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Die Königin von Thule

Wir saßen in Frau Reginas gelbseidenem Boudoir. Es war ein kleiner Kreis guter Bekannter; Männer, davon zwei oder drei berühmt, und Frauen, von denen Frau Regina die schönste war. Wir hatten Tee getrunken und interessant geplaudert; die Herrin des Hauses verstand es meisterlich, jedem einzelnen Gelegenheit zu einem hübschen Einfall, einer originellen Wendung zu geben. Dank ihr war die Unterhaltung erst blendend gewesen, dann tiefer geworden, nicht alle sprachen mehr, und es entstand eine Pause. Wenn »ein Engel durchs Zimmer fliegt«, so ist dies gewöhnlich ein Armutszeugnis für die Gesellschaft, indem es auf zeitweiligen oder absoluten Mangel an Stoff deutet – in unserem Falle war es aber eine hübsche Pause, ein wahrer Gedankenstrich. Sie gab den besten Beweis, daß Worte gesagt worden waren, die zu Erwägung und ernsterem Nachdenken zwangen.

»Singen Sie uns etwas, gnädige Frau«, bat einer von uns.

Frau Regina verschmähte jede Ziererei und bedurfte ihrer auch nicht. Sie strich das weiche schwarze Haar aus der Stirn und setzte sich ans Klavier. Ein paar schwere Mollakkorde fluteten aus den Tasten, dann erhob sich eine prachtvolle verschleierte Stimme:

»Es war ein König in Thule –«

Sie hatte einen eigenen Anschlag und eine seltsame Art zu singen; sie vermied jede Bewegung des Körpers, ein fremder Ausdruck kam in ihre Augen, und sie wurde blaß, als litte sie unter der Macht des eigenen Liedes. Sie sang heute schöner als je, es lag ein großer, dramatischer Zug in ihrem Vortrag. Es überlief uns, als der alte König den heiligen Becher in die Flut warf. Dann kam ein kurzer, grollender Schluß und sie erhob sich. Ihr Kleid von heller Seide warf seine glitzernde Schleppe lang über den Teppich, das Kerzenlicht brach sich in dem Brillantschmuck und wob zuckende Strahlen, blitzende Lichtfäden über ihr dunkles Haar; es schien, als läge ein goldener Königsreif lose auf der schönen Stirn. Sie sah fremdartig aus, wir gewahrten erst jetzt, wie sehr sie in den Rahmen der Ballade passe.

»Die Königin von Thule –« sagte eine Stimme; man wußte nicht, woher sie gekommen.

»Die Königin von Thule, wie hübsch!« rief die römische Contessina und klatschte in die Hände, – »wie romantisch, wie poetisch, wie allerliebst!«

»In der Tat,« riefen mehrere, »das gibt zu denken. Die Königin von Thule! Seltsam. Alle Welt nennt den alten König, aber an die Königin hat keiner je gedacht, kein Dichter hat sie besungen. Wie ist das nur möglich? Der Gedanke liegt so nahe! Wie muß sie gewesen sein? Welcher Gestalt? Welcher Art?«

»Ich denke sie mir gut passend zu dem reckenhaften König, eine Jungfrau, heldenhaft und rauh wie er, hellblond, mit wallendem Haar.«

»Nein, tausendmal nein! Sie war ein liebes, zagendes Weib. Seht doch einen der schönsten Gedanken des Dichters von ›Schloß Boncourt‹ – wißt ihr nicht, was ich meine? ›Auf seines Schlosses Zinnen ein alter König stand‹ und dann: ›Da kam seine liebe Buhle …‹«

»Vielleicht, mag sein. Jedenfalls aber hat sie eine Schwester in der deutschen Sage, von der manch Lied uns meldet. Denkt nur an Karls des Großen Lieb, das ihm sterbend gab das ›Ringlein schwarz und rot‹, das er niemals vergessen konnte.«

»Wahrhaftig, es ist dieselbe Sage, doch blüht sie auf christlichem Boden und ist daher legendenhafter und blasser. Sie duftet nach Weihrauch. Ich liebe mehr die Gestalt des heidnischen Königs, sie winkt markig herüber aus grauer, uralter Zeit. Und dann ist es wehmütig schön, daß das Lied so gar nichts von der gestorbenen Buhle weiß. Sie ist nicht besungen worden, weil kein Dichter es gewagt, am Schmerze des Königs zu rühren. Sie ist versunken, und keiner weiß, wes Art sie war. Uns aber bleibt es ja unverwehrt, sie auferstehen zu lassen und sie mit allem Zauber, mit aller Poesie zu schmücken, die sie zu uns herüberstrahlt.«

»Ja, sie muß schön gewesen sein und all der Treue wert.«

»Jedenfalls,« bestätigte Frau Regina, »denn vor allem war sie selbst treu.«

»Nein –« sagte Gunther Stormeck, der abseits saß und den Abend über noch kein Wort gesprochen hatte.

Alle wandten sich nach ihm um. »Die Königin von Thule untreu,« riefen die Damen durcheinander, »welch seltsame Idee! Warum das?«

»Sie war untreu«, wiederholte Gunther ruhig. »Wäre sie treu gewesen, hätte sie der König nicht ewig beweint. Nur eine Frau, die wir früh verloren, die uns bitter weh getan, lieben wir bis zum Tode.«

»Haben Sie die Königin von Thule gekannt?« rief Frau Regina spöttisch.

Gunther sah sie mit einem eigentümlichen Blicke an.

»Gewiß«, sagte er langsam.

»Sie gebieten über empörende Dreistigkeit, Herr von Stormeck«, rief die Contessina, indem sie ihren Fächer scharf zusammenklappte. »Den ganzen Abend haben Sie in Ihrer Ecke gesessen, ohne daß es möglich war, ein Wort aus Ihnen herauszubringen, und nun fangen Sie an, sich über uns lustig zu machen. Wenn Sie jetzt einigermaßen bestehen wollten, bliebe Ihnen nichts übrig, als zu erzählen, auf welche Weise Sie die Ehre hatten, der Königin von Thule Bekanntschaft zu machen, und auf die Geschichte wäre ich denn doch begierig.«

»Sie sind unbarmherzig, Contessina«, erwiderte Gunther zögernd. »An diesem Orte und nachdem ein wahres Feuerwerk von Witz und Geist versprüht worden ist, dürfte schlichte Erzählung kaum angebracht sein.«

»Sie zagen und weichen«, rief die Römerin triumphierend. »Das darf nicht sein. Sie haben uns oft genug mit Ihren Paradoxen geärgert, nun ist es nicht mehr als billig, daß auch wir einmal das Vergnügen haben, Sie in der Enge zu sehen. Nicht wahr, Frau Regina, er darf nicht so davonkommen, er muß erzählen? Befehlen Sie es ihm.«

Die schöne Frau lachte hell auf. »Erzählen Sie doch, Herr von Stormeck«, sagte sie fast heftig.

»Wenn es sein soll,« sagte Gunther, »so gehorche ich. Infandum, regina, jubes renovare dolorem. Ihnen aber, Contessina, sage ich im voraus, daß Sie schwer enttäuscht sein werden. Was ich erzählen will, ist ohne besonderen Witz, ist ein deutsches Märchen.«

»Ach, ein Märchen!« rief die lebhafte, hübsche Römerin, indem sie sich behaglich zurechtsetzte. »Das ist reizend! Ein Märchen hört sich lustig und leicht an!«

Gunther Stormeck kam aus seinem Winkel hervor und lehnte sich an den Kamin. Er war mager, nicht gerade jung mehr und sah müde aus. »Es ist nur ein Märchen«, sagte er noch einmal, wie entschuldigend. Dann begann er:

»Vor tausend Jahren war alles anders als heute, man hatte den schwarzen Frack noch nicht erfunden und es gab keine Eisenbahnen. So kam es, daß ich eines Tags, als Ritter gewappnet, auf schnaubendem Rosse vor einem Schlosse hielt. Es war ein Schloß hoch am Meer, von blühenden Gärten umschmiegt; es war von weißem Marmor und hatte zahlreiche Türme und Zinnen. Das Gatter war geschlossen, die Löwen am Tor lagen drohend und starr, als habe sie im Aufrecken der Schlaf gepackt. Die Leute von damals hatten keine Visitenkarten und besuchten einander selten – denken Sie, Contessina, wie schrecklich – es blieb mir also nichts übrig, als zur Harfe zu greifen und ein Lied zu singen. Die Töne flatterten wie Schwalben um die spitzen weißen Dachfirste, und wie durch einen Zauber hob sich das Gatter. Ich ritt über die silberbeschlagene Brücke, durch zwei, drei Höfe, in denen Brunnen sprangen, und hielt vor der großen Freitreppe, die Zügel locker, das Visier hoch aufgeschlagen.

»Da erblickte ich die Königin von Thule, sie stand auf hohem Söller im Kreise ihrer Frauen. Sie trug ein Gewand von weißem Stoff, hellschimmernd in der Sonne, im dunklen Haar ein Kränzlein weißer Frühlingsblumen. Zu beiden Seiten der Treppe drängten sich Ritter und Mannen, reckenhafte Gestalten in gleißendem Waffenschmuck; Mohren trugen ein samtenes Kissen, das legten sie zu Füßen der Königin. Ich kniete darauf und entbot ritterlichen Gruß, sie reichte mir sanft die Hand und forderte mich auf, mich zu erheben. Sie hatte ein sehr süßes Reden, ich aber war befangen und senkte den Blick. Sie war schön, wie niemals ich ein Wesen erschaut.

»Nun bliesen die Herolde hell und schmetternd einen Hornruf, und die Königin reichte mir die Hand, daß ich sie zum Festmahl geleite. Das war in einer hohen Halle, darein die Sonne fiel, prächtiges Gerät deckte die Tische; auf einem derselben stand nach altem Brauch ein ehern Becken, darin ein Stierkopf in roter Lache, den Kranz von Buchsbaum darum. Hohe gehenkelte Krüge warteten des Durstes der Helden. Die Königin brach weißes Brot, gab mir davon und reichte es den anderen; zuzeiten nahm sie auch eine Schale voll goldhellem Wein, die war also schwer, daß ihre Hand zitterte. Sie trank davon und gab sie mir, ich aber suchte die Stelle, wo ihre Lippen den Rand berührt, und leerte den Becher bis zum Grunde. Es war ein süßer Trunk, rosiges Licht kam vor meine Augen, ich sah wie durch einen Schleier, daß ein paar alte Ritter freundlich lächelten und daß die Königin fast befangen niederschaute.

»›Gebt uns ein Lied‹, sagte sie plötzlich, ›wir hören gern Mären aus fernen Landen.‹

»Es ward stille, und ich erhob mich. Trotzige Heldengesichter, schöne Frauenaugen sahen zu mir empor; ein Page brachte meine Harfe. Durch die goldenen Saiten schlang sich ein Zweiglein weißer Frühlingsblumen … Das weckte einen Sturm in meiner Brust, ich warf den Kopf zurück und griff in die Saiten, stürmend, verzweifelnd und jubelnd, ich sang von der schönen Herzeloyde und dem heiligen Gral, ich sang von allem, was mir im Herzen stürmte und stritt, von hoher Liebe, Rittersinn und Frauenschöne, und ich sah, glückseliger Sänger, wie die Männer den Schwertknauf fester umgriffen, wie die Frauen die Hände in den Schoß legten und hochatmend zu mir aufsahen, ich sah, wie die Königin selber reglos war und blaß vom Liede, wie ihr großes Auge dunkler wurde und immer dunkler, wie ihr blühender Mund leicht zuckte vor Stolz und Weh …

»Da brach ich ab mit klingendem, weithallendem Griffe. Wildschwäne, die in weißer, gebrochener Linie übers Meer zogen, antworteten hell. Lauter Beifall ertönte, Becher klangen mir zu, dann standen wir auf vom Mahl und traten auf den Söller. Tief unter uns rollte das Meer im Sommerabendscheine, der Himmel war weiß, an ihm schwammen rosenrote Wölkchen. Die Ritter gingen hinab, ihre Rosse zu proben, die Frauen saßen fernab im Kreise und spannen; sie sangen dabei einen alten liebreizenden Rundgesang.

»›Kommt‹, sagte die Königin plötzlich, indem sie meinen Arm nahm.

»Wir stiegen langsam viel weiße Stufen hinunter, den Gärten zu. Sie lagen weit und schimmernd im letzten Abendstrahl, ein herber Ruch von jungem Grün kam aus den Wäldern drüben. Wir fanden beide kein armes Wort; die Lieb' blüht schnell im Lande Thule. Wir gingen schweigend, Hand in Hand, zwei träumende, schauernde Menschen; der Mond war aufgegangen und es kam ein Wind mit feuchten Schwingen, da neigten die Rosen all ihre tiefroten Kelche, duftend im silbernen Mondlicht. Sie hatte die Arme um meinen Nacken geworfen und sah zu mir auf mit dunklen, glückseligen Augen.

Ein Hornruf kam vom Walde, erst ganz leise, dann anschwellend und ersterbend. Er war seltsam: heftig und traurig, zwingend und tröstend zugleich. Ein Schauer durchlief ihre schlanke Gestalt, sie wandte sich ab und dem Klange zu – mich aber faßte ein wildes Weh, ich reckte mich auf, und was meine Hand umspann, war der Griff des Schwertes.

Der Hornruf erscholl von neuem, näher, wie es schien, dann wieder in weiter Ferne. So hat Nielsen der Däne geblasen, als er Frau Mette in den Tod rief.

»Sie löste sich jäh aus meinen Armen. ›Laß mich,‹ sagte sie, ›wenn du gut bist. Es soll nicht sein – leb wohl.‹

»Sie streckte beide Hände gegen mich und ging hinaus in die Nacht. In demselben Augenblick erhob sich ein kalter Wind, er stieß durch die Baumkronen wie ein Wehruf. Hinter mir schloß sich der Wald wie eine Mauer, der Mond begrub sich in Wolken … ich riß das Hifthorn von der Seite zu einem Hilferuf, aber es gab keinen Ton mehr … ich schleuderte es fort und stürzte hinaus in die Nacht, ich suchte der Königin Spur, ich suchte die Gärten, das stolze Schloß mit seinen vielen Zinnen. Vergeblich; – als der Morgen graute, ein fahler, entsetzlicher Morgen, stand ich am Rand eines Sumpfes. Fette, breitblätterige Pflanzen umwucherten ihn, dann und wann reckte eine Weide ihr knorriges Haupt über trübe, schmutzige Wasserlachen. Weit ab davon trieb ein Bauer mit zwei mageren Mähren den Pflug durchs wüste Land.

»›Wo ist das Schloß?‹ frug ich, – ›wo geht der Weg nach Thule?‹

»Er sah mich an und schlug das Kreuz über seine Brust. ›Erlöse uns von dem Übel‹, murmelte er aus zahnlosem Munde. Dann warf er mit einem Tritte die Schar aus der Furche und betrachtete mich hellen grauen Auges, neubegierig.

»›Wo ist Thule?‹ frug ich in wilder Angst, – ›ich bin verirrt, sagt mir, wo ist Thule?‹

»Sein Blick ward wehmütig und ernst. ›Thule?‹ sagte er, als ob er seine ganze Erinnerung zusammennähme, – ›ich hab's einst gewußt, den Weg, doch schon lange vergessen. Nichts für ungut, Herr, aber nehmt einen Pflug und führt ihn übers versunkene Land, tut wie ich, und arbeitet. Das ist der Weg, den ich Euch zeigen möchte, es ist der einzige, der zum Ziele führt.‹

»Und ich tat, wie er geheißen. Aus den Saiten der Harfe flocht ich Stricke und spannte darein mein Streitroß, das Schwert zerbrach ich, wandelte es zur Pflugschar und begann zu pflügen. Es ging schwer, aber es ging doch, und so habe ich fortgepflügt bis auf den heutigen Tag.« –

* * *

Gunther schwieg. Frau Regina hatte sich im Sessel zurückgelehnt, ihr Gesicht deckten die Schatten verzuckender Kerzen. Auf den Gesichtern der Männer lag ein ernster sinnender Ausdruck, nur die Contessina war völlig bestürzt, ihr Auge irrte hilfesuchend im Kreise umher.

»Ich habe nichts verstanden«, sagte sie endlich ärgerlich. »Das war also ein deutsches Märchen? Sonderbar! Ist es schon zu Ende?«

Gunther lächelte schwach. »Sie fragen aus Kindermund, Contessina, dennoch will ich Ihnen die Moral des Märchens nicht vorenthalten. Thule, das heilige, versunkene Land, ist meine Jugend, und jene süße, frühverlorene Frau, sie eben war – die Königin von Thule.«

* * *


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