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Der Nachtfalter

Gunther Stormeck ritt an einem gewitterschwülen Juliabend durch Heidelandschaft einem Schlosse zu, in welchem seine Verlobte wohnte. Er hatte vor Jahren, im Süden, eine Frau geliebt, die nicht die seine werden gewollt, und die er nicht hatte vergessen können. Nach dem großen Zusammenbruche seiner Hoffnungen war er in die Fremde gegangen, um jahrelang mit Gut und Blut für ein unterdrücktes Volk, für eine große, von Anfang an verlorene Sache zu kämpfen. Er hatte hierdurch seine Stellung im Staatsdienste verscherzt und sein halbes Vermögen verloren; seine Mutter, außer sich vor Erbitterung, war zu entfernten Verwandten gezogen. Um seine Mutter zu versöhnen und ihre Liebe wiederzugewinnen, hatte er den Damaskusweg eingeschlagen und sich mit der Tochter eines Großgrundbesitzer- und Nationalökonomen verlobt. Er durfte sich glücklich schätzen, nach so unsteter Vergangenheit in den Schoß einer besonders korrekten und als hochachtbar bekannten Familie ausgenommen zu werden.

Gunther Stormeck trug sein Glück merkwürdig gelassen, man merkte ihm, wie er so dahinritt, blutwenig von Hast und froher Ungeduld an. Seine Gedanken mochten auf der Reise sein, denn er achtete wenig des Weges und tat nur selten einen Blick vorwärts über den Kopf seines schönen Pferdes. Die Heide, von der Abendsonne grell überflutet, flimmerte rotbraun und heiß; im Westen lag eine Wolkenbank schwer geschichtet, mit violetten und gelblichen Rändern, während von den Sümpfen drüben der Ruf eines Wasservogels kam, klagend, monoton, unablässig.

Die Hufe des Pferdes trafen festen Boden, die Heide war verschwunden, der Weg zur Chaussee geworden. Zu beiden Seiten dehnten sich prächtige Weizenfelder, von Obstbäumen in Reihen durchschnitten; es war das Bild einer reichen und tadellos verwalteten Herrschaft. Gunther blickte zerstreut, ohne sonderliches Interesse auf den Besitz seines zukünftigen Schwiegervaters, dennoch richtete er sich auf und faßte, wie unbewußt, die Zügel fester. Noch eine kleine Weile ritt er langsam, dann kam eine Stelle, wo der Weg sich abbog und schnurgerade nach einem großen, praktisch gebauten Herrensitze führte. Man könnte, dachte Gunther, mich vom Schlosse aus bemerken und meinen Mangel an Eile kommentieren. Er streifte leicht die Flanken des Pferdes und setzte es in einen schicklichen, korrekten Mitteltrab.

In dem großen Gartenzimmer brannten die Lampen, die Familie war um den Teetisch, auf dem die Tassen blütenweiß leuchteten und der hohe messingne Samowar blitzte, versammelt. Man empfing Gunther freundlich, ohne ihm jedoch zu verhehlen, daß die Teezeit überschritten sei und man auf ihn gewartet habe. Dann erhob sich seine Verlobte und reichte ihm zum Gruße die Hand. Sie war ein hübsches blauäugiges Mädchen mit blondem, schlichtgescheiteltem Haare; es lag in ihrem Wesen etwas Einfaches, Ungesuchtes. Ihr Händedruck war frank und kräftig, man merkte, daß ihre kühlen besonnenen Finger viel Almosen gespendet und viel schöne teuere Leinwand gefaltet haben mochten. Neben dem Vater, einem stattlichen Manne mit breiten, selbstbewußten Gesichtszügen, saßen die beiden älteren Schwestern. Die eine davon war Witwe und hatte ein reizendes Baby, dessen Vermögen sichergestellt war. Die andere war glücklich verheiratet und nur auf Besuch anwesend, ihr Gatte diente als Hauptmann in einem entfernten Landstädtchen.

Das Gespräch drehte sich, während der Tee eingenommen wurde, um Landwirtschaft und Haushalt betreffende Dinge. Die Damen berieten sich gelassen und kundig, ein besonders praktischer Vorschlag der ältesten Schwester errang sogar sichtlich befriedigte Zustimmung des Vaters. Gunther fand sich auf Schweigen angewiesen; einige Bemerkungen, die er versucht hatte, waren nicht glücklich gewesen. Dann kam die Rede auf den abwesenden Schwiegersohn, den Hauptmann. Man war seines Lobes voll, so einstimmig und rückhaltslos, daß sogar ein Anflug von Wärme in die Unterhaltung kam. Der Hauptmann lebte seit Jahren in einem Marktflecken, fast ohne Umgang, einzig und allein seinem Dienste obliegend. Man pries so viel Pflichttreue und Energie, man betonte, vielleicht nicht ohne Absicht, daß ein Leben voll einfacher, vorgeschriebener, streng erfüllter Tätigkeit unter allen Umständen das achtungswerteste und beste sei. Man fand es wunderschön, daß der Hauptmann dabei verharre und sich darin glücklich fühle, obwohl sein Vermögen ja hinreiche, um ihm alles, selbst Umherreisen und Nichtstun zu gestatten. Man schloß damit, daß zu solch ehrenwerter Existenz freilich Charakter gehöre und Überwindung aller inneren Unklarheiten.

Gunther, der mit ergebungsvollem Schweigen zugehört hatte, dachte bei sich, daß der belobte Hauptmann wahrscheinlich nie etwas von Überwindung innerer Unklarheiten gewußt habe, sondern sich damit begnüge, ein ehrenwerter, mittelmäßiger Mann zu sein. Dann unterdrückte er ein leises Gähnen; er fühlte sich reizbar, in unbehaglicher Stimmung, und dachte daran, seinen Abendbesuch mit Hilfe eines schicklichen Vorwandes zu beendigen.

»Wir haben gestern, weil Sie abwesend waren, ein neues Buch zu lesen begonnen«, sprach die älteste der Schwestern. »Es hat einen unserer gefeiertsten Dichter zum Verfasser und ist ein treffliches, abgeklärtes Werk, das den überspannten Ideen der Neuzeit mild zurechtweisend entgegentritt. Gestatten Sie uns, das angefangene Kapitel zu vollenden, Herr von Stormeck?«

Er beeilte sich, einige verbindliche Worte zu erwidern. Die Frau des Hauptmanns begann vorzulesen, der Vater blätterte verstohlen in einer landwirtschaftlichen Broschüre, mit gesetzter Stimme zuweilen ein »recht gut« oder »ganz wahr« einfallen lassend, die beiden anderen Schwestern hatten ihre Arbeitskörbe vor sich gestellt und häkelten emsig. Gunther langweilte sich, denn er fand das abgeklärte Werk des gefeierten Dichters mittelmäßig; um sich zu zerstreuen, verfolgte er das Spiel der Nadel in der Hand seiner Verlobten, und mühte sich, ausfindig zu machen, was für ein Ding es sein möge, an dem sie so unermüdlich formte und säumte. Es sah sonderbar aus, etwas mehr als talergroß, wie eine scheußliche kleine Mütze mit zwei langen weißen Bandenden daran.

Er lehnte sich langsam in den Sessel zurück, ein unüberwindlich peinliches Gefühl stieg ihm im Halse auf wie ein Knäuel. Er sah im Geiste diese selbe Mütze auf einem kleinen, gerunzelten, wimmernden Kopfe. Die ironische Saite begann in ihm wach zu werden. Wie hübsch vorsorglich war doch dieses junge Mädchen, wie allerliebst erfahren, wie hübsch auf jede Überraschung vorbereitet! Er könne sich gratulieren, er käme da wirklich in eine vortreffliche, korrekte Familie, in der alles herginge wie am Schnürchen. Dann bekam die trübe Reflexion das Übergewicht. Wie können Frauen so nüchtern, so gemessen der heiligsten Aufgabe ihres Lebens entgegengehen? Wie vermögen sie dieselbe so kaltblütig als etwas Selbstverständliches aufzufassen? Betrachten sie denn ein Kind wie einen leicht zu geratenden Napfkuchen, der auflaufen muß, wenn man das Rezept des altbewährten Kochbuches nur recht genau befolgt? Ahnen sie denn gar nicht, welche Bedenken im Herzen eines Mannes aufgestiegen, welche Läuterungen darin erkämpft sein müssen, ehe er, nach Abrechnung mit seinem Gewissen, es auf sich nimmt, ein Wesen mitzuverschulden, das seines eigensten Blutes, seiner innersten Art ist und vielleicht die Bestimmung hat, geheime Triebe, seien es gute oder böse, fortzupflanzen und der Menschheit weiter zu vererben?

Denken bringt immer Sorgen, zudem habe ich heute meinen grauen Tag, suchte Gunther sich einzureden. Aber seltsam bleibt es doch. Ich sitze hier, ein Paria, wieder aufgenommen in einen Kreis hochachtbarer Menschen. Der friedliche Schein der Lampe erhellt die weiße Stirn, das sittige, gescheitelte Haar eines Mädchens, die aus der Mitte jener gerechten guten Menschen hervorgegangen ist, um die Genossin meines Lebens zu werden. Hier atmet alles Arbeitsamkeit und weises Gedeihen, Wohltun sogar, denn auf dem Schreibtische des Hausherrn steht eine Schale, handgerecht, mit Kupfer- und kleinen Silbermünzen, davon ein Armer, der einspricht, wohl immer bekommen mag. Auf dem Tische der Damen kreuzen sich graue, von Stricknadeln gespickte Wollenknäuel, eine Strumpferzeugungsstätte für die kommende Weihnachtsbescherung armer Kinder, die vorläufig noch barfuß in den Sümpfen umherlaufen und Frösche spießen. An den Wänden hängen die Bilder von Ahnen und Urahnen; alle sehen einander ähnlich, alle haben den gleichen Ausdruck wohlgenährter Selbstzufriedenheit im Gesichte wie eine Legitimationskarte, alle tragen die gleiche Ordensklasse im Knopfloche. Wie kommt es, daß ich ein Grauen empfinde vor jenen Bildern, vor diesen Menschen, vor diesem traulichen, lampenbestrahlten Kreise? Ist es die Gewitterluft allein, die heute besonders meine Nerven erregt und mein Blut sieden macht, oder weist mich wirklich ein Gesetz, ein Verhängnis von der Schwelle einer naturgemäßen, gewöhnlichen, leidlich glücklichen, mittelmäßigen Existenz? Warum lastet die gedeihliche, friedliche Atmosphäre, die jenen wohlbehagt, die sie wie ein Überzug vor jeder Erregung, jeder Wallung, jeder Zugluft schützt, auf mir wie ein Dunstkreis, in dem ich nicht zu atmen vermag? Ist es Selbstüberhebung, sündhafter Stolz, der mir vor der Mittelmäßigkeit einen würgenden Ekel einflößt? Kann ich es nicht vergeben, daß sie stets das Recht geübt, jedem großen, unberechneten Anlaufe, jedem weiten Gedanken, jeder selbstlosen Tat das Gegengewicht zu bilden, und daß sie dabei, leider, gewöhnlich die Oberhand behalten hat? Kann ich es nicht verwinden, daß die Mittelmäßigen stets die geschworenen Todfeinde des Superlativs, der Phantasie, der Freiheit waren, und dabei doch unstreitig die breite Wettbasis bilden, den kompakten notwendigen Untergrund, auf dem das Leben steht und sich aufbaut? In ihren Reihen leben die Mächtigen, die Gesunden, die Glücklichen, die Wohlanständigen. Warum also anders sein wollen als sie, warum der allgemeinen Ordnung sich nicht einreihen wollen, nicht einfügen können? Liegt denn in mir eine moralische Krankheit, bin ich eine Abnormität, ein Ungeheuer?

Ich weiß es nicht. Warum erweckte denn Gott aber Geschöpfe, die berufen sind, mit den Gesetzen der allgemeinen Einigkeit und Erhaltung in Zwiespalt zu stehen? Warum gab er mir den Trieb, alles zu meiden, was klein und gewöhnlich, den wilden Drang dazu, allem entgegenzustürzen, was da immer groß, leuchtend, unerreichbar ist? Warum legte er in mein Herz die selbstzerstörerische Sehnsucht nach unbekannten Lichtschauern, nach dem Vollendeten, dem Idealen?

Die Mittelmäßigen werden sagen, daß Gott solche Menschen als abschreckendes Beispiel für die Zahl der übrigen Mitlebenden erschaffen habe. Sie ahnen ja nicht, die Armen, daß über der Erde, über dem Alltagsleben sieghaft und unleugbar eine Flamme lodert, die alle-Kleinlichen, alles Irdischen, alles Vernichtbaren spottet, weil sie angefacht wird von dem großen Zuge der Sehnsucht nach Gott! Sie können es nicht begreifen, daß et Menschen geben kann, die landläufiges Glück verneinen, die im Alltagsleben frieren, die sich nicht wohl fühlen im Dunkeln, und die sich gerne schon bei Lebzeiten kopfüber in jene Flamme stürzen möchten, in jene schöne, zuckende, schmerzende Flamme, die Liebe heißt, Liebe zum Unendlichen, zur Melodie, zum Hinreißenden, zur Vernichtung, zur Freiheit – im Grunde Liebe zu Gott …

Gunther richtete sich erschrocken im Sessel auf. Um ihn saß die friedliche arbeitsame Familie. Die Stricknadeln flogen in rhythmischem Klappern, die Vorleserin überschlug heimlich zahlreiche Seiten des abgeklärten Werkes und strebte dessen Schlüsse zu. Die junge Braut mit den glattgescheitelten Haaren saß unverschlafen und führte ihren weißlichen endlosen Faden weiter.

Durch das Fenster segelte ein seltener Nachtfalter mit starkem, schwirrendem Fluge. Einen Augenblick beschrieb er, an der weißgegipsten Zimmerdecke surrend, schattenhafte Kreise, dann warf er sich den Lampen entgegen, mit dem mächtigen grauen Kopfe an das leuchtende Milchglas prallend, seinen sicheren Tod, die schöne brennende Flamme in göttlichem Starrsinne suchend. Die Damen fuhren mit einem Aufschrei zusammen, aber unbekümmert um die allgemeine Bewegung trieb er seinen phantastischen Todesflug weiter, in wilden Spiralen auf die Brennpunkte niederschießend, durch alle Zeitungsblätter und Wollenknäuel, die man ihm nachschleuderte, durch alle Verwünschungen hindurch, schon mit zerfetzten, eingerissenen Flügeln, mit zuckendem, von der Flamme angeknistertem Torso. Aber sieghaft, triumphierend erreichte er seinen Willen – zur hellsten Flamme fand er den Weg und warf sich in sie hinein, kopfüber, sie niederdrückend durch die Wucht seines Falles, so daß sie im Glasbehälter schnellte und aufschwelte, fahlrot, halb erstickt.

»Vorsicht – um Gottes willen, Vorsicht«, riefen die Damen, doch schon hatte die älteste Schwester die Lampenglocke gehoben und mit einer Stricknadel den halbverkohlten, noch zuckenden Leib hervorgeangelt und ihn mitten auf den Tisch geschleudert.

»Das kommt davon! Wie dumm! Wie himmelschreiend! Ihm ist recht geschehen«, riefen die zürnenden, vorwurfsvollen Stimmen durcheinander … doch während sich die frommen, korrekt gescheitelten Köpfe halb entrüstet, halb neugierig über den toten Nachtfalter bogen, stand Gunther Stormeck unbemerkt auf, ließ den Türvorhang schweigend hinter sich niedergleiten und ging auf Nimmerwiederkehr.


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