe schon, verstehe schon, Rose«, sagte der Bursche, indem er mehreremal mit dem welken Kopfe nachdenklich nickte wie eine Pagode. »Aber bleibt dir denn gar nichts übrig, nicht ein Ausweg, nicht eine Hilfe? Es gibt ja Vereine genug von Gräfinnen und vornehmen Damen, die in ihren schönen Wagen umherfahren und sammeln, und Feste veranstalten zugunsten der Armen – ich versteh' davon wenig, denn für uns Männer fällt doch nichts dabei ab, da heißt's nur immer von vornherein: »arbeitet, arbeitet!« und unser erbarmt sich höchstens das Krankenhaus oder die Polizei – aber du, arme kleine Rose, solltest doch Hilfe finden können. Hast du's schon versucht, recht ernstlich versucht?«
»Ich habe es,« sprach sie mutlos, »aber umsonst, immer umsonst. Wenn ich mich melden ließ, waren die Vorstandsdamen stets in Beratung, oder ausgefahren. Und da, in den großen Häusern, sind die Türsteher, die Diener alle so grob und vornehm … das erträgt eben nicht ein jedes. So zu denken ist zwar sündhafter Stolz, und darum habe ich dort oben gebettelt, wirklich gebettelt, doch keiner von allen, die so fröhlich vorübergingen am Weihnachtsabend, fand eine Gabe für mich. Das ist ein Wink Gottes, daß ich nun ganz verlassen bin, und darum will ich gern fort von hier, denn drüben gibt's keinen Hunger und keine Kälte, vielleicht finde ich da sogar die Mutter wieder … und wenn nicht, so bin ich doch wenigstens tot und nicht so ganz erbarmungslos verstoßen.«
»Nein, Rose,« rief plötzlich der Bursche, indem ein matter Zug von Freude in sein mageres Gesicht kam, »du bist nicht ganz verlassen, gewiß nicht. Daß ich hier sein mußte, gerade jetzt, ist sicher mehr als bloßes Ungefähr, vielleicht gar ein Zeichen, daß es uns beiden noch einmal gut ergehen kann. Wenn du's wissen willst, Rose … du warst immer freundlich zu mir, und deswegen habe ich dich lieb, mehr vielleicht, als du's denkst. Wie wär's, wenn wir uns heirateten, im Frühjahr, wenn die Zeiten besser geworden, und arbeiten würden und unser bißchen Erwerb zusammentäten? Das reichte dann ja vielleicht zum Leben und so weit sogar, daß wir des Sonntags herausgehen könnten aus Rauch und Staub auf die Wiesen oder in den Wald, dahin, wo's grün ist – und da würden wir noch manchmal fröhlich sein … nicht wahr, kleine Rose, du wirst mir's nicht antun und dahinein gehn, ins kalte schmutzige Wasser? Nicht wahr, du willst leben bleiben, um zuweilen noch ganz bescheiden ein wenig glücklich zu sein?«
Sie hatte ihm, auf dem Holzstoße sitzend, schweigend zugehört, über ihre kindlichen, verhärmten Züge war sogar ein Lächeln geflogen, doppelt lieb, weil es dort ungewohnt schien und nicht recht am Platze. Nun wich auch schon dieses Lächeln langsam und wie ungern.
»Nein, nein, mein armer Junge,« sprach sie ergebungsvoll, fast wie eine junge Mutter, indem sie leise mit der Hand über das struppige Haar des Vagabunden strich – »es wäre alles umsonst. Sieh, wenn wir uns zusammentäten, da würden Kinder kommen und mit ihnen noch mehr Sorgen. Kinder sind gut für die Reichen. Wir hätten oft nicht satt zu essen, und du weißt ja: wo die Krippe leer ist, beißen sich die Pferde. Du würdest anfangen zu trinken, und dann – sage selber – was würde wohl das Ende sein?«
Er konnte nichts darauf erwidern, sondern nickte nur trübselig und zog fröstelnd bald das eine, bald das andere Bein mit den durchlöcherten Sohlen in die Höhe. »Ja,« platzte er endlich heraus, »immer liebhaben können sich die Menschen freilich nicht.«
»Siehst du,« sprach sie traurig lächelnd, »du selbst weißt, daß uns so nicht geholfen wäre. Aber wenn ich nun zum lieben Gott komme, werde ich ihn bitten, daß er dir's gut gehen lasse. Vielleicht erhört er mich, da ja heut' gerade Christabend ist.«
»Ach der liebe Gott!« sprach der Junge mutlos, »der hat so viel mit den Reichen zu tun. Uns arme Leute hat er gewiß vergessen.«
Er zuckte plötzlich zusammen und drückte sich gegen das Bauholz. Sein Gehör, scharf wie dasjenige aller gehetzten Kreaturen, hatte den Schritt eines Wächters vernommen, welcher weit davon im Nebel vorüberging. Es fiel ihm nicht ein, den anzurufen, um dadurch vielleicht – und sei's auch nur für den Augenblick – das unglückliche, verstörte Mädchen zu retten. Den Gedanken faßte er überhaupt nicht. Verjagt, verschüchtert, fürchtete er, wie immer die Elenden, zunächst die Polizei. Erst nachdem längst Stille geworden war, richtete er sich vorsichtig wieder auf.
»Es geht nicht länger«, sprach das Mädchen entschlossen, indem sie sich erhob. »Ich möchte dir gerne was Gutes tun, weil du freundlich zu mir gewesen bist, aber ich habe ja eben nichts … halt, doch, nimm mein Umschlagetuch, und hier ist auch noch ein Stück Brot; alt sind beide, aber du wirst sie trotzdem brauchen können. Mein Kleid kann ich dir nicht geben, denn ich möchte gern anständig daliegen, wenn sie mich herausfischen, Gott weiß wo.«
In ihre Augen schossen schwere, heiße Tränen, die sie mühsam niederkämpfte, um dem schlotternden Jungen vor ihr das Herz nicht noch schwerer zu machen. Der hielt Brot und Wolltuch in der Hand, sprachlos über so viel Besitz.
»Wenn's doch einmal sein muß,« stotterte er, das Tuch streichelnd und schon halb getröstet, »so müssen wir ein Ende hinuntergehen, bis wir hinters Wehr kommen … du weißt,« fügte er hinzu, weil er den Schauer nicht bemerkte, der die Gestalt des Mädchens schüttelte, »'s ist nur wegen des Gefundenwerdens. Das Wehr hat große eiserne Haken, viel schärfer als Sensen, und darin bleibt alles hängen, was über Nacht aus der Stadt treibt. Das holen sie dann am Morgen heraus mit Netzen und Stangen, und wenn sie einen Ertrunkenen finden, so wird er ausgestellt und dann im Spitale zerschnitten … aber hier, wo wir jetzt sind, wird der Fluß breiter und schießt an Inseln vorbei in großen Wirbeln, drüber dicke gelbe Weiden stehen, wo's so tief ist, daß man nicht mehr fischen kann. Und dann geht's weiter durch Schilf und große blühende Wiesen – ich bin mal dort gewesen, es war ganz wunderschön –, wo Sicheln klingen und wo drüber der Wind geht, und wo so gute Luft ist und Sonnenschein dazu. Und endlich kommt man ins Weltmeer, das fließt in den Himmel hinein, an großen glücklichen Ländern vorbei, wo's keine Kälte gibt und keinen Hunger, wo die Leute Zucker essen, und wo ewig die Sonne scheint …
»Rose, Rose« – schrie er auf, weil inmitten eines prasselnden Schauers von Regen und Schnee das Mädchen einen Sprung getan und am Ufer kniete, mit gefalteten Händen, über die schwarzen dahinarbeitenden Wasser nach oben schauend.
»Rose, tu's nicht,« heulte er, von Angst geschüttelt – »du sollst am Leben bleiben, hörst du, Rose? Steh auf, oder ich rufe um Hilfe …« und wirklich begann er in den Sturm hinein zu greinen mit seiner schwachen, heiseren Stimme.
Sie streckte abwehrend den Arm gegen ihn, zog ein Messingkreuz hervor, das sie an einer Schnur im Mieder trug, und sank betend zusammen; sie weinte bitterlich, denn Sterben fällt schwer, wenn man jung ist. Ihr gelöstes Haar trieb der Wind nieder zum Strome, der gurgelnd und leckend an die Pfähle klatschte, in dunkeln Wirbeln spärlichen Laternenglanz mit sich reißend, Eisschollen, Überreste allerhand, Abfall der Großstadt.
Er mochte das Ende nicht ansehen und lief davon, den schwarzen durchlöcherten Schal um seine spitzen Schultern geschlagen. Er lief, so rasch er konnte, in einem eigenen hinkenden Trabe, und im Laufen biß er gierig in die geschenkte Brotrinde, während über sein Gesicht die Tränen stürzten, schweigend, bitter, unaufhaltsam.
Auf den Brücken, in den Straßen war es stiller geworden, das Gewühl hatte sich merklich gelegt. Im Nebel dämmerte mählich eine weiche, sich langsam breitende Helle auf; man begann wohl in den Häusern die Lichter der Christbäume zu entzünden.
»Horch – was war das?« sprach ein Wächter zu seinem Kameraden, indes er aus dem Schutze des Pfeilers heraustrat, in dessen Einsprunge beide gestanden hatten, beim Scheine der flackernden Laterne plaudernd.
»Was wird's sein?« sprach der ältere, indem er sich fester in die Dienstkapuze wickelte. »Heute geht keiner ins Wasser, 's ist viel zu naßkalt und außerdem auch Heiligabend.«
Ein Herr, im Pelzkragen vergraben, kam, das Wetter verwünschend, den Kai entlang. Er führte einen großen rauhhaarigen Hund, der trübe, mit gesenktem Kopfe ihm nachtrollte; plötzlich witterte das Tier dem Strom zu, zerrte gegen die Leine und stieß ein helles, langgezogenes Geheul aus.
Der Herr, welcher nichts gehört hatte, zog die Leine fester, gab dem Hunde einen Fußtritt und rief:
»Kusch, Canaille.« –